26. August 2019 1 Likes

Pfadfinderspiele

Allzeit bereit auf jedem Planeten: Robert Sheckleys Kurzgeschichte für den Sommer

Lesezeit: 19 min.

Gibt es eigentlich diese Sommerlager für Kinder und Jugendlich noch, wo man früher ein paar Wochen an der frischen Luft verbringen durfte (oder musste), sich mit Gleichaltrigen allerhand Aktivitäten hingab und wo zum Abschluss eine Art „Meisterschaft“ abgehalten wurde, um zu ermitteln, welche Zeltgruppe die beste, sportlichste, fitteste ist? 1955, als Robert Sheckleys Kurzgeschichte „Pfadfinderspiele“ (im Shop) entstand, gab es diese Sommerlager jedenfalls noch, und Sheckleys scharfer Beobachtungsgabe entging nicht, dass ihnen etwas zutiefst Allgemeingültiges innewohnt: es ist egal, wann und wo man ins Sommercamp kommt, ob auf der Erde oder auf einem fernen Planeten, und es ist egal, ob man nun Arme oder Tentakel hat – als Pfadfinder sind wir alle gleich. Und wir spielen alle dieselben Spiele …

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Pfadfinderspiele

 

Es war der letzte Appell vor dem großen Pfadfindertreffen; alle Gruppen hatten sich versammelt. Gruppe 22 – die Gruppe Steigender Falke – kampierte in einer schattigen Senke und übte sich im Tentakelziehen. Die Gruppe Tapferer Büffel, Nummer 31, lagerte an einem kleinen Fluss. Die Büffel stellten ihre Geschicklichkeit unter Beweis, indem sie verschiedene Flüssigkeiten zu sich nahmen und über die seltsamen Gefühle lachten, die sie dabei überkamen.

Die Gruppe Stürmender Mirash, Nummer 19, jedoch wartete immer noch auf Pfadfinder Drag, der sich, wie üblich, verspätete.

Drag stürzte sich aus einer Höhe von dreitausend Metern herab, nahm Gestalt an und kroch eilig in den Kreis der Pfadfinder.

»Ach«, sagte er, »tut mir leid. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie spät …«

Der Pfadfinderführer starrte ihn grimmig an. »Mit deiner Uniform stimmt etwas nicht, Drag.«

»Verzeihung, Sir«, sagte Drag und stieß hastig einen Tentakel hervor, den er übersehen hatte.
Die anderen kicherten. Drag wurde orangerot. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht.
Aber das war jetzt nicht erlaubt.

»Ich eröffne den Appell mit dem Pfadfinder-Schwur«, sagte der Pfadfinderführer. Er räusperte sich. »Wir, die jungen Pfadfinder des Planeten Elbonai, verpflichten uns, den Gaben und Tugenden unserer Vorfahren nachzueifern. Zu diesem Zweck nehmen wir Pfadfinder die Form an, in die unsere Vorfahren hineingeboren wurden, als sie die jungfräuliche Wildnis Elbonais bezwangen. Wir schwören …«

Pfadfinder Drag stellte seine Hörwerkzeuge so ein, dass er die leise Stimme des Anführers besser hören konnte. Der Schwur begeisterte ihn immer wieder von neuem. Er konnte sich kaum vorstellen, dass seine Vorfahren einmal an die Schwerkraft des Bodens gebunden gewesen waren. Heutzutage waren die Elbonais Luftwesen; sie behielten nur ein Minimum an Körper bei, nahmen in sechstausend Metern Höhe kosmische Strahlung in sich auf, verfügten über die Gabe der unmittelbaren Wahrnehmung und kamen nur aus sentimentalen oder kultischen Gründen nach unten. Seit dem Zeitalter der Pioniertaten war viel erreicht worden. Die moderne Welt hatte mit dem Zeitalter der Submolekular-Kontrolle begonnen und wurde jetzt von der Epoche der direkten Steuerung abgelöst.

»… Ehrlichkeit und Fairness«, sagte der Pfadfinderführer. »Und wir schwören ferner, Flüssigkeiten zu trinken, wie sie es taten, feste Nahrung zu uns zu nehmen und unsere Geschicklichkeit im Umgang mit ihren Werkzeugen und Methoden zu steigern.«
Als der Schwur gesprochen war, verteilten sich die Pfadfinder auf der Ebene.

Der Pfadfinderführer trat zu Drag. »Das ist der letzte Appell vor dem Treffen«, erklärte er.

»Ich weiß«, sagte Drag.

