6. April 2023

„Kälte“: Der Near-Future-Thriller von Tom Rob Smith

Eine Leseprobe aus dem neuen Roman des internationalen Bestsellerautors

Lesezeit: 24 min.

Der große Zukunftsthriller im April ist da! Bestsellerautor Tom Rob Smith schildert in Kälte (im Shop) das Ende der Welt, wie wir sie kennen – und das, was danach kommt. Denn als eines Tages in der nahen Zukunft eine gewaltigen Alien-Raumflotte über der Erde erscheint, ist es nicht der friedliche Erstkontakt, auf den alle hoffen. Die Fremden übermitteln eine verstörende Botschaft, die jeden einzelnen Menschen auf der Welt zu einem Wettlauf gegen die Zeit zwingt – allen voran die junge Medizinstudentin Liza, die gerade im Urlaub in Portugal Touristenführer Atto, ihre große Liebe, kennengelernt hat …

 

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RIO TEJO

Gleicher Tag

Liza stand über die Vorderseite des Bootes gebeugt wie eine traurige Galionsfigur und schwieg. Auf der Rückfahrt grübelte sie darüber nach, dass ihr Leben zwar voller lobenswerter Errungenschaften war, aber ohne Zuneigung. (…)

»Ich glaube, dass wir uns in zehn Minuten nie wiedersehen werden.«

Die Bemerkung klang härter, als Liza beabsichtigt hatte. Attos Antwort überraschte sie.

»Wir leben in sehr unterschiedlichen Welten, willst du mir damit sagen.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Wenn ich an deinem College studieren würde, würdest du mich dann wiedersehen wollen?«

»Ja, würde ich. Aber du studierst nicht an meinem College.«

»Im Stadtzentrum gibt es einen Starbucks. Sie verlangen vier Euro für einen Espresso, den man in jedem normalen Café für einen Euro bekommt. Ich sehe viele Leute in meinem Alter dort an ihren Laptops arbeiten. Nicht, weil sie den Kaffee dort lieber mögen, sondern, weil sie zeigen wollen, wie international sie sind. Ihre Träume gehen über diese Stadt hinaus. Eines Tages werden sie ihren Kaffee bei Starbucks in Manhattan oder in Hollywood trinken. Ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Das hier ist mein Leben. Ein kleines Leben vielleicht, aber ein gutes Leben. Wir können nicht so tun, als ob ich eines Tages in die USA fliegen würde oder wir uns zufällig irgendwann wieder begegnen.«

»Du glaubst wirklich, dass etwas zwischen uns ist?«

»Hast du es nicht gespürt? Wir sind fast zurück, das ist der Abschied. Sag es mir: Ja oder nein?«

»Ja, ich habe etwas gespürt. Deshalb bin ich zurückgekommen. Ich hätte ins Fitnessstudio gehen können. Ich hätte auf der Hotelterrasse sitzen und mir beim Zimmerservice Mojitos bestellen können. Stattdessen bin ich auf diesem Boot, mit dir, und mache eine Trennung durch, obwohl wir uns noch nicht einmal geküsst haben.«

»Ich verbringe jeden einzelnen Tag damit, Leute auf dieses Boot zu locken. Ich flirte mit Frauen. Ich flirte mit Männern. Ich will damit nicht prahlen, es ist einfach mein Job, dass sich die Leute bei mir willkommen fühlen. Ich lächle, mache Witze, berühre die Leute am Arm und so. Es ist ein Spiel. Aber so etwas wie mit dir habe ich noch nie gefühlt.«

»Was gefühlt?«

»Dass ich … dir alles erzählen will. Dass ich will, dass du mir alles erzählst. Dass … es ausgeschlossen ist, dass wir uns nie wiedersehen. Und als wir den Strand hinter uns gelassen haben, wollte ich weiterfahren. Auf ein Abenteuer, wie die großen Entdecker der Vergangenheit. Der Gedanke, dass sich unsere Wege jetzt trennen und wir uns nie wieder begegnen … schmerzt mich. Ich weiß, es ist lächerlich und … Wie lächerlich ich mich gerade anhöre. Ich habe es vermasselt. Ich habe dich verletzt, und das tut mir leid.«

Seine Stimme klang so verwundet und aufrichtig, dass Liza schmunzelte.

»Es muss dir nicht leidtun. Du hast mir den Ozean gezeigt. Ich habe den Geräuschen der Brücke gelauscht. Wir haben den Sonnenuntergang gesehen. Wir haben uns fast geküsst. Es war schön, größtenteils.«

»Ich habe versucht, mehr aus uns zu machen – mehr, als wir jemals sein könnten. Das war mein Fehler. Ich hätte nichts sagen sollen. Ich hätte dich küssen und schweigen sollen. Es ist meine Schuld. Und das tut mir leid.«

Eine zärtliche Entschuldigung. Liza hätte es dabei belassen können, aber sie ertappte sich dabei, wie sie fragte: »Erzähl mir eine Geschichte, die du noch niemandem erzählt hast.«

Überrascht und erfreut über die Aufforderung, dachte Atto kurz nach und erwiderte dann: »Nur, wenn du danach das Gleiche tust.«

