13. Mai 2022

Ein geheimnisvoller Planet

Eine Leseprobe aus John W. Campbells Meisterwerk „Der unglaubliche Planet“

Lesezeit: 16 min.

John W. Campbell (1910 – 1971) machte sich als Herausgebe der Zeitschrift Astounding um die Science-Fiction verdient wie kein Zweiter. Seit 1937 editierte er mehr als drei Jahrzehnte lang das Magazin, das heute Analog heißt, machte es zur größten und erfolgreichsten SF-Zeitschrift der Welt und wusste Talente wie Isaac Asimov, Robert Heinlein oder Arthur C. Clarke so zu fördern, dass sie zu den herausragendsten Schriftstellern des Genres werden konnten.

Der Autor Campbell stand stets im Schatten des Herausgebers – zu Unrecht. Erzählungen wie „Das Ding aus einer anderen Welt“ (1938), verfilmt von John Carpenter, und vor allem sein 1949 erschienener Roman „Der unglaubliche Planet“ (im Shop) gehören zu den bedeutendsten Leistungen der Science-Fiction der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Dieses Meisterwerk, das als eine der ersten Space Operas überhaupt gilt, liegt jetzt komplett überarbeitet wieder auf Deutsch vor.

***

Aarn Munro wurde auf dem Jupiter geboren. Dank der hohen Schwerkraft, in der er aufgewachsen ist, verfügt Aarn über schier übermenschliche Kräfte, ist schneller und stärker als jeder normale Mensch. Zusammen mit seinen Freunden Russ Spencer und Don Carlisle unternimmt er einen Testflug mit dem neuartigen Raumschiff Sunbeam. Doch etwas geht schief, und Aarn, Spencer und Don finden sich in einem ihnen unbekannten Teil der Galaxis wieder – und im größten Abenteuer ihres Lebens!

 

***

»Was für ein Stern ist es ?«, fragte Carlisle.

»Offen gestanden, ich weiß es nicht. Er schien eher unruhig als veränderlich, etwas ungleichförmig; aber das mag daran liegen, dass der Planet ihn auf einer sehr nahen Umlaufbahn umkreist und in der Strahlung des Zentralsterns heißrot glüht. Er wirkt wie eine zweite Sonne, ein sekundärer Strahler. Der Stern scheint vom Typ F0 und nicht auf dem Hauptzweig zu sein. Wahrscheinlich ist er mit Capella zu vergleichen.«

Die Sunbeam raste auf die Sonne zu und legte in jeder Sekunde einen Weg von Lichtwochen zurück. Trotz dieser unmessbaren Geschwindigkeit brauchten sie mehr als zwei Tage für den Flug. Am zweiten Tag sahen sie, wie sich das geisterhafte Bild der Sonne von einer verkrümmten Nadelspitze in eine verschwommene Scheibe verwandelte. Am äußeren Ende des Einflussbereichs der Schwerkraft dieser Sonne verlangsamten sie ihre Fahrt und glitten mehr und mehr in eine normale Geschwindigkeit. Sie hielten an und beobachteten das Sonnensystem aus geringerer Entfernung etwas sorgfältiger.

Sie sahen den seltsamen kleinen Planeten, der der sekundäre Strahler dieser neuen Sonne war. Er hatte knapp dreitausend Kilometer Umfang und umkreiste in weniger als fünfzehn Millionen Kilometer Entfernung die glühende blauweiße Sonne, die sie als Tarns kennenlernen sollten. Er wurde durch den ungeheuren Energiestrom erhitzt und schien ein wechselnder sekundärer Strahler zu sein, mit den Wirkungen, die Aarn beobachtet hatte. Im Ganzen waren elf Planeten vorhanden. Neun bewegten sich in einigermaßen normalen Bahnen. Der sechste, ein Riese mit einem Durchmesser von annähernd einer Viertelmillion Kilometern, erregte sofort ihre Aufmerksamkeit.