»Und du bist der einzige Pfadfinder Zweiter Klasse in der Gruppe Stürmender Mirash. Alle anderen sind Erster Klasse oder zumindest Junior-Pioniere. Was werden die Leute von unserer Gruppe halten?«

Drag wand sich. »Das ist schließlich nicht allein mein Fehler«, meinte er. »Ich weiß, dass ich die Schwimm- und Bomben-Bastel-Prüfungen nicht bestanden habe, aber das liegt mir eben nicht. Es ist nicht fair, von mir zu erwarten, dass ich alles können muss. Selbst unter unseren Vorfahren gab es Spezialisten. Keiner musste alles …«

»Und worin bestehen dann deine Fähigkeiten?«, unterbrach ihn der Anführer.

»Forst- und Bergkunde«, erwiderte Drag eifrig. »Spurensuche, jagen.«

Der Anführer sah ihn eine Weile an. Schließlich sagte er langsam: »Drag, was würdest du zu einer letzten Chance, in die Erste Klasse aufzusteigen und dazu noch eine Leistungsmedaille zu bekommen, sagen?«

»Ich tue alles!«, rief Drag.

»Na schön«, meinte der Anführer. »Weißt du, wie deine Gruppe heißt?«

»Die Gruppe Stürmender Mirash.«

»Und was ist ein Mirash?«

»Ein großes, wildes Tier«, erwiderte Drag sofort. »Früher gab es sie an vielen Stellen Elbonais, unsere Vorfahren lieferten ihnen gewaltige Kämpfe. Jetzt sind sie ausgestorben.«

»Nicht ganz«, meinte der Anführer. »Ein Pfadfinder hat die Wälder siebenhundert Kilometer von hier erforscht, in den Koordinaten S-233/482-2W, und dabei drei Mirash männlichen Geschlechts entdeckt, die gejagt werden dürfen. Ich möchte, dass du sie aufspürst und verfolgst, wobei du dein Wissen aus der Forst- und Bergkunde einzusetzen hast. Dann sollst du, unter ausschließlicher Verwendung von Werkzeugen und Methoden unserer Vorfahren, das Fell eines Mirash zurückbringen. Glaubst du, dass du das schaffen kannst?«

»Ich weiß es, Sir!«

»Dann mach dich sofort auf den Weg«, sagte der Anführer. »Wir befestigen das Fell an unserer Fahnenstange. Beim Pfadfindertreffen erhalten wir dafür sicher eine Auszeichnung.«

»Jawohl, Sir!« Drag packte hastig seine Ausrüstung zusammen, füllte seine Feldflasche mit Flüssigkeit, packte feste Nahrung ein und zog los.

Wenige Minuten später hatte er sich in das Gebiet S-233/ 482-2W versetzt, eine wilde, romantische Landschaft voll schroffer Felsen und knorriger alter Bäume; die Täler waren zugewachsen mit dichtem Buschwerk, die Berggipfel schneebedeckt. Drag sah sich besorgt um.

Er hatte dem Anführer nicht ganz die Wahrheit gesagt.

In Wirklichkeit war er in Forst- und Bergkunde ebenso wenig bewandert wie im Spurensuchen und Jagen. Er hatte überhaupt keine besonderen Talente. Am liebsten träumte er unter den Wolken in fünfzehnhundert Meter Höhe stundenlang vor sich hin. Wenn es ihm nun nicht gelang, einen Mirash zu finden? Was würde geschehen, wenn ihn der Mirash zuerst entdeckte?

Aber da bestand keine Gefahr, beruhigte er sich. Im Notfall konnte er immer noch gestibulieren. Wer würde schon davon erfahren!

Einen Augenblick später hatte er eine schwache Spur Mirash empfangen. Dann sah er, nahe einem t-förmigen Felsen, eine Bewegung.

Sollte es wirklich so einfach sein? Wie schön! Lautlos nahm er eine geeignete Tarnung an und näherte sich der Stelle.

 

Der Bergpfad wurde steiler, die Sonne brannte unbarmherzig auf ihn nieder. Paxton schwitzte trotz seines Overalls mit Air-Condition. Und er hatte es endgültig satt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Wann verschwinden wir endlich von hier?«, fragte er.

Herrera schlug ihm jovial auf die Schulter. »Wollen Sie denn nicht reich werden?«

»Das sind wir schon«, erwiderte Paxton.

»Aber nicht reich genug«, meinte Herrera und grinste breit.