»Klingt fair.«

»Ich war zehn Jahre alt. Wir verbrachten den Tag am Strand, nicht weit von hier. Meine Mutter, mein Vater und meine drei älteren Brüder. Wir hatten ein Picknick vorbereitet, Brot, Obst und Käse, und ich habe sie gebeten, auf mich zu warten, während ich zu den Toiletten am Ende der Dünen ging. Ich rannte los, so schnell ich konnte, und als ich zurückkam, hatten sie schon angefangen, ohne mich. Ich weiß noch, dass sie gerade über irgendeinen Witz gelacht haben. Ich war so wütend, und sie konnten nicht verstehen, was mein Problem war. Es war noch genug da, außerdem waren wir ja nicht in einem Restaurant oder so, es war kein ›richtiges‹ Essen. Aber ich hatte sie gebeten, auf mich zu warten, und das haben sie nicht. Und das bedeutete etwas, das wusste ich schon damals, als Kind. Und ich weiß es auch jetzt. Anstatt mich zu ihnen zu setzen, bin ich ins Wasser gerannt und habe geweint. Als ich zurückkam, wusste niemand, dass ich geweint hatte, alle dachten, meine Augen wären rot vom Meer. Sie haben mir was aufgehoben, aber ich habe nichts angerührt.«

Als Liza diese Anekdote hörte, fasste sie einen Entschluss. Sie würde Atto zum Abschied küssen, wenn sie auf dem Platz ankamen. Sie freute sich, dass diese Begegnung nun doch noch mit einem romantischen Moment enden würde. Zufrieden mit ihrer Entscheidung, blickte sie auf die Stadt und überlegte, welche Geschichte sie ihm erzählen sollte. Erst jetzt, als sie sich der Anlegestelle näherten, bemerkte sie, dass die Touristenmassen verschwunden waren. Alle Boote waren leer. Weit und breit war niemand zu sehen. Die Praça do Comércio lag vollkommen verlassen da.

 

PRAÇA DO COMÉRCIO

Gleicher Tag

Atto öffnete die Notfalltruhe, holte ein gummiummanteltes Fernglas hervor und suchte den Platz ab. Nachdem er es wieder abgesetzt hatte, fragte Liza: »Was ist da los? Konntest du irgendwas sehen?«

Unfähig, etwas zu sagen, kam er an den Bug und reichte Liza das Fernglas. Schließlich sah sie, dass alle Menschen, die gerade noch im Freien den Abend genossen hatten, nun dicht gedrängt in den Restaurants und Bars saßen. Wer keinen Platz mehr bekommen hatte, drängte sich so nahe wie möglich an die Fenster und starrte auf die Fernsehschirme, als stünde Portugal gerade beim Finale der Fußball-WM im Elfmeterschießen. Viele hielten sich an den Händen, Kinder saßen auf den Schultern ihrer Eltern oder drückten sich an ihre Beine. Halb leer gegessene Teller standen verwaist auf den Terrassentischen. Anstatt sich auf die Überreste zu stürzen, flogen die Meisen in seltsamen geometrischen Formationen Zickzack, fast wie Schmeißfliegen in der Wohnung an einem heißen Sommertag.

Als sie sich dem Hafen näherten, kamen sie an verlassenen Touristenbooten vorbei, die nicht vertäut waren und wie Geisterschiffe vor sich hin trieben.

»Warum lassen sie ihre Boote einfach liegen?«

»Ich habe keine Ahnung. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Sie überprüften ihre Handys. Keines funktionierte, die Bildschirme waren schwarz, als wäre der Akku leer. Atto machte sein Boot am Pier fest und bot Liza seine Hand an – nicht weil sie Hilfe bräuchte, sondern als Angebot: Sie würden diese Situation gemeinsam meistern, als Team. Liza verstand und nahm Attos Hand. Sie kletterten auf den Steg und liefen angespannt über den gespenstisch leeren Platz, wie Entdecker, die den Fuß auf einen unbekannten Strand setzten und nervös darauf warteten, was für Menschen sie begegnen würden: Freund oder Feind.

Die Stadt war so still wie ein gescholtenes Kind, und als sie die Mitte des Platzes erreichten, wurde der Abendhimmel blendend hell, als hätten Sonne und Mond die Positionen getauscht. Liza schloss die Augen und bedeckte ihr Gesicht, als ein forschendes Licht durch ihre Haut zu dringen schien. Sie spürte es am ganzen Körper, wie Strahlen, die hungrig jedes Molekül durchleuchteten. Schwebte sie? Es fühlte sich so an, aber sie war sich nicht sicher. Ihr Körper kribbelte, ihre Zähne klapperten – und dann war es weg. Die Schwingungen hörten auf, das Licht verschwand, und der Himmel war wieder dunkel. Langsam ließ sie ihre Arme sinken und öffnete die Augen. Ihre Füße standen fest auf dem Boden, und als sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, blickte sie nach oben. Dort sah sie Sterne, die sich wie Bakterien in einer Petrischale vermehrten. Doch das waren keine Sterne, dafür waren sie zu hell, zu groß und zu geordnet. Das waren Schiffe, Schiffe am Nachthimmel. Eine atemberaubend schöne außerirdische Armada war auf die Erde gekommen – der Moment, über den viele spekuliert hatten, von dem aber nur wenige dachten, dass er jemals eintreten würde. Bisher hatte sich Liza nie für den Weltraum interessiert, sondern eher für die Welt um sie herum, und sie war überrascht, wie schnell ihr Verstand die neue Realität akzeptierte. Als analytische Wissenschaftlerin brachte sie lediglich ihr Wissen über das Universum auf den neuesten Stand: Die Menschheit war nicht allein im Kosmos, und, noch wichtiger, sie war gefunden worden.