»Ein Ungeheuer«, sagte Aarn vergnügt und prüfte die Gravitationsfeldanalysen. »Und welche Laufbahn! Gravitationsfeld an der Oberfläche: 2,1-fache Erdbeschleunigung. Sein Feld erstreckt sich über fast eine Milliarde Kilometer, acht Monde – und der dort ist größer als Uranus! Ich wette, das ist ein richtiger Planet gewesen, der von dem großen Burschen dort gefangen wurde. Und seht euch nur mal den äußersten Satelliten hier an! Achttausend Kilometer Durchmesser – größer als Mars. Und seine Laufbahn umkreist keineswegs den großen Planeten! Er hat eine eigene! Da muss sich irgendetwas ereignet haben – und ich wette, dass ich auch weiß, was das gewesen ist! Etwas, was ausgesprochen selten vorkommt …«

Aarn verfiel in Schweigen und nahm neue Kontrollen an seinen seltsamen Schwerfeldsonden und den Impulswellenanalysatoren vor. Er untersuchte aufs Neue den verirrten Planeten, der sich jetzt durch eine Welt riesigen Ausmaßes drehte. Eilig las er die Ergebnisse seiner Messungen ab.

»Seine Bahnebene ist um hundertvierunddreißig Grad gegen die Ebene der anderen Planeten geneigt! Ein Wanderer, der gefangen wurde! Und ich möchte wetten, noch dazu im Lauf der letzten Jahrhunderte. Seht mal – er hat einen Durchmesser von über neunzigtausend Kilometern. Seine Laufbahn bildet eine extreme Ellipse, die beim entferntesten Punkt um fast zehn Milliarden Kilometer zurückweicht und sich dem großen Planeten dann wieder auf fünfzig Millionen Kilometer nähert! Dieser Planet war frei und kann nur zufällig in dieses System hineingekommen sein. Der Riese dort hat ihm mit seinem starken Schwerkraftfeld wohl etwas zugesetzt – so wurde er gefangen! Er hat das ganze Mondsystem in Unordnung gebracht, dann sogar den riesigen Planeten aus seiner Laufbahn herausgezogen und den Satelliten am äußeren Rande losgerissen. Dabei ist offenbar die Wanderung des Planeten zum Stillstand gebracht worden! Wahrscheinlich hatte der ursprünglich eine parabelförmige Bahn. Die Anziehungskraft war groß genug, sie in eine ellipsenförmige zu verlangsamen. Im Milchstraßensystem ist das einmalig, möchte ich behaupten. Wir steuern ihn an!«

Die Sunbeam schoss vorwärts und der geisterhafte fremde Planet wurde schnell größer. Aarn hielt in einer Entfernung von dreißig Millionen Kilometern an und untersuchte ihn wieder mit dem Teleskop. Klar und scharf erschien das Bild auf dem Schirm.

»Ich habe kaum Hoffnung, dass wir dort Leben finden werden«, bemerkte Aarn. »Der ist noch gar nicht aufgetaut – nein, tatsächlich nicht. Bei diesem großen Orbit würde es mich nicht wundern, wenn der Planet selbst eine lange Reise durch den Weltraum hinter sich hätte. Seht euch die Eishauben an – und diese Meere! Ich nehme an, dass sie ebenfalls gefroren sind. Das ganze Polargebiet reicht fast bis zum Äquator. Und dann diese seltsame Neigung der Achse! Fast siebzig Grad. Wollen wir landen?«

»Klar«, erwiderte Spencer. »Aber die Untersuchungen wirst du machen müssen!« Er zeigte auf das Gravitatometer. »Die Oberflächenschwerkraft beträgt 2,6 g.«

Aarn grinste. »Mach ich! Schwächlinge seid ihr, Erdbewohner! Erstaunliche Vorstellung, dass meine eigenen Eltern solche Typen waren!«

Aarn Munro, auf dem Jupiter geboren, streckte den Arm aus, der dicker und gedrungener war als Spencers Schenkel. Dieser Arm gehörte zu einer Schulter, die so kräftig und muskulös war, dass sich der kurze mächtige Hals fast darin verlor. Wie bei einer seltsamen menschlichen Schildkröte schien der Kopf aus einer Schale hervorzukommen. Er ballte die Faust, beugte den Arm und betrachtete das leichte Spiel der Muskeln und Sehnen.