Stellman kam herauf. Er keuchte unter dem Gewicht seiner Messgeräte. Vorsichtig ließ er sich auf den Boden nieder. »Wie wär’s mit einer kleinen Verschnaufpause, meine Herren?«, sagte er.

»Warum nicht?«, erwiderte Herrera. »Wir haben ja Zeit.« Er lehnte sich mit dem Rücken an einen t-förmigen Felsen.

Stellman zündete sich eine Pfeife an und Herrera fand in der Reißverschlusstasche seines Overalls eine Zigarre. Paxton sah den beiden eine Zeit lang zu. Dann fragte er: »Wann fliegen wir denn? Oder wollen wir hier Wurzeln schlagen?«

Herrera grinste nur und strich ein Zündholz für seine Zigarre an.

»Also, was nun?«, schrie Paxton.

»Beruhigen Sie sich, Sie sind überstimmt«, meinte Stellman. »Wir haben das Ganze für drei gleichberechtigte Partner aufgezogen.«

»Mit meinem Geld«, beschwerte sich Paxton.

»Natürlich. Deswegen haben wir Sie ja mit hereingenommen. Herrera besitzt die praktischen Schürferfahrungen, ich das theoretische Wissen und eine Pilotenlizenz, Sie das Geld.«

»Aber wir haben doch schon so viel Zeug an Bord«, wandte Paxton ein. »Unsere Unterbringungsmöglichkeiten sind ausgeschöpft. Warum können wir nicht endlich eine zivilisierte Gegend aufsuchen und mit dem Geldausgeben anfangen?«

»Herrera und ich verfügen nicht über Ihre aristokratische Einstellung zum Reichtum«, erklärte Stellman mit übertriebener Geduld. »Herrera und ich haben den kindischen Wunsch, jeden leeren Winkel mit unseren Schätzen anzufüllen. Goldklumpen in die Treibstofftanks, Smaragde in die Mehlbüchsen, knöcheltief in Diamanten waten. Und das hier ist genau die richtige Gegend. Alle Arten von kostbaren Steinen liegen nur so herum und warten darauf, aufgehoben zu werden. Wir möchten ekelerregend, scheußlich reich sein, Paxton.«

Paxton hatte nicht zugehört. Er starrte unverwandt auf eine Stelle nahe dem Rand des Pfades. Leise sagte er: »Dieser Baum hat sich eben bewegt.«

Herrera brach in Gelächter aus. »Ein Monster wahrscheinlich«, sagte er verächtlich.

»Nur keine Aufregung«, sagte Stellman mit Grabesstimme. »Mein lieber Paxton, ich bin nicht mehr jung, zu dick und leicht zu erschrecken. Glauben Sie etwa, ich würde hierbleiben, wenn nur die geringste Gefahr bestünde?«

»Da! Er hat sich wieder bewegt!«

»Vor drei Monaten haben wir den Planeten hier überprüft«, sagte Stellman. »Wir fanden keine intelligenten Wesen, keine gefährlichen Tiere, keine giftigen Pflanzen, erinnern Sie sich? Alles, was wir gefunden haben, waren Wälder, Berge, Gold, Seen, Smaragde, Flüsse und Diamanten. Wenn es hier wirklich etwas gäbe, hätte es uns dann nicht längst angegriffen?«

»Ich habe gesehen, wie sich der Baum bewegt hat«, erklärte Paxton hartnäckig.

Herrera stand auf. »Dieser Baum?«, fragte er.

»Ja. Schaut hin, er gleicht den anderen nicht einmal. Andere Struktur …«

Mit einer einzigen Bewegung zog Herrera eine Strahlerpistole, Modell II, aus dem Halfter und gab drei Schüsse auf den Baum ab. Der Baum mitsamt dem Unterholz im Umkreis von zehn Metern ging in Flammen auf und sank in sich zusammen.

»Weg«, sagte Herrera.

Paxton rieb sich das Kinn. »Ich konnte ihn schreien hören, als Sie schossen.«

»Sicher. Aber jetzt ist er tot«, meinte Herrera beruhigend. »Wenn sich wieder irgendetwas bewegt, brauchen Sie es mir nur zu sagen, dann schieße ich es nieder. Aber jetzt sammeln wir noch ein paar kleine Smaragde ein, nicht wahr?«

Paxton und Stellman stemmten ihre Lasten hoch und folgten Herrera den Pfad hinunter.