Oben in der Stadt, über den roten Ziegeldächern und Kirchtürmen, war das erste Geräusch, das die ehrfürchtige Stille durchbrach, das Wehklagen einer älteren Frau; es klang wie ein Gebetsruf. Wie als Antwort jagten Kampfjets im Tiefflug über den Himmel, plump und schwerfällig im Vergleich zur Eleganz der Sternenschiffe hoch über ihnen. Auf das Dröhnen der Triebwerke folgte das Heulen von Sirenen, so viele Geräusche, die sich gegenseitig überlagerten, dass sofort klar war, dass die Stadt nie wieder still sein würde.

Liza drehte sich zu Atto um, einem Mann, den sie kaum kannte und dessen Hand sie hielt, um diesen Moment mit ihm zu teilen. Er starrte immer noch zu den Sternenschiffen empor und beobachtete, wie sie in die Atmosphäre eintraten. Liza sah, dass er weniger Angst als vielmehr ein Gefühl der Verwunderung empfand, vollkommen eingenommen von der Großartigkeit der Invasion, die sich über ihren Köpfen abspielte.

»Atto?«

Er sah sie an wie jemand, der gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht und versucht, die Welt um sich herum zu verstehen. Die verblüfften Menschen vor den Bars und Restaurants setzten sich in Bewegung. Einige schnell, als wüssten sie genau, was sie bei einer Invasion von Aliens zu tun hatten, während andere weiter fassungslos in den Nachthimmel starrten. Immer noch gebannt von der Armada hoch oben, lief eine Frau auf die Straße und wurde von einem rasenden Polizeiauto überfahren, das nicht einmal stehen blieb. Die Menschen in der Nähe eilten zu ihr, und Lizas Instinkt als Medizinstudentin war, ebenfalls zu helfen.

Atto drückte ihre Hand. »Es wird kein Krankenwagen kommen, keine Behandlung im Krankenhaus. Diese Zeiten sind vorbei.«

Viele Menschen schienen f liehen zu wollen, wussten aber nicht, in welche Richtung – aus der Stadt heraus oder in die Keller ihrer Häuser? Sollten sie sich auf Boote in der Mitte des Flusses flüchten, weg von den Gebäuden, oder höher gelegenes Gelände aufsuchen? Ohne Orientierung und ohne jemanden, der sie anleitete, schienen sie nicht mehr zu wissen, wo ihr Platz in dieser Welt war und wo der Platz der Welt im Universum. Alles war jetzt möglich. Atto hatte sich wieder gesammelt und fragte: »Wo ist deine Familie?«

»Im Hotel.«

»Welchem?«

»Im Ritz.«

Er nickte. Einen Moment lang dachten sie über die Kluft zwischen ihnen nach, aber diese Dinge waren jetzt nicht mehr wichtig.

»Gehen wir sie suchen.«

»Solltest du nicht besser zu deiner Familie gehen?«

»Das kann ich später immer noch. Komm, bevor die Straßen unpassierbar werden.«

»Nur um ganz sicher zu sein … Bevor wir losgehen, darf ich dich fragen, was du da oben siehst?«

Atto blickte in den Himmel.

»Ich sehe Schiffe. Außerirdische Schiffe.«

»Es ist also wahr?«

»Ja, es ist wahr. Lass uns gehen.«

Händchen haltend eilten sie an einem Obdachlosen vorbei, der gerade Zigaretten aus einem Kiosk stahl. Kleinlicher Opportunismus, der so wenig mit dem Ausmaß ihrer tatsächlichen Notlage zu tun hatte, dass Liza beinahe lachen musste. Sie kamen an dem Starbucks vorbei, den Atto vorhin erwähnt hatte. Banner mit raffinierten Kaffeegetränken schmückten die Fassade, während die Angestellten mit ihren Schürzen draußen versammelt standen, als warteten sie darauf, dass ihr Chef sie rettete. Gleich daneben versuchte ein elegant gekleideter älterer Herr mit seidenem Halstuch und einem antiken Gehstock, von irgendjemandem eine Antwort auf seine Fragen zu bekommen, offensichtlich in der Annahme, dass er der Einzige war, den bisher niemand in das Geheimnis eingeweiht hatte, was hier vor sich ging.

Liza sah einen Mann, der auf dem Dach eines hohen Gebäudes stand, als wollte er einen besseren Blick auf die außerirdischen Schiffe erhaschen. Stattdessen musste sie mit ansehen, wie er über die Kante trat und sich in den Tod stürzte, nicht gewillt, in dieser neuen Welt zu leben. Bis zu diesem Zeitpunkt war Liza vollkommen ruhig geblieben, doch nun prasselte alles gleichzeitig auf sie ein. Sie geriet nicht in Panik oder dergleichen – sie konnte sich schlicht nicht mehr bewegen oder sonst wie handeln.

