5. Januar 2021 1 Likes

Das Grauen im Breitwandformat

Monumental und archaisch: François Baranger illustriert Lovecrafts klassische Erzählung „Cthulhus Ruf“

Lesezeit: 4 min.

„Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre inneren Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen …“ So eindrücklich beginnt „Cthulhus Ruf“ (im Shop), eine der wichtigsten und einflussreichsten Geschichten von H.P. Lovecraft (1890–1937). Die Erzählung ist ein Schlüsseltext im Werk des Autors, da in ihr erstmals von den „Großen Alten“ die Rede ist, eine in Vorzeiten beginnende Legende, die als „Cthulhu-Mythos“ ein bis heute fortdauerndes Eigenleben entwickelte. Soeben wurde der klassische Text als großformatige Prachtausgabe mit den Illustrationen des Franzosen François Baranger neu vorgelegt.

Es ist ein irritierender Fund, den der Erzähler Francis Thurston unter den Hinterlassenschaften seines Großonkels macht. Der unter seltsamen Umständen ums Leben gekommene George Angell, Professor für semitische Sprachen in Providence, Rhode Island, hat in einer verschlossenen Schatulle ein Relief aufbewahrt, das eine bizarre Kreatur zeigt – „ein fleischiger, mit Fangarmen versehener Kopf saß auf einem grotesken, schuppigen Körper mit rudimentären Schwingen“. Eine freie künstlerische Darstellung? Oder steckt mehr dahinter?

Ein beigelegtes Manuskript schildert, dass das Relief von Henry Anthony Wilcox stammt, einem Bildhauer, der von seltsamen Träumen geplagt wurde – Träumen, in denen riesige Zyklopenstädte und vom Himmel gefallene Monolithen vor seinem inneren Auge erschienen, während eine flüsternde Stimme die Worte „Cthulu fhtagn“ wiederholte. Doch damit nicht genug – das Manuskript beschreibt auch Ereignisse, die Jahre zurückliegen und in denen ein Inspektor im Bundesstaat Louisiana auf grauenhafte Rituale stieß, bei denen eine alte Steinfigur den Mittelpunkt des „Cthulhu-Kults“ bildete. Offenbar existiert ein Mythos, der von den „Großen Alten“ handelt – gottgleichen Wesen, die „nicht vollständig“ aus Fleisch und Blut bestehen und vor Urzeiten aus dem Weltall auf die Erde gekommen sind; weder tot noch lebendig, warten sie auf eine günstigen Stand der Gestirne, um die Welt erneut zu unterwerfen.

Doch das ist alles nichts gegen den Bericht von der Dampfyacht Alert, die Francis kurz darauf in seinen Besitz bringen kann. Danach stieß zu der Zeit, als Wilcox von den Träumen heimgesucht wurde, eine Schiffsbesatzung im Pazifik auf eine windumtoste Stadt mit abnormer Geometrie, die aus den Fluten herausragte. Niemand an Bord konnte wissen, dass es sich hierbei um die Totenstadt R’leyh handelt, in der der tote Cthulhu von seinem Erwachen träumt … und dass er sich kurz darauf aus seiner Gruft erhebt.

Den US-Amerikaner Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) muss man unterdessen nicht mehr vorstellen. Zu Lebzeiten weitgehend erfolglos, gehört sein Werk seit langem zu den Meilensteinen der Phantastik; dies gilt ganz besonders für „Call of Cthulhu“. Lovecraft hat die Erzählung 1926 geschrieben und zwei Jahre später in Weird Tales veröffentlicht; im Grunde besteht sie aus einer Reihe ungewöhnlicher Berichte, die sich dann zu einem verstörenden Bild runden: Der Mensch erscheint als Spielball kosmischer Wesen, die die Erde vor Urzeiten in Besitz genommen haben und ihm in jeder Hinsicht überlegen sind. Die Idee erwies sich als so faszinierend, dass sie nicht nur von Lovecraft, sondern von Kreativen aller Schaffensbereiche quer durch die gesamte Popkultur hinweg weitergeführt worden ist – der „Cthulhu-Mythos“ war geboren. Allein schon, um die Grundlagen jenes „kosmischen Horrors“ kennenzulernen, der Lovecrafts einmaliges Werk durchzieht, lohnt sich die Lektüre von „Cthulhus Ruf“; tatsächlich hat die Zeit der hervorragenden Geschichte nichts anzuhaben vermocht – sie liest sich noch immer ausgesprochen fesselnd.

Dies gilt umso mehr, da die vorliegende Ausgabe von François Baranger bebildert wurde, einem französischen Illustrator (*1970), dessen Tätigkeit als Filmdesigner (u.a. „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ 1 & 2, „Die Schöne und das Biest“) man dem Buch an jeder Stelle anmerkt. Dies ist gewissermaßen die hollywoodtaugliche Lovecraft-Verfilmung, die es bislang nicht auf die Leinwand geschafft hat – groß, wuchtig und in den besten Szenen einschüchternd monumental. Man denkt an Guillermo del Toro („Pacific Rim“, 2013) oder Gareth Edwards („Godzilla“, 2016), wobei Baranger allerdings die fast monochrome graugrüne Farbpalette eines H.R. Giger bevorzugt. Dies gilt vor allem für die stärksten Szenen am Schluss des Buchs. Während der Künstler zu Beginn grundsolide Illustrationen abliefert, denen ein Hang zur Gefälligkeit nicht ganz abgesprochen werden kann, findet er bei den Szenen um die Totenstadt R’lyeh ganz zu sich. Eine karge, sturmgepeitschte Natur und die düstere Kulisse einer seit Jahrmillionen verlassenen Stadt – hier leistet Baranger wirklich Außergewöhnliches, was gleichermaßen auf seinen naturalistischen Stil, sein Gespür für Gigantomanie und den Blick für ungewöhnliche Perspektiven zurückgeht. Wuchtiger sind finstere Bauwerke selten dargestellt worden. Dies gilt auch für Cthulhu selbst. Lovecraft hat 1934 eine leicht verunglückte Skizze von der Kreatur angefertigt, an die sich Baranger hält, deren Umsetzung er aber gekonnt dramatisiert. Auf seinen Bildern scheint sich ein Fleischberg ungeahnten Ausmaßes aus den Fluten zu erheben, neben dem das Schiff zu einer Nussschale verkommt. Eindrucksvoller hätte das auch Hollywood nicht realisieren können.

Zum Glück wurde dem Buch ein hochwertiges Äußeres spendiert: Großformat, Festeinband, Kunstdruckpapier und Fadenheftung sind selbstverständlich. Und: Man hat sich für die (Erst-)Übersetzung durch H.C. Artmann (1921–2000) entschieden, was von daher eine gute Wahl ist, weil der phantastikbegeisterte Österreicher die sprachlich vielleicht rundeste deutsche Fassung des Texts abgeliefert hat. Alles in allem ein ausgesprochen angemessenes Geschenk im Jahr von Lovecrafts 130. Geburtstag. Übrigens mit Fortsetzungsoption: In Frankreich hat Baranger gerade den zweiten Teil seiner Adaption von Lovecrafts „Berge des Wahnsinns“ vorgelegt.

H.P. Lovecraft, François Baranger (Illustr.): Cthulhus Ruf • Erzählung • Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von H.C. Artmann • Heyne • 64 Seiten • € 25 • im Shop

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