Stellman sagte leise und amüsiert zu Paxton: »Ganz schön beharrlich, was?«

 

Langsam kam Drag zu Bewusstsein. Die Flammenwaffe des Mirash hatte ihn beinahe schutzlos in seiner Tarnung erwischt. Er konnte immer noch nicht begreifen, wie das geschehen konnte. Es hatte keinen warnenden Angstgeruch, kein Schnauben, kein Gebrüll gegeben. Der Mirash hatte plötzlich angegriffen, ohne sich zu vergewissern, ob ihm Freund oder Feind gegenüberstand.

Endlich durchschaute Drag die Natur der Bestie, der er auf der Spur war.

Er wartete, bis die Hufschläge der drei Mirash in der Ferne verklungen waren. Dann versuchte er schmerzverzerrt einen Sehempfänger auszufahren. Nichts. Panik überfiel ihn. Wenn sein Zentralnervensystem getroffen war, war es bald mit ihm vorbei.

Er versuchte es wieder. Diesmal löste sich ein Stück Felsen von ihm und er konnte sich wiederherstellen.

Schnell nahm er eine Innen-Betrachtung vor. Erleichtert seufzte er auf. Um Haaresbreite war er davongekommen; instinktiv hatte er im richtigen Augenblick quondisiert und damit sein Leben gerettet.

Er bemühte sich, einen anderen Aktionsplan zu entwerfen, aber der Schock dieses plötzlichen, gemeinen, unangekündigten Angriffs hatte auch den letzten Rest von Jagdkunde aus seinem Gedächtnis vertrieben. Er stellte fest, dass er nicht im Geringsten den Wunsch hatte, dem wilden Mirash noch einmal zu begegnen. Aber durfte er ihm ausweichen?

Wenn er nun ohne dieses blöde Fell zu den anderen zurückkam? Er konnte dem Anführer erzählen, die Mirash seien alle weiblichen Geschlechts und damit nicht jagdbar gewesen. Das Wort eines jungen Pfadfinders galt; niemand würde es infrage stellen oder gar nachforschen.

Aber das ging einfach nicht. Wie durfte er so etwas überhaupt nur denken? Tja, sagte er sich bedrückt, er konnte seinen Pfadfinderhut nehmen und der lächerlichen Sache ein für alle Mal ein Ende machen: den Lagerfeuern, dem Singen, den Spielen, der Kameradschaft Ade sagen …

Ausgeschlossen, entschied Drag und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Er gebärdete sich so, als seien die Mirash Gegner, die zu planen verstünden. Aber die Mirash waren ja nicht einmal intelligente Wesen. Kein Lebewesen ohne Tentakel hatte je wirkliche Intelligenz entwickelt – das war Etlibs Gesetz und stand unumstößlich fest.

In der Auseinandersetzung zwischen Intelligenz und instinktiver Schlauheit hatte stets die Intelligenz gesiegt. Das musste so sein. Er musste nur seinen Verstand genügend anstrengen.

Drag begann die Mirash wieder zu verfolgen, indem er ihrem Geruch nachspürte. Welche Waffe der Vorfahren sollte er verwenden? Eine kleine Atombombe? Nein, darunter würde sicher das Fell leiden.

Er blieb plötzlich stehen und lachte. In Wirklichkeit war es ganz einfach, wenn er es sich recht überlegte. Warum sollte er den direkten, gefährlichen Kontakt mit den Mirash suchen? Jetzt war die Zeit für den Gebrauch seines Gehirns, für die Anwendung seines Wissens über die Tierpsychologie gekommen.

Statt den Mirash zu folgen, würde er ihr Lager aufsuchen.

Und dort gedachte er ihnen eine Falle zu stellen.

 

Ihr Lager befand sich in einer Höhle. Als sie es erreichten, ging die Sonne bereits unter. Jede Felsspitze, jeder Gesteinsbrocken warf einen scharfen, dunklen Schatten. Das Raumschiff lag acht Kilometer unter ihnen im Tal; die Metallhaut glitzerte rötlich-silbern. In ihren Rucksäcken hatten sie ein Dutzend Smaragde, klein, aber von herrlich reiner Farbe.

In solchen Stunden dachte Paxton an eine kleine Stadt in Ohio, an Eiscreme, an ein Mädchen mit hellem Haar. Herrera lächelte vor sich hin und überlegte sich gewisse vergnügliche Arten, eine Million Dollar auszugeben, bevor er sich als Besitzer zahlreicher Ranchen niederließ. Und Stellman formulierte in Gedanken bereits seine Doktorarbeit über außerirdische Minerallager.