»Ich muss kurz anhalten.«

Atto blieb stehen und fragte sich, ob Liza sich gleich übergeben würde, während sie zusammengekrümmt zu Boden starrte, unfähig, die Ereignisse um sie herum zu verarbeiten. Als sie Attos Hand auf ihrem Rücken spürte, schärfte sie sich ein, tief durchzuatmen, und das Gefühl der Lähmung verschwand. Ihr Körper stellte sich auf die Angst und Verunsicherung ein. Liza richtete sich auf.

»Bist du wieder okay?«

Sie nickte und beobachtete über Attos Schulter hinweg, wie zwei Autos ineinanderkrachten.

Auf der Avenida da Liberdade, einer der angesagtesten Einkaufsmeilen der Stadt mit Luxusmarken wie Dior und Chanel, wurden sie von einer Menschenmenge aufgehalten, die mehrere Hundert Leute umfasste und von Minute zu Minute größer wurde. Atto musste schreien, als er die Menschen am Rand des Tumults über den Lärm hinweg fragte: »O que esta acontecendo ?«

Sie erzählten ihm, dass in der Mitte des Pulks zwei Polizisten standen, denen die Leute immer wieder genau die gleiche Frage stellten.

»Was passiert hier gerade?«

Liza verstand den Drang der Menschen, nach Bestätigung zu suchen. Sie selbst hatte vorhin das Gleiche getan, aber das hier war etwas anderes: Die Leute klammerten sich an tröstende Lügen, sprachen von einem Scherz, von einer Verschwörung, und von den Polizeibeamten als Vertretern der Staatsgewalt erwarteten sie nun Antworten.

Atto schüttelte den Kopf. »Sie wissen nichts.«

»Warum bist du da so sicher?«

»Hätte die Regierung gewusst, dass eine Alieninvasion bevorsteht, hätte sie die Dinge bestimmt nicht einfach weiterlaufen lassen. Die Flughäfen wären geschlossen worden, die Supermärkte ebenfalls …«

»Wir sollten nicht hierbleiben.«

Die Menge geriet zunehmend außer Kontrolle. Die ersten Rangeleien brachen aus, Tritte und Schläge, und die Gewalt verbreitete sich wie ein Virus, das durch die Luft übertragen wurde.

Da ein Weg durch das Gewühl ausgeschlossen war, nahmen sie eine Seitenstraße neben einem Louis-Vuitton-Geschäft, in dessen Schaufenster zehntausend Dollar teure Handtaschen kunstvoll wie Regentropfen arrangiert waren. Irgendwo ertönte eine Explosion, die erste, die sie hörten. Die Druckwelle zerschmetterte Fenster und ließ Alarmsirenen losheulen – die Geräusche des Krieges. Atto und Liza duckten sich hinter ein Auto, warteten, ob noch eine zweite folgen würde, während sie sich fragten, ob die Explosion von Menschen oder Außerirdischen verursacht worden war. Als sie keine weitere hörten, sagte Atto mit festem Blick: »Lass uns rennen.«

 

AVENIDA ENGENHEIRO

DUARTE PACHECO

Gleicher Tag

Das Ritz war ein modernistischer Betonklotz auf einer Hügelkuppe und ganz ohne den historischen Glanz der Hotels in Paris oder Budapest. Liza erinnerte sich, wie enttäuscht sie gewesen war, dass ihr letztes Hotel in Europa gleichzeitig das unattraktivste war. Diese Enttäuschung erschien ihr vollkommen unbedeutend, während sie mit Atto durch die Lobby eilte, vorbei an einem erlesenen Blumenarrangement, das möglicherweise auch das letzte seiner Art war, denn nun würde sich kaum jemand mehr die Mühe machen. Sie bahnten sich ihren Weg durch Hunderte von betuchten Gästen, die in Blazern von Brooks Brothers und Gucci-Espadrilles das Hotelpersonal ausfragten, das entweder bemerkenswert engagiert war oder die Ereignisse, die sich draußen abspielten, komplett leugnete. Jedenfalls kümmerten sie sich so gut wie möglich um die Sorgen der Gäste und trugen weiter ihre makellosen schwarzen Uniformen mit goldenen Reversabzeichen, als wäre die Alieninvasion eine Angelegenheit für den Concierge. Die Szene war so surreal, dass Liza allen zurufen wollte, dass die Zeit der Spas und des Zimmerservice, der Luxushotels und der frisch gebügelten Baumwollbettwäsche vorbei war. Diese Art zu leben gehörte jetzt der Vergangenheit an.