»Ich verweichliche auch schon – das kommt vom Leben auf einem so leichten Planeten wie unserer Erde oder Magya.«

Von der Impulswelle getrieben, raste die Sunbeam wieder vorwärts. Wellen, die selbst Aarn Munro kaum verstand, Wellen im Pararaum, die von den Maschinen, die er erfunden hatte, erzeugt wurden, vermittelten durch Reaktionen auf die Struktur des Universums Impulse, die auf das Schiff wirkten. Sie trieben die Sunbeam mit unfassbarer Schnelligkeit vorwärts. Als das Gravitationsfeld des Planeten auf das Schiff traf, zeigten sich automatisch neue Transponstrahlen. Man verlangsamte die Fahrt auf hundert Kilometer. Schließlich hingen sie bewegungslos im Raum. Das Gravitationsfeld des Planeten wurde automatisch neutralisiert, während die innere, künstlich erzeugte Schwerkraft des Schiffes erdnormal gehalten wurde.

Und dann erspähte Aarn Myrya … das große Geheimnis. Er griff so fest nach Spencers Arm, dass

der Erdenmensch vor Schmerz aufschrie.

»Spence! Spence! Ruinen!«

Großartig und majestätisch lagen sie im Schein der blauweißen Sonne da. Schimmerndes Metall unter einer dünnen Schicht Asche. Große, breite Alleen mit den Trümmern langsam verfallender Ruinen. Ehrfurcht gebietend große Gebäude, wunderschön – aber die Dächer bröckelten ab. Eine Riesenstadt erstreckte sich kilometerlang an der Seite eines großen Berges und reichte vier Kilometer weit in ein Tal hinein.

»Menschen!«, sagte Carlisle atemlos.

»Wie … wie alt ist denn die Stadt?«, fragte Spencer benommen.

»Millionen und Abermillionen von Jahren!« Aarn machte eine plötzliche Bewegung und das Schiff schoss eilig auf die alte Stadt zu. Langsam sanken sie und landeten dann sanft auf dem halb verfallenen großen Platz – um ihn herum standen große Metalltürme mit steil himmelan steigenden Wänden, die mit großartigen wohlgeformten Fresken geschmückt waren. Die Straßen waren breit und mit einer Schicht bröckeligen schwarzen Materials gepflastert, das sich – als es mit dem Kraftfeld der Sunbeam in Berührung kam – unter ihnen lose bewegte. Das Schiff kam in dieser sehr feinen Staubschicht etwa einen halben Meter tief zum Stillstand.

Aarn stand auf und warf einen Blick aus der Luke. »Wie lange, o Herr, wie lange? Millionen von Jahren? Milliarden? Welches Volk hat hier gelebt, hier gekämpft? Hat die Stadt gebaut und ist dann, als der Planet seine jahrhundertelangen Wanderungen begann, gestorben?« Er überlegte und runzelte die Stirn. »Was ich allerdings nicht verstehen kann, ist die Staubschicht. Sie ist schwarz und sieht schmutzig aus. Das Pflaster scheint dazuzugehören. Aber woher kommt es? Offensichtlich hat es doch keine Verwitterung gegeben, woher stammt dann also dieser Staub?«

Carlisle hatte sich auf praktische Art beschäftigt. »Sauerstoffgehalt etwa vier Prozent, Luftdruck ungefähr sieben Atmosphären.«

»Großartig, gerade richtig«, nickte Aarn. »Gifte?«

»Keine einfachen, und ich möchte auch bezweifeln, dass zusammengesetzte vorhanden sind. Ich habe schon eine unserer wenigen übriggebliebenen Mäuse rausgesetzt, und … es geht ihr immer noch gut. Im ersten Augenblick ist sie allerdings beinahe eingegangen.«

»Hmmm, das ist der Luftdruck. Macht mir aber nichts aus – etwa die gleiche Atmosphäre wie auf dem Jupiter. Ich werde gleich mal rausgehen.«

Aarn traf schnell alle nötigen Vorbereitungen. Er legte eine Staubmaske an und trug ein kleines Gerät, das er erst kürzlich entwickelt hatte, einen Handaufzug, wie er es nannte. Es war die Miniaturausgabe eines Impulsantriebgerätes mit stromspeichernden Aggregatspulen. Man konnte es in der Hand tragen und durch Daumendruck betätigen. Das würde ihn ohne Probleme hochheben. Er konnte zwar nicht direkt fliegen, war aber in der Lage, sich damit senkrecht in die Höhe zu heben.