Sie waren alle bester Stimmung. Paxton hatte sich von seiner Nervosität vollständig erholt. Jetzt wünschte er, dass wirklich ein fremdes Ungeheuer auftauchen möge – am besten ein grünes –, das ein wunderschönes, spärlich bekleidetes Mädchen verfolgte.

»Endlich zu Hause«, sagte Stellman, als sie sich dem Eingang der Höhle näherten. »Wie wär’s mit Irish Stew heute?« Er hatte an diesem Abend Küchendienst.

»Mit viel Zwiebeln«, sagte Paxton und trat in die Höhle. Wie von der Tarantel gestochen, sprang er wieder heraus. »Was ist denn das?«

Ein Stück von der Höhlenöffnung entfernt dampfte ein kleines Roastbeef vor sich hin, daneben lagen vier große Diamanten und in der Mitte stand eine Flasche Whisky.

»Merkwürdig«, sagte Stellman. »Gar nicht gut für die Nerven.«

Paxton beugte sich vor, um einen der Diamanten näher zu betrachten. Herrera packte ihn und zog ihn weg. »Vielleicht eine Falle.«

»Ich sehe keine Drähte«, meinte Paxton.

Herrera starrte das Roastbeef, die Diamanten und die Flasche Whisky an. Er machte ein unglückliches Gesicht. »Ich traue der Sache nicht«, sagte er.

»Vielleicht gibt es hier doch Einheimische«, überlegte Stellman. »Sehr schüchterne. Das da könnte ihr Friedensangebot sein.«

»Natürlich«, sagte Herrera. »Sie haben extra für uns von der Erde eine Flasche Whisky geholt.«

»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Paxton.

»Wegbleiben«, befahl Herrera. »Zurück mit euch.« Er brach einen langen Ast von einem in der Nähe stehenden Baum und stocherte damit vorsichtig zwischen den Diamanten herum.

»Es rührt sich nichts«, sagte Paxton.

Plötzlich schlug das langhalmige Gras, auf dem Herrera stand, peitschend gegen seine Knöchel. Der Boden unter ihm löste sich zu einer säuberlich abgetrennten Scheibe von fünf Metern Durchmesser und begann sich in die Luft zu erheben, wobei die Wurzelenden nachschleiften. Herrera versuchte herunterzuspringen, aber das Gras hielt ihn wie mit tausend grünen Zungen fest.

»Nicht aufgeben!«, schrie Paxton und ohne nachzudenken sprang er vor und packte den Rand der emporsteigenden Scheibe. Sie neigte sich stark, kam für einen Augenblick zum Stillstand und begann wieder zu steigen. Inzwischen hatte Herrera das Messer aus dem Gürtel gerissen und hackte damit auf das Gras um seine Knöchel herum ein.

Stellman fuhr aus seiner Erstarrung hoch, als er Paxton an seinem Kopf vorbeigleiten sah. Er packte Paxton an den Füßen und hielt die Scheibe in ihrem Höhenflug wieder auf. Herrera befreite einen seiner Füße und hechtete über den Scheibenrand. Der andere Knöchel wurde für den Bruchteil einer Sekunde festgehalten, dann gab das Gras unter dem Schwung nach. Herrera flog kopfüber auf die Erde, aber im letzten Moment konnte er den Kopf einziehen, so dass er auf seiner Schulter landete. Paxton ließ die Scheibe los und stürzte ab, wobei er Stellman direkt auf den Bauch fiel.

Die Scheibe mit ihrer wertvollen Fracht aus Roastbeef, Whisky und Diamanten stieg immer weiter empor, bis sie den Blicken der Männer entschwunden war.

Die Sonne hatte sich hinter den Horizont zurückgezogen. Stumm betraten die drei Männer ihre Höhle, die Strahler im Anschlag. An der Höhlenöffnung entfachten sie ein loderndes Feuer, dann zogen sie sich ins Innere zurück.

»Wir halten heute Nacht abwechselnd Wache«, sagte Herrera.

Paxton und Stellman nickten.

»Ich glaube, Sie hatten Recht, Paxton«, sagte Herrera. »Wir sind lange genug hier gewesen.«

»Zu lange«, meinte Paxton. »Sobald es hell wird, kehren wir zum Schiff zurück und fliegen los.«

»Wenn wir das Schiff noch erreichen«, sagte Stellman.

 

Drag war sehr entmutigt. Bedrückt hatte er die vorzeitige Entdeckung der Falle, den Kampf und das Entkommen der Mirash miterlebt. Dabei war dieser Mirash der größte von den dreien gewesen!