Emma sah Liza als Erste. Sie rief ihren Namen und rannte auf Liza zu, ihre Mutter folgte ihr dicht auf den Fersen, dann lagen sich alle drei in den Armen. Liza kämpfte mit den Tränen. Auf dem Weg hierher hatte es Momente gegeben, in denen sie nicht sicher war, ob sie ihre Familie je wiedersehen würde. Sie hielten sich immer noch an den Händen, als sie wieder voneinander abließen, und Liza fragte: »Wo ist Papa?«

»Er sucht dich.«

Ihre Mutter war zu klug, als dass sie ihm erlaubt hätte, das Hotel ohne einen Plan zu verlassen. »Er kommt um Mitternacht zurück, egal, ob er dich gefunden hat oder nicht.«

Erst jetzt wandte sich ihre Mutter an Atto und schenkte ihm zum ersten Mal ihre Aufmerksamkeit.

»Das ist Atto«, sagte Liza.

»Ich muss jetzt zu meiner Familie«, erklärte er. »Ich gebe euch allen einen Rat. Erwartet nicht, dass euch jemand hilft. Ich glaube nicht, dass die Lage sich beruhigen wird. Von jetzt an wird alles nur noch schwieriger werden, noch schlimmer. Auf Wiedersehen, Liza.«

Er küsste sie nicht auf die Wange, sondern auf die Lippen, und erst jetzt verstand Liza, wovon er auf dem Boot gesprochen hatte, was er von Anfang an gewusst hatte – diese Verbindung zwischen ihnen, die sich jeder rationalen Analyse oder Erklärung entzog, spürte sie nun ebenfalls. Und dann war er weg. Ihre Mutter überlegte, ob sie den gut aussehenden Fremden und den leidenschaftlichen Kuss kommentieren sollte, entschied aber, dass es Wichtigeres gab, um das sie sich jetzt kümmern mussten.

 

HOTEL RITZ

Rua Rodrigo da Fonseca 88

Nächster Tag

Als Lizas Vater um Mitternacht zurückkehrte, war die Familie zwar wiedervereint, aber die chaotischen Szenen vor dem Hotel hatten ihn derart erschüttert, dass er ihnen verbot, sich auch nur eine Sekunde voneinander zu trennen, während sie von Zimmer zu Zimmer gingen, um ihre Sachen zu holen.

»Wir bleiben zusammen, egal was passiert.«

Die Atmosphäre hatte sich von Grund auf gewandelt. Türen wurden zugeknallt, Gäste eilten mit den Armen voller Kleidung aus ihren Zimmern und stürzten auf den Flur, während ein paar wohlhabende Ruheständler sich weigerten, auch nur daran zu denken, das Hotel zu verlassen, und sich mit selbst gemixten Gin Martinis auf die Panoramaterrasse setzten, um von dort zu beobachten, wie die Stadt in Anarchie versank.

Für Lizas Eltern war der nächste Schritt klar: Sie mussten schleunigst zurück nach Hause, in die Vereinigten Staaten – was auch immer kommen mochte, sie würden sich dem zu Hause stellen. Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Rimowa-Aluminiumkoffer zu packen, die nur für glatte Böden geeignet waren, und ließen sie zusammen mit dem Großteil ihrer Habseligkeiten in ihrem Luxuszimmer im siebten Stock zurück. In ihren praktischsten Kleidern – Sneaker und Khakis – und jeder mit nur einem Rucksack, sammelten sie ihre Pässe und Bargeld ein und fragten sich gleichzeitig, ob diese Dinge überhaupt noch irgendeinen Wert hatten. Liza fiel auf, wie schnell sich ihre Mutter auf die Krise eingestellt hatte: Sie holte ihre Medikamente und leerte die Minibar, packte ihre Ledertasche voll mit Premium-Quellwasser von einem Gletscher in Norwegen und zehn Euro teuren Tütchen mit gesalzenen Cashewnüssen. Diese Dinge hatten immer noch einen Wert, zwar nicht den überteuerten, den das Hotel dafür verlangte, aber es waren Lebensmittel, die bald sehr knapp werden könnten. Wenn sie überleben wollten, mussten sie alles vergessen, was sie über die alte Welt zu wissen geglaubt hatten. Denn dies war eine neue Welt mit neuen Regeln. Liza hatte sich oft darüber beschwert, wie viel Zeit ihre Mutter in der Arbeit verbrachte, doch jetzt war sie voller Bewunderung, als sie sah, wie ruhig ihre Mutter unter Druck blieb.

»Wir stehen das durch«, erklärte sie, als hätte sie oder ihr Mann lediglich den Job verloren oder eine Affäre gehabt. Sie waren eine Familie, daran hatte sich nichts geändert und würde es auch nie, und daran klammerten sie sich. Es war das Einzige, dessen sie sich noch sicher sein konnten.