»Ich geh mit«, kündigte Spencer plötzlich an. »Schätzungsweise werde ich es eine kurze Zeit lang aushalten können.«

Aarn betrachtete ihn nachdenklich. »Das wird ein schweres Stück Arbeit.«

»Na, eine halbe Stunde werde ich es schon schaffen.«

In fünf Minuten waren sie fertig. Carlisle hatte sich entschlossen, in der Sunbeam zu bleiben; er hatte es einmal auf dem Jupiter versucht, und das hatte ihm gereicht. Vorsichtig ließen sie die neue Atmosphäre durch ihre Luftschleuse eindringen, um sich an den Druck zu gewöhnen.

»Schönes Gefühl«, grinste Aarn, als der Druck fühlbar wurde. Seine normalerweise tiefe Stimme klang jetzt schwer und dröhnend. Ein Frösteln lag in der eindringenden Luft, gemischt mit dem frischen, sauberen Duft wachsender Pflanzen. »Die grünen Dinger, die wir gesehen haben, müssen frische, wachsende Pflanzen sein«, bemerkte Aarn und holte tief Luft. »Riecht das gut … nach der Zeit in dieser alten Badewanne!«

Gespannt und entschlossen stieg Aarn aus. Bis zur sichtbaren Oberfläche war es ein Sprung von einem halben Meter Höhe. Da Aarn an der Festigkeit der Oberfläche zweifelte, ließ er sich mit dem Handaufzug hinab. In der neutralen Zone, in der die Schwerkraft durch die künstliche Schwerkraft der Sunbeam neutralisiert wurde, spürten sie ein etwas eigenartig Zerrendes. Dann waren sie unten und versanken bis zum Knöchel in dem dicken aufgehäuften Staub. Aarn streckte sich voller Wohlbehagen aus und sah mitleidig Spencer an, der sich erschöpft bemühte, aufrecht zu stehen. Minuten vergingen, bis der kleinere Mann seine die Erde gewohnten Muskeln einer Schwerkraft angepasst hatte, die ihm ein Gewicht von zweihundert Kilo verlieh.

Endlich gingen sie auf das nächste Gebäude zu. Aarn bewegte sich leicht und ohne jede Anstrengung. Es schien, als nähmen seine Füße die schnelle, ruckartige Bewegung eines trabenden Hundes an. Spencer stellte fest, dass er seine Füße mit etwas Anstrengung aus dem Staub herausheben konnte und es leichter war, schnell zu gehen, als mit den Füßen zu schlurfen. Schnell näherten sie sich dem nächsten der großen Gebäude und spähten durch den großen Bogen hinein. Hier war es kalt, sogar bitter kalt, und ein Strom eisiger Luft drang langsam nach außen. Im Sonnenlicht verwandelte er sich in einen kompakten, flockigen weißen Nebel. Aarn sah flüchtig nach oben. Die Luft war klar und wolkenlos, die große Sonne funkelte hoch oben mit glänzendem blauweißem Licht, der Himmel hatte eine tiefdunkle Farbe mit einem Ton Grün darin. Keinerlei Anzeichen von Staub oder Nebel lagen in der Luft, die einzigen sichtbaren Wolkenspuren rührten von den umliegenden Gebäuden her.

»Die sind noch nicht aufgetaut!«, sagte Aarn leise. »Diese Welt kann noch nicht länger als wenige

Jahre hier sein!«

»Jahre … Würde es denn Jahre dauern, um das alles aufzutauen?«

»Noch mehr. Es würde allein Jahre dauern, bis sich die enormen Luftmassen, die hier festgefroren sein müssen, erwärmen. Dazu kommt, dass diese übermäßig gefrorenen Felsen – und wahrscheinlich auch die Gebäude – eine Art von Isolierung besessen haben. Diese riesigen Bauten – immerhin bestehen sie aus Metall, sehen aus wie Wolkenkratzer und deuten damit auf eine hoch entwickelte Zivilisation hin – müssen Hitzeisolierungen besitzen.«

»Ich bin in allem deiner Meinung, mit Ausnahme deiner Deutung dieser Häuser. Sie sind doch nicht mehr als fünfzig Stockwerke hoch. Auch wenn das erstaunlich sein mag, die Gebäude in New York sind wesentlich höher.«

»Aber überleg mal, hier herrscht eine viel größere Schwerkraft. Hier entspricht die halbe Höhe mehr als dem Doppelten auf der Erde. Die Gebäude sind einfach schwerer.«