Er wusste jetzt, was er falsch gemacht hatte. In seinem Übereifer hatte er seine Falle mit zu reichen Ködern versehen. Die Minerale hätten genügt, da die Mirash darauf besonders erpicht waren. Aber nein, er musste ja unbedingt die Methoden der Vorfahren verbessern und noch Nahrung als Lockmittel verwenden. Kein Wunder, dass sie Verdacht geschöpft hatten.

Jetzt waren sie gereizt, vorsichtig und entschieden gefährlich. Und ein gereizter Mirash war einer der fürchterlichsten Anblicke in der gesamten Galaxis.

Drag kam sich sehr einsam vor, als Elbonais Zwillingsmonde am westlichen Himmel emporstiegen. Er konnte das Lagerfeuer der Mirash in der Höhlenöffnung lodern sehen. Durch sein unmittelbares Wahrnehmungsvermögen war es ihm auch möglich, die bewaffneten Mirash im Innern zu erkennen.

War ein Mirashfell wirklich so viel Mühe wert?

Drag dachte bei sich, dass er viel lieber in fünfzehnhundert Metern Höhe schweben, Wolkenformationen bilden und träumen würde. Er wollte Strahlung absorbieren, statt scheußliche feste Nahrung aufzunehmen. Und wozu sollte dieses Jagen und Fallenstellen überhaupt gut sein? Das waren nutzlose Fertigkeiten, über die er und die Seinen längst hinaus waren.

Einen Augenblick lang war er beinahe überzeugt von seinen Überlegungen. Bis er mit einem Mal begriff, worum es hier eigentlich ging.

Gewiss, die Elbonais waren ihren Konkurrenten über den Kopf gewachsen, sie hatten sich durch ihre rasche Entwicklung jeder Gefahr entzogen. Das Universum jedoch war groß und vieler Überraschungen fähig. Wer vermochte vorauszusehen, welche neuen Gefahren sein Volk zu bestehen haben würde? Und wie konnten sie ihnen begegnen, wenn ihr Jagdinstinkt verlorenging?

Nein, die alten Sitten mussten bewahrt bleiben, um als Gedächtnisstütze zu dienen, als Mahnung, dass friedliches, intelligentes Leben in einem feindseligen Universum immer mit Gefahr verbunden war.

Er würde das Mirashfell beschaffen oder bei seinen Bemühungen umkommen! Das Wichtigste war jetzt, sie aus ihrer Höhle zu locken.

Sein Jagdwissen kehrte wieder.

Schnell und geschickt bildete er eine Mirash-Flöte.

 

»Habt ihr das gehört?«, fragte Paxton.

»Ich hab mir doch gedacht, dass sich da etwas gerührt hat«, sagte Stellman.

Die drei Männer lauschten angestrengt.

Der Laut wiederholte sich. Eine Stimme rief: »Hilfe, helft mir!«

»Ein Mädchen!« Paxton sprang auf.

»Es klingt so, als ob es ein Mädchen wäre«, meinte Stellman.

»Bitte helft mir«, rief die Mädchenstimme verzweifelt, »ich kann mich nicht mehr lange verteidigen. Hilft mir denn niemand?«

Paxton schoss das Blut ins Gesicht. Wie durch eine Eingebung sah er sie, klein, wohlgeformt, neben ihrem Sport-Raumschiff-Wrack, umgeben von grünen, schleimigen Ungeheuern. Und dann kam Es, eine ekelerregende, fremdartige Bestie.

Paxton nahm einen Strahler an sich. »Ich muss hinaus«, sagte er kühn.

»Setzen Sie sich wieder hin, Sie Trottel!«, fauchte Herrera.

»Aber ihr habt es doch auch gehört, oder nicht?«

»Das kann kein Mädchen sein«, meinte Herrera. »Was hätte ein Mädchen auf diesem Planeten zu suchen?«

»Ich finde das schon heraus«, verkündete Paxton und fuchtelte mit zwei Strahlern herum. »Vielleicht ist ein Raumlinienschiff abgestürzt oder sie hat einen Abstecher gemacht und …«

»Setzen Sie sich!«, brüllte Herrera.

»Er hat Recht«, versuchte Stellman Paxton zu überzeugen. »Selbst wenn da draußen wirklich ein Mädchen wäre, was ich bezweifle, könnten wir nichts tun.«

»Hilfe, Hilfe, es verfolgt mich!«, kreischte die Mädchenstimme.

»Aus dem Weg!«, sagte Paxton leise und gefährlich.

»Sie wollen wirklich hinaus?«, fragte Herrera ungläubig.