In der Hotelgarage gab es Streit um die Autos. Noch nicht allzu heftig, denn noch erinnerten sich die Leute an die Grundsätze von Recht und Ordnung, an Dinge wie die Polizei, an das Konzept von Privateigentum und die negativen Auswirkungen auf ihre Stellung in der Gesellschaft, wenn sie gegen diese Regeln verstießen. Sie schrien eher, statt zu schlagen oder zu treten, aber die Gewalt würde nicht lange auf sich warten lassen. Bald würden die Menschen akzeptieren, dass die alten Grundsätze nicht mehr galten und alles, was übrig blieb, ein Naturgesetz war: das Recht des Stärkeren, Gewaltanwendung ohne negative Konsequenzen. Natürlich war es absurd, dass sie in einer Stadt, in der man sich zu Fuß viel besser bewegen konnte, überhaupt ein Auto gemietet hatten. Doch Lizas Vater liebte das Fahren, und er hatte vorgehabt, die Weinberge außerhalb Lissabons zu besuchen. Nicht um ein paar Flaschen Wein zu kaufen – im Zuge seiner Reha hatte er dem Alkohol gänzlich abschwören müssen –, aber er wollte wenigstens ein bisschen probieren. Alle vier stiegen möglichst geräuschlos in den Wagen, dann fuhren sie langsam an den einst zivilisierten Hotelgästen vorbei, die nur wenige Stunden zuvor noch Wellness-Termine gebucht hatten. Der Leihwagen erregte sofort Aufmerksamkeit. Mehrere Gäste klopften an die Scheiben, fragten sich, wohin das Auto wohl fuhr, vor allem aber brauchten sie jemanden, der ihnen sagte, was sie nun tun sollten. Ein Mann hämmerte so heftig gegen die Scheibe, dass sie beinahe zersprang, und gestikulierte wild in Richtung seiner Frau und Kinder.

Liza fragte: »Warum nehmen wir sie nicht mit? Wir haben doch Platz.«

Ihr Vater schüttelte nur den Kopf. »Keine Passagiere. Wir fahren ohne Zwischenstopp direkt zum Flughafen.«

»Aber er hat Familie.«

»Wenn wir das hier überleben wollen, dürfen wir nicht anhalten, für niemanden.«

Der Mann stellte sich vor das Auto und zwang ihren Vater, um ihn herum zu beschleunigen. Er schrammte gegen die Leitplanke, Funken schlugen aus dem Kotflügel, und der Seitenspiegel riss ab. Liza drehte sich um, wollte dem Mann sagen, dass sie selbst kaum wussten, was sie in so einer Situation tun sollten. Ihre Flucht war ein Reflex, sie waren Ausländer in einem fremden Land und wollten nur noch zum Flughafen, denn zu Hause würden sie wieder wissen, was zu tun sei. Dort hätten die Dinge wieder einen geordneten Ablauf und sie selbst einen Platz darin, wie auch immer der aussehen mochte. Neben ihrer Familie schien ihnen ihr Heimatland das Einzige, was noch real war.

Sie schafften es bis zur Marques de Pombal, der Ringstraße in der Nähe des Hotels, bevor der Verkehr zum Stillstand kam. Die Straßen waren in jeder Richtung mit Fahrzeugen aller Art verstopft. Die Leute wollten raus aus Lissabon, wollten zur Autobahn, wollten zum Flughafen oder zum Hafen. Ein Massenexodus, wie Liza ihn noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Durch die schmalen Lücken zwischen den Fahrzeugen schlängelten sich Menschen mit Koffern, die so vollgestopft waren, dass sie schon bei der kleinsten Unebenheit der Straße aufsprangen und der Inhalt herausquoll: Schlafsäcke, Toilettenpapier, Wasserflaschen, Trockennahrung und Vitaminpillen. Andere hatten sich seit Beginn der Invasion kaum bewegt. Sie machten keinerlei Anstalten zu f liehen, stolperten mit verständnislosem Blick umher und starrten immer wieder mit kindlichem Staunen nach oben, wo Hubschrauber und Jets kreuz und quer über den Himmel jagten, während hoch über dem Tumult die fremde Armada in die Erdatmosphäre eintauchte.

Von Zeit zu Zeit erstrahlte das gesamte Firmament, als würde ein himmlischer Suchscheinwerfer von der Größe des Mondes die Stadt durchleuchten. Die Menschen hielten inne, während das grelle Licht in ihre Knochen drang, und warteten auf einen göttlichen Akt der Vergeltung, dass die Schwerkraft aussetzte oder alle Autos zu Staub zerfielen. Doch dann verschwand das Licht wieder, ohne einen erkennbaren Effekt gehabt zu haben – außer dass manche den Verstand verloren. Ein Mann stellte sich auf die Motorhaube seines Autos und sprach zu den vorbeiströmenden Menschen, als wären sie seine Jünger. Ein Obdachloser auf einer Parkbank lachte und lachte, unendlich amüsiert darüber, dass nun alle obdachlos waren.

Liza saß auf dem Rücksitz des Mietwagens, die Türen verriegelt, und beobachtete eine Auseinandersetzung zwischen zwei Männern, deren Gesten immer wilder wurden, bis einer der beiden weinend zusammenbrach. Er vergrub das Gesicht in den Händen und lief weinend zu seinem Auto zurück. Aus seiner Gesäßtasche lugte der Griff eines Küchenmessers. Er ließ den Motor an, fuhr auf den Bürgersteig und von dort in den Park, wo er beschleunigte. Als das Auto an ihnen vorbeiraste, sah Liza seine Frau auf dem Beifahrersitz und die Kinder auf der Rückbank. Der Mann fuhr mit einer Geschwindigkeit, die schon auf einer normalen Straße gefährlich gewesen wäre. In seinem Wahn weigerte er sich, auf das verzweifelte Flehen seiner Familie, das Tempo zu drosseln, zu reagieren, bis das Auto gegen eine von der Dunkelheit verborgene Parkbank krachte. Die Motorhaube sprang auf, und seine Frau wurde durch die Windschutzscheibe auf das vertrocknete Gras geschleudert, auf dem noch wenige Stunden zuvor fröhliche Kinder Ball gespielt und den langen Sommerabend genossen hatten. Der Fahrer kletterte mit Knochenbrüchen und blutverschmiertem Gesicht aus dem rauchenden Wrack und schrie um Hilfe, doch die Menschen wurden zunehmend immun gegen das Unglück anderer. Sie begriffen, dass es keine Hilfe mehr gab – von nun an waren alle auf sich allein gestellt.