Aarn schritt durch den ungeheuren Bogen und trat in eine stattliche, düstere Halle ein. Riesige, elegant kannelierte und abgerundete Säulen strebten in das Halbdunkel empor und bildeten eine gewölbte und mit Bogen versehene Decke, die in dem aus wenigen zerbrochenen Fenstern eindringenden Licht allerdings kaum sichtbar war. Die Halle war mit einem Mosaik ausgelegt, das aus winzigen Stückchen farbiger Kacheln bestand, die irgendwann einmal zu einer polierten Oberfläche geschliffen worden waren. Jetzt war sie zu tiefen Furchen ausgetreten, über die viele Tausend Füße in zahllosen Jahrhunderten geschritten waren.

»Spence, das alles war schon jahrhundertealt, als es verlassen wurde.«

Aarn prüfte den Mosaikboden. Er stellte eine Landkarte dar, die riesengroße Karte eines Kontinents, wahrscheinlich des Kontinents, auf dem sie gelandet waren. Sie war großartig angelegt, und er konnte sehen, dass man nicht einfache Kachelstückchen verwendet hatte, sondern vielmehr kleine Stäbchen, die nebeneinandergelegt worden waren, um ein bestimmtes Muster zu bilden. Obwohl der Boden jetzt tief abgetreten war, war das Muster noch gut zu sehen. Seit dem Tag vor undenklichen Zeiten, an dem die Karte angelegt worden war, hatte man sie nicht verändert. Ein Dutzend Städte waren in dem Teilstück deutlich zu erkennen, das sie vom Eingang aus sehen konnten – eine der Städte jedoch, die offenbar im Herzen der Berge lag, war nicht in Kacheln ausgelegt, sondern auf die Oberfläche des Mosaiks gezeichnet worden, und ein leuchtend roter Kreis umgab sie. Verschiedene Symbole und Buchstaben waren unterhalb des Kreises angebracht und ein Pfeil deutete auf ihn.

»Ihre letzte Zuflucht?«, fragte Spencer leise.

»Zweifellos. Dorthin werden wir gehen müssen. Ich habe Angst, hier zu viele Untersuchungen anzustellen. Ich weiß nicht, wodurch diese Gebäude zerstört worden sind. Gewisse Dinge weisen auf ein Erdbeben hin – oder eher ein Planetenbeben. Aber das erklärt noch nicht den Staub und die zerfallenen Dächer der Gebäude. Hast du bemerkt, dass die unteren dreißig Meter nicht wesentlich beschädigt wurden, während der obere Teil stark angefressen ist, vielleicht von irgendeiner scharfen Säure? Es muss etwas gewesen sein, das aktiv war, während sich der Planet frei im Weltraum bewegt hat. Die gefrorene Atmosphäre hat den unteren Teil geschützt. Bestimmt waren das keine Meteore. Aber was dann?«

»Kosmische Strahlen?«

»Hm, vielleicht. Aber ich glaube nicht. Kosmische Strahlen wirken auf zirka ein Atom pro Kubikzentimeter Normalluft in der Sekunde. Wie viele Sekunden müsste es dann dauern, bis irgendein Material merklich beeinflusst würde? Dieser Planet wäre dann älter als die Sterne. Ich weiß es einfach nicht.«

Spencer schaute flüchtig auf die im Dunkeln liegende Decke. »Lass uns hier lieber abhauen! Diese tote Stadt ist mir jetzt schon unheimlich, und ich hab Angst, dass noch irgendwas auf uns runterfällt.«

»Da könntest du recht haben. Trotzdem, ich möchte die Stadt unbedingt erkunden.« Aarn zeigte auf den roten Kreis auf der Landkarte. »Ich könnte mir denken, dass das hochinteressant ist. Die Tatsache, dass die Stadt aufgemalt und nicht ausgelegt ist, deutet doch darauf hin, dass sie neu ist und in Eile erbaut wurde. Im Bewusstsein der herannahenden Gefahr müssen sie sich dorthin zurückgezogen haben. Warum sie das so angedeutet haben, weiß ich natürlich nicht. Möglicherweise sollte es ein Wegweiser sein für die Raumfahrer, die irgendwann in der Zukunft einmal auf sie treffen würden. Vielleicht haben sie auch Berichte hinterlassen, die leichter zu deuten sind. Gehen wir?«

Zehn Minuten später dekomprimierten sie die Sunbeam und eine Stunde danach flogen sie weiter auf der Suche nach jener anderen Stadt. Aarns sorgfältig abgezeichnete Karte half ihnen dabei. Sie kreuzten langsam, waren sie sich doch über die Richtung und die Entfernungen nicht genau im Klaren. Schließlich machten sie die große Bergkette ausfindig und dann die Stadt.