»Ja! Wollen Sie mich vielleicht aufhalten?«

»Nur zu.« Herrera deutete auf den Höhleneingang.

»Wir dürfen es nicht zulassen!«, rief Stellman.

»Warum nicht? Es ist seine Beerdigung«, sagte Herrera lässig.

»Macht euch um mich keine Sorgen«, sagte Paxton. »Ich bin in fünfzehn Minuten zurück – mit ihr!« Er drehte sich um und ging zum Eingang. Herrera beugte sich vor und schlug Paxton mit einem massiven Holzscheit nieder. Stellman fing ihn auf.

Sie legten Paxton auf den Boden und setzten ihre Nachtwache fort.

Das unglückliche Mädchen stöhnte und flehte die nächsten fünf Stunden hindurch, ohne Unterbrechung. Viel zu lange, wie Paxton fand, selbst für eine Fernsehserie.

 

Der düstere, regenverhangene Tagesanbruch fand Drag immer noch hundert Meter vor der Höhle auf seinem Posten. Er sah die Mirash in enger Formation aus der Höhle treten, Waffen im Anschlag, wachsam, auf alles vorbereitet.

Warum hatte die Mirash-Flöte versagt? Im Pfadfinder-Handbuch stand, dass damit unweigerlich die männlichen Mirash anzulocken seien. Aber vielleicht war jetzt nicht Brunstzeit.

Sie bewegten sich auf einen metallischen, eiförmigen Körper zu, den Drag als primitives Raumfahrzeug erkannte. Es war einfach konstruiert, aber die Mirash würden sich in Sicherheit befinden, sobald sie es erreicht hatten.

Er konnte sie zwar auf einfache Weise trevestieren und damit wäre Schluss. Aber besonders korrekt durfte man ein solches Vorgehen nicht nennen. Die alten Elbonais waren vor allem zurückhaltend und anständig gewesen; ein junger Pfadfinder musste ihnen nacheifern. Außerdem konnte Trevestieren nicht als Verfahren der Vorfahren gelten.

Dann blieb nur noch die Ilitromie, die einer der ältesten Tricks in dem Buch war. Er musste dazu allerdings sehr nah an die Mirash heran, damit es gelang. Aber da er nichts mehr zu verlieren hatte …

Zum Glück waren die klimatischen Bedingungen ideal.

 

Es begann als leichter Bodendunst. Als die wässrig blinkende Sonne am grauen Himmel emporstieg, verwandelte sich dieser Dunst jedoch in starken Nebel.

Herrera fluchte umso ärger, je dichter der Nebel wurde. »Wir müssen dicht beieinanderbleiben. Ausgerechnet jetzt muss uns das passieren!«

Kurze Zeit später mussten sie jeder eine Hand auf die Schulter des anderen legen, um sich nicht zu verlieren.

Sie hielten die Strahler bereit und starrten in den undurchdringlichen Nebel.

»Herrera?«

»Ja?«

»Sind Sie sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«

»Ja. Ich habe vor dem Auftreten des Nebels auf den Kompass gesehen.«

»Und wenn Ihr Kompass nicht stimmt?«

»Daran sollten wir noch nicht einmal denken!«

Sie gingen weiter, sich vorsichtig um die Felsbrocken, die vor ihnen auf dem Weg lagen, vorwärtstastend.

»Ich glaube, ich kann das Schiff sehen«, meinte Paxton.

»Nein, wir sind noch nicht so weit«, erwiderte Herrera.

Stellman stolperte über einen Stein, ließ seinen Strahler fallen, hob ihn auf und tastete nach Herreras Schulter. Er fand sie und marschierte weiter.

»Ich denke, wir sind bald da«, sagte Herrera.

»Hoffentlich«, seufzte Paxton. »Ich habe genug.«

»Meinen Sie etwa, Ihre Freundin erwartet Sie da unten?«

»Ich habe ja schon zugegeben, dass ich im Irrtum war.«

»Schon gut«, sagte Herrera. »He, Stellman, Sie sollten sich lieber wieder an meiner Schulter festhalten – wir dürfen uns nicht verlieren.«

»Ich halte mich doch an Ihrer Schulter fest«, sagte Stellman.

»Das tun Sie nicht.«

»Doch, wenn ich es Ihnen sage!«

»Hören Sie mal, ich weiß doch wohl, ob sich jemand an meiner Schulter festhält oder nicht!«

»Ist das Ihre Schulter, Paxton?«

»Nein«, sagte Paxton.