»Dad, lass mich sehen, was ich tun kann.«

»Bleib im Auto!«

»Da sind Kinder auf dem Rücksitz.«

»Wir können ihnen nicht helfen!«

»Wir können nicht einfach nichts tun!«

»Keiner verlässt den Wagen!«

Lizas Eltern klammerten sich noch immer an die Vorstellung, dass dieses Auto ihnen irgendwie helfen konnte, dass es sie in Sicherheit oder an einen Ort bringen würde, an dem sie gerettet wurden. Aber dieser Stau würde sich nie mehr auf lösen, weder heute noch morgen. Höchstwahrscheinlich hatten die Autos hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Liza beugte sich nach vorn. »Wir kommen hier nicht weg, und das wird sich auch nicht ändern. Ihr wollt niemandem helfen, und das finde ich nicht richtig, aber so kommen wir genauso wenig weiter. Wir müssen das Auto stehen lassen.«

Ihre Eltern starrten weiterhin auf den Lkw vor ihnen, als ob der Verkehr jeden Moment weitergehen würde. Als könnten sie den Flughafen erreichen und mit Bordverpflegung und einem Film zur Unterhaltung nach Hause fliegen.

»Wenn wir jetzt aussteigen, bekommen wir das Auto nie wieder zurück.«

»Dieses Auto ist nutzlos! Der Verkehr bewegt sich keinen Millimeter!«

Ihre Schwester protestierte. »Aber … hier drin sind wir doch sicher.«

Liza drehte sich zu ihr um. »Ich weiß, dass es sich so anfühlt, aber das stimmt nicht. Wenn wir hier drinbleiben, werden wir sterben.«

Die Mutter sah ihre Töchter an. »Ich will dieses Wort nicht mehr hören. Niemand wird sterben. Wir werden das durchstehen. Wir bleiben zusammen, egal, was passiert.«

Als sie geendet hatte, fügte ihr Vater hinzu: »Wir werden Folgendes tun: Wir lassen das Auto stehen und verlassen die Stadt zu Fuß. Wir gehen aufs Land und warten dort die weitere Entwicklung ab.«

Ihre Mutter sagte: »Wenn wir aus dem Auto steigen, halten wir einander an den Händen fest. Wir lassen auf keinen Fall los, ist das klar? Sagt mir, dass ihr das verstanden habt. Wir lassen nicht los. Sagt es.«

»Wir lassen nicht los.«

Mit diesem Versprechen verließen sie den Wagen.

 

MARQUES DE POMBAL

Gleicher Tag

Liza hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Alle verließen ihre Häuser und strömten auf die altehrwürdigen Straßen, um sich in Sicherheit zu bringen, oder einfach nur, um die Außerirdischen am Himmel zu bestaunen. Menschen wurden ohnmächtig von all der panischen Anspannung, und wenn kein Freund oder Partner sie auffing, blieben sie einfach auf dem Asphalt liegen und standen nie wieder auf. Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, standen weinend da, aber noch bevor jemand sie nach ihrem Namen fragen konnte, waren sie schon verschwunden, mitgerissen von der Menge.

Als Liza aufblickte, sah sie, dass sich die Alienarmada nur noch wenige Tausend Meter über dem Boden befand. Die Schiffe waren so nah, dass sie die Oberfläche der Rümpfe erkennen konnte. Sie waren von silbrig glänzenden Schuppen bedeckt und sahen fast aus wie Fische, ihre Konstruktion hatte nichts mit menschengemachten Maschinen gemein, sie hatten weder Triebwerke noch Antennen, weder Flügel noch Waffen. Ihre Form war so schlicht, dass schwer zu begreifen war, wie sie fliegen konnten. Liza konnte keinerlei Hinweis darauf entdecken, wie sie sich so elegant bewegten, mehr Wolke als Maschine. Sie waren so atemberaubend in ihrer Form und so fremdartig in ihrer Eleganz, dass es schwerfiel, sich nicht von ihrer Pracht überwältigen zu lassen.