Wie festgeschmiedet saß Aarn für dreißig lange Sekunden an seinen Steuerkonsolen. Männer arbeiteten dort unten, Gruppen von Männern, die viel zu tun hatten. Maschinen schleppten Materialien. Die Stadt war lebendig!

»Meine Güte!«, flüsterte er schließlich. »Sie leben!«

»Das … Das ist doch unmöglich! Die da unten müssen von irgendeinem anderen Planeten gekommen sein.«

Die Sunbeam sank. Unter sich bemerkten sie ein plötzliches Rennen. Ein halbes Dutzend Düsenflugzeuge mit kurzen dicken Tragflächen hob sich graziös in die Luft. Sie kamen der Sunbeam zwar näher, wurden dann aber durch den das Schiff umgebenden magnetischen Schutz von ihrem Kurs abgelenkt. Dann wendeten sie, hielten mit dem Schiff Schritt und landeten schließlich auf einem breiten offenen Raum am Rande der Stadt.

Die Stadt selbst lag eingebettet in einer großen Spalte der Bergkette, in einem Tal, etwas über einen Kilometer tief. Und an jedem Ende erhob sich ein titanenhaftes Gebäude aus Metall und Beton, eines ungefähr achthundert Meter hoch. Ein ungeheurer Damm schloss sie in einer großen, vier Kilometer langen und einen Kilometer breiten Mulde ein, die eine Tiefe von fünfhundert Metern hatte. Das Rollfeld lag nahe dem Fuß des einen dieser unglaublich großen Dämme.

»Wie steht’s da mit deiner Ingenieurkunst, Spence?«, fragte Aarn respektvoll. »Jeweils tausend Pfund werden hier zu einer Tonne und noch mehr.«

»Unfassbar. Wollen wir landen?«

»Ich hab den Eindruck, dass sie uns freundlich gesinnt sind.« Die Sunbeam ließ sich plötzlich und leicht herab und landete neben einem der Flugzeuge.

So trafen die Menschen zum ersten Mal die Myryaner. Sie waren klein und so muskulös wie Aarn, mit breiten und offenen Gesichtern und einer tiefbronzefarbenen Haut, glatt und ohne Haare. Eine Mähne aus goldrotem Haar umgab seidig und kurz die Köpfe. Ihre Ohren waren gewölbt und beweglich, die gesamte Körperstruktur wirkte schwer, aber sonst machten sie einen menschlichen – und schönen – Eindruck. Jetzt zeigte sich ein Ausdruck neugierig-überraschten Interesses auf ihren Gesichtern. Sie schienen von höchster Intelligenz. Das Auffallendste war ein Ausdruck tiefen inneren Friedens und gelassenen Glücks.

»Seid willkommen, die ihr aus dem Nichts kommt«, sagte ein Etwas ganz deutlich in Aarns Bewusstsein, während ein Mann draußen seine Aufmerksamkeit auf sich zog. »Wollt ihr zu uns herauskommen?«

»Was ?« Aarn war mehr als überrascht. »Spence, das ist Telepathie!«

Innerhalb einer Sekunde war Aarn aufgestanden und rannte auf die Schleuse zu. Er war schon drin und leitete den Druckausgleich ein, ehe Spencer dahin gelangte, sodass er warten musste, bis Aarn ausstieg.

Aarn sprang auf den Boden und landete sanft neben dem Schiff. Gleich darauf schritt er auf den Fremden zu und streckte ihm seine Hand entgegen, wobei ein Lächeln erstaunter Freude auf seinem Gesicht lag. »Ihr lebt ja!«, rief er.