»Das ist schlecht«, erklärte Stellman sehr, sehr langsam. »Das ist äußerst schlecht.«

»Warum?«

»Weil ich mich eindeutig an irgendeiner Schulter festhalte.«

Herrera schrie: »Hinlegen, sofort hinlegen, damit ich schießen kann!« Aber es war zu spät. Ein süß-saurer Geruch erfüllte die Luft. Stellman und Paxton atmeten ihn ein und brachen zusammen. Herrera rannte blindlings weiter, mit angehaltenem Atem. Er stolperte und fiel über einen Felsbrocken, versuchte sich wieder aufzuraffen …

Es wurde Nacht um ihn.

Der Nebel lichtete sich plötzlich und Drag stand hoch aufgerichtet da, mit triumphierendem Lächeln. Er zog ein langes, scharfes Messer aus dem Gürtel, das er zum Häuten verwendete, und beugte sich über den Mirash, der vor ihm lag.

 

Das Raumschiff stürmte mit einer Beschleunigung zur Erde, bei der für kurze Augenblicke der Super-Antrieb zu verglühen drohte. Herrera, der wie besessen über der Steuerung hing, gewann endlich seine Selbstbeherrschung wieder und stellte auf Normalgeschwindigkeit um. Sein sonst dunkel gebräuntes Gesicht war aschfarben, seine Hände über den Instrumenten zitterten.

Stellman kam von der Kabine herein und ließ sich in den Kopilotensessel fallen.

»Wie geht es Paxton?«, fragte Herrera.

»Ich habe ihm Drona-3 gespritzt«, sagte Stellman. »Er wird bald wieder der Alte sein.«

»Er ist ein guter Kerl«, meinte Herrera.

»Zum größten Teil liegt es am Schock«, erklärte Stellman. »Wenn er wieder bei Bewusstsein ist, lasse ich ihn Diamanten zählen. Das ist die beste Therapie, glauben Sie mir.«

Herrera grinste und sein Gesicht nahm wieder normale Färbung an. »Ich möchte am liebsten selbst Diamanten zählen, jetzt, da alles gut ausgegangen ist.« Sein Gesicht wurde plötzlich ernst. »Aber ich frage Sie, was soll man davon halten? Ich begreife die ganze Sache immer noch nicht!«

 

Das Pfadfindertreffen bot ein großartiges Schauspiel.

Die Gruppe Steigender Falke, Nummer 22, zeigte eine kurze Pantomime, in der die Eroberung von Elbonai dargestellt wurde.

Die Tapferen Büffel, Nummer 31, erschienen in voller Pionier-Montur.

Und an der Spitze der Gruppe 10, der Stürmenden Mirash, marschierte Drag, jetzt als Pfadfinder Erster Klasse, an der Brust eine funkelnde Leistungsmedaille. Er trug die Gruppenfahne – ein hohes Ehrenamt – und jedermann stieß bei seinem Anblick Hochrufe aus.

Denn von der Fahnenstange flatterte stolz im Sonnenschein die feste, feinstrukturierte, charakteristische Haut eines erwachsenen Mirash, komplett mit Reißverschlüssen, Messinstrumenten, Knöpfen und Halftern.

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In dem Sammelband Der widerspenstige Planet (im Shop) sind die folgenden Stories und Romane enthalten, die auch einzeln im E-Book lieferbar sind:

Fütterungszeit (im Shop)
Das siebte Opfer (im Shop)
Spezialist (im Shop)
Und führet mich zu stillen Wassern (im Shop)
Formfragen (im Shop)
Pfadfinderspiele (im Shop)
Ein Irrtum der Regierung (im Shop)
Der widerspenstige Planet (im Shop)
Utopia mit kleinen Fehlern (im Shop)
Pilgerfahrt zur Erde (im Shop)
Das Millionenspiel (im Shop)
Die Jenseits-Corporation (im Shop)
Das geteilte Ich (im Shop)
Pas de Trois (im Shop)
Ein erster Kontakt (im Shop)
Endstation Zukunft (im Shop)

 

Robert Sheckley, 1928 in New York geboren, studierte Englisch und Philosophie an der New York University. Bereits während des Studiums begann er erste Kurzgeschichten zu veröffentlichen, und in kürzester Zeit machte er sich einen Namen als einer der intelligentesten und humorvollsten Science-Fiction-Autoren. Parallel zu seiner Schreibtätigkeit arbeitete er als Literaturredakteur und hatte Gastdozenturen an verschiedenen Universitäten. Sheckley starb im Dezember 2005. Seine Stories und Romane finden Sie in unserem Shop.

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