Mit ihrem Vater an der Spitze kletterten sie auf das Dach eines Taxis und versuchten, einen Weg aus dem Gedränge zu finden. Wie Schiffbrüchige in einem Meer aus Menschen suchten sie nach einer Rettungsmöglichkeit, während die Stadt, in der jeder Quadratzentimeter von Menschen, Haustieren und Besitztümern verstopft war, ringsum in einem noch nie da gewesenen Chaos versank. Da bemerkte Liza einen jungen Mann, der über die Dächer der Autos rannte und von Motorhaube zu Motorhaube hüpfte, als wären sie Sprungbretter. Es war Atto, der jetzt nicht mehr seine Pseudouniform trug, sondern eine olivgrüne Hose, leuchtend orange Sneaker und ein weißes T-Shirt. Obwohl Liza kein Grund einfiel, warum er nach ihr suchen sollte, hatte sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass er genau das tat. Er folgte der Autoschlange vom Hotel in ihre Richtung, doch Liza rief nicht nach ihm. Zum Teil, weil es keinen Sinn hatte, bei diesem Lärm zu schreien, aber vor allem, weil sie sicher war, dass er sie finden würde und dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab, die sie zwar nicht verstand, aber auch nicht mehr infrage stellte. Etwa fünfzig Meter entfernt hielt Atto an, um zu verschnaufen, und drehte sich in Lizas Richtung. Wie bei ihrer ersten Begegnung starrten sie sich einen Moment lang an. Trotz all des Chaos lächelte Atto und winkte schüchtern. Liza brach ihr Versprechen, ließ die Hand ihrer Mutter los und winkte zurück.

Mit beeindruckender Behändigkeit sprang Atto von Auto zu Auto, Windschutzscheiben splitterten unter seinen Füßen wie Eisplatten, bis er das Taxi erreichte, auf dem sie standen. Schweißgebadet holte er Luft und sprach zu Lizas Familie: »Der Flughafen ist geschlossen. Die Armee hat ihn besetzt und erschießt jeden, der sich nähert.«

Lizas Vater starrte ihn an. »Wer bist du?«

»Ich heiße Atto.«

Liza befreite ihren Vater aus seiner Verwirrung und sagte: »Du bist zurückgekommen.«

»Sieht ganz so aus.«

Dieser Mann, den sie erst heute kennengelernt hatte, hatte wider besseres Wissen sein Leben riskiert, um zu ihr zurückzukehren.

»Wir sind auf dem Weg aufs Land.«

»Aufs Land? Wozu?«

»Wir dachten, dort ist es sicherer als in der Stadt.«

»Habt ihr es nicht gehört?«

»Was gehört?«

Atto zögerte. »Wir werden ein Boot brauchen.«

 

PORTUGAL

Stadt Setúbal

Achtundvierzig Kilometer südlich von Lissabon

Gleicher Tag

Atto hätte nie gedacht, dass das Fischerboot seiner Familie – ein schlichter Kutter, gebaut für den Fang von Makrelen und Sardinen – eines Tages Menschen transportieren würde, noch dazu so viele. Das Steuerhaus am Heck war für eine sechsköpfige Besatzung ausgelegt, die Schlafkabine hatte vier schmale Etagenbetten, der Laderaum war für Fische gedacht und so glitschig vom Öl, dass man sich darin kaum auf den Beinen halten konnte, und doch befanden sich über sechshundert Menschen an Bord. Die Alten und Gebrechlichen drängten sich in den Etagenbetten zusammen, die etwas Rüstigeren kauerten im Laderaum, eingewickelt in Decken und mit Stofffetzen über Mund und Nase, um den Gestank abzuhalten, während die Kräftigsten an Deck den Elementen trotzten.

Nachdem sie sich einen Weg durch die Menschenmassen gebahnt hatten, verließen sie Lissabon auf der Ladefläche des Lastwagens von Attos Bruder. Fünfzig Freunde und Familienangehörige drängten sich dort zusammen und hatten Glück, dass der Bruder am Stadtrand wohnte, wo manche Straßen noch befahrbar waren. Immer wieder mussten sie Panzern und Mannschaftstransportern ausweichen, die auf dem Weg ins Stadtzentrum waren. Liza und ihre Familie waren die einzigen Ausländer in der Gruppe, in der sich alle kannten und ausschließlich Portugiesisch sprachen. Es gab nur ein Gesprächsthema: die Anweisungen der außerirdischen Invasionsmacht. Sie hatten die Kontrolle über alle Fernseher, Radios, Computer und Handys übernommen und sendeten in einer Endlosschleife immer wieder dieselbe Nachricht: Die Menschheit hatte dreißig Tage Zeit, sich auf den Kontinent Antarktika zu begeben. Was mit denjenigen passieren würde, die es nicht rechtzeitig schafften, blieb unklar. Es wurden keine Drohungen ausgesprochen und keine Konsequenzen genannt. Es grenzte an Magie, aber die Anweisungen wurden stets in der Muttersprache desjenigen gesprochen, der das Gerät in der Hand hielt, und waren mit Dokumentarbildern der Antarktis untermalt. Die Leute im Lastwagen debattierten und versuchten, sich einen Reim darauf zu machen.

»Kann man es in dreißig Tagen überhaupt bis dorthin schaffen?«

»Ja, aber es gibt nicht genug Flugzeuge und Boote für alle, nicht annähernd genug.«

 

Lesen Sie weiter in: Tom Rob Smith: Kälte • Roman • Aus dem Englischen von Michael Pfingstl • Wilhelm Heyne Verlag, München 2023 • 464 Seiten • Als Hardcover und E-Book erhältlich • Preis des HCs: 22,00 € im Shop

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