Der andere lächelte breit, und irgendwie vermittelte er den Eindruck, als warte er auf etwas. Eine Menge anderer Männer kamen auf sie zu, nahezu zweihundert. Dann fuhr ein niedriger, breiter und gewaltiger Wagen vor und hielt neben ihnen an. Zwei Männer stiegen aus. Der eine trug ein einfaches blütenweißes Gewand, ebenso weiß wie die Mähne seidigen Haares, die seinen Kopf und Hals bedeckte; der andere, in einem golddurchwirkten Gewand, war wie der Mann gekleidet, den Aarn zuerst gesehen hatte.

»Willkommen ihr, die ihr aus dem Nichts kommt!«, grüßte er, als er sich ihnen näherte. Der erste Mann war jetzt, immer noch lächelnd, zurückgetreten. »Kommt ihr von einem der Planeten unseres Systems? Mit unseren Teleskopen konnten wir keinerlei Hinweise auf Bewohner feststellen.«

»Wir kommen von … irgendwo. Wir haben uns im Weltraum zwischen den Sternen verirrt. Aber ihr – ihr lebt! Das ist unglaublich!«

»Weltraum zwischen den Sternen – zwischen den Sonnen? Dann kommt ihr von einer weit entfernten Sonne. Aber das kann ja nicht sein!«

»Es ist aber so. Und ihr – dass ihr lebt! Wie, im Namen des Ewigen Geistes, habt ihr das fertiggebracht?«

»Einige von uns haben überlebt«, antwortete der Myryaner langsam. Im Geist sah Aarn lange Reihen von weiß gekleideten Gestalten vor sich, die leblos schienen, Reihe neben Reihe in einem unterirdischen Gemach, das in einen Fels hineingesprengt war und durch einige glühende Röhren erhellt wurde. »Ihr habt vollbracht, was wir vergeblich versucht haben. Hätten wir es geschafft, hätten wir alle leben können. Leben und sterben. Vorbei.«

Aarn konnte diese Zeitvorstellung nicht verstehen. Er begriff nur, dass sie über alles Maß hinaus … ungeheuerlich war. »Seid ihr schneller als das Licht gereist ?«

»Ja, in einem gewissen Sinn.«

Aarn begann wieder zu denken, nachdem sich das Chaos seiner Gedanken zu ordnen begann. »Wie eine Welt rund ist wie eine Kugel, so ist auch aller Weltraum rund in der vierten Dimension. Die Kugel des Raums schwebt in einem größeren Pararaum. Wenn wir reisen, begeben wir uns in den Pararaum und an einem anderen Punkt wieder zurück in den vierdimensionalen Raum. Das ist keine Bewegung und es ist auch keine Geschwindigkeit. Es bedeutet auch nicht, schneller zu reisen als das Licht. Es ist einfach eine Entrückung. Wir verschwinden, wir hören auf, in diesem Raum zu existieren, und treten anderswo wieder in Erscheinung.«

»Deine Gedanken sagen mir nichts. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Wir sind wieder sicher – wir haben eine Sonne. Von ihr werden wir nicht so bald weggerissen werden.«

Spencer rief von der Sunbeam: »Aarn, hilf mir! Ich möchte auch … mitreden.«

Die Myryaner schauten neugierig auf die schlanke Gestalt in der Tür, einen Meter hoch über dem Boden, die jetzt offenbar Angst vor dem Sprung hatte. Aarn ging zu ihm und hob ihn schnell herunter. Zusammen kehrten sie zurück.

»Wir kommen aus verschiedenen Welten des gleichen Sonnensystems«, erklärte Aarn. »Dieser Mann hier stammt von der Mutter Erde und ich von der größeren, schwereren Kolonialwelt. Mein Planet ist so groß wie eurer, seiner dagegen ist wesentlich kleiner.«

»So bist du Aarn ?«, fragte der Weißhaarige. »Ich bin Karshan, von Myrya.«

»Ich bin Aarn, vom Jupiter. Das hier ist Spencer, von der Erde.« Aarns Gedanken kehrten immer wieder zu dem Geheimnis zurück, das ihn am meisten beschäftigte. »Aber wie konntet ihr denn überleben?«

»Wir haben nicht gelebt. Wir sind gestorben und wurden wieder lebendig.«

 

Lesen Sie weiter in: John W. Campbell: Der unglaubliche Planet • Roman • Aus dem Amerikanischen von Otto Schrag • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • 608 Seiten • Erhältlich als Taschenbuch und eBook • Preis des Taschenbuchs: € 12,00 • im Shop

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