12. Oktober 2022 3 Likes

Gastbeitrag von Ken Liu: „Das Zeitalter der Geschichten“

Haben wir im Anthropozän die Kontrolle über das Narrativ verloren?

Lesezeit: 6 min.

Ken Liu, preisgekrönter Meister der modernen SF-Kurzgeschichte und des epischen Fantasy-Romans, betrachtet in seinem Essay die Beziehung zwischen unserer Geschichte und unseren Geschichten, die weit zurückreicht und zugleich unsere Zukunft definiert.

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Ken Liu. Foto © Lisa Tang Liu

History und Story also die Geschichtsschreibung und die erfundene Geschichtewurden beide mehr oder weniger aus der gleichen altfranzösischen Quelle ins Mittelenglische importiert, und die Abtrennung zwischen ihnen war schon immer sehr durchlässig. So bezeichnet John Trevisa in seiner Übersetzung von Higdens Polychronicon aus dem Jahr 1387 Herodot als „þe writer of stories“ („dieser Schreiber von Geschichten“, oder auch „dieser Geschichtsschreiber“), und John Gower schreibt in Confessio Amantis (etwa zur selben Zeit verfasst) von „an old histoire, / The which comth nou to mi memoire“ („eine alte Geschichte, die mir ins Gedächtnis kommt“). Die Trennlinie ist auch heute noch unbeständig, was sich in der unsicheren Verwendung des Begriffs „Story“ für journalistische Texte zeigt: für den vermeintlich ersten Entwurf der Geschichtsschreibung, aber auch für Berichte, die unterhalten und lehren sollen.

Bevor History und Story neu in die Sprache aufgenommen wurden, gab es im Altenglischen Spell, was einfach eine Geschichte, eine Erzählung bezeichnete. Beowulfs Abenteuer wurden kunstvoll mit geflochtenen Worten („and artfully added an excellent tale“) rezitiert: „Ond on sped wrecan spel gerade, wordum wrixlan“. Und die Taten und Lehren von Jesus gab man in Good Spells beziehungsweise Gospels („Evangelien“) wieder. Als Story schließlich Spell aus diesem Sprachgebrauch verdrängte, erhielt Spell selbst die Bedeutung „magische Beschwörungsformel“, eine Reihe von fantastischen Worten, die die Realität formen können.

History, Story, Spell – in dieser etymologischen Aufzeichnung steckt eine Fabel über die Beziehung zwischen dem menschlichen Geist und dem Kosmos. So sehr uns das erkenntnistheoretische Durcheinander auch missfällt, so sind – und waren – Fakten nie perfekt von Fiktion zu unterscheiden. Im Fall unserer Spezies wird die Interpretation nicht so sehr auf die Realität angewandt, sondern ist sie viel mehr mit ihr verbunden. Zeit und Raum mögen aus nichts anderem bestehen als aus einem bedeutungslosen Zufallsereignis nach dem anderen, aber wir können dem Universum nur durch den Filter von intelligent angelegten Plots, befriedigenden Charakterentwicklungen und verständlichen Narrativen einen Sinn geben. Aus der Fantasie geborene Geschichten erschaffen auf diese Weise am Ende die Welt neu.

Die Neurowissenschaft lehrt uns, dass unsere Erinnerungen und Wahrnehmungen nicht mit digitalen Foto-Rohdaten vergleichbar sind, bei denen eine Matrix von Sensoren leidenschaftslos jedes bisschen Licht in einem Moment aufzeichnet, sondern eher mit den sensationslüsternen Berichten, die von parteiischen Schreiberlingen verfasst werden, bei denen sich die Geschichte nicht so sehr aus den Fakten ergibt, sondern diese Geschichte vielmehr bestimmt, welche Fakten überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Unser Verstand verwirft Dinge, die nicht in die gewählte Erzählung passen; überzeichnet Elemente, die die Geschichte bestätigen, an die wir bereits glauben; erfindet aus dem Nichts plötzlich Details, die es nicht gibt, aber geben sollte; und mit jeder Wiederholung wird unsere Erinnerung neu erzählt, neu gesponnen, neu gewebt. Vielleicht hat diese narrative Veranlagung in unserer Wahrnehmung einen evolutionären Vorteil, vielleicht auch nicht – aber alle Erklärungen in diese Richtung wären einfach nur mehr solcher Geschichten.

Doch tun Sie das Narrativ nicht als Lüge und Fälschung ab, als Verfälschung der „objektiven“ Chronik und Aufzeichnung, als reine Fantasie. Getreu der neueren Bedeutung des Begriffs Spell sagen unsere Geschichten der Welt, wie sie sein soll.

Aus bloßen Geschichten konstruieren wir unsere Identität, sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Jeder von uns ist wie ein Held aus den alten Epen: Wir werden in Unwissenheit geboren, wie Adam oder Gilgamesch, ohne Namen und Geschichten, mit einem leeren Verstand; dann führen uns Götter und Dämonen in Form unserer Eltern und Lehrer durch das schilfbewachsene Ufer und tragen uns über das stürmische Meer und schenken uns unsere ersten Erinnerungen. Diese ersten Geschichten, unser persönlicher Mythos, prägen uns. Die Art und Weise, wie wir geliebt wurden, bestimmt, wie wir lieben; die Art und Weise, wie wir verletzt wurden, bestimmt, wie wir Schmerz betrachten. Schicht für Schicht, Geschichte für Geschichte, bauen wir unser Selbst aus den Narben und Schwielen auf, die von Mentoren, Freunden, Liebhabern und Monstern hinterlassen wurden, denen wir im Laufe unserer Odyssee, auf unserer Reise gen Westen, begegnet sind; und später, wenn wir uns auf halbem Weg durch den dunklen Wald befinden – wenn uns die eigene Sterblichkeit schließlich bewusst wird –, erkennen wir, dass auch wir für diejenigen, die nach uns kommen, zu übergroßen Figuren geworden sind, als Helden und Schurken in ihre Geschichten aufgenommen werden. Wir erzählen uns selbst ins Sein, füllen unsere Seele mit einem gehorteten Schatz an Geschichten und finden letztlich Trost in unserem Zaubermantel, während wir alt werden.

Bei Familien, Clans, Stämmen, Städten, Staaten, Nationen und Glaubensgemeinschaften ist das nicht anders. Wir gaukeln uns vor, dass ein Volk durch Blut, Sprache und Land definiert wird – aber letztlich ist das Einzige, was ein Volk erschafft oder eint, eine Geschichte, eine grundlegende Mythologie, die von Generation zu Generation neu erzählt und erneuert, umgeschrieben und neu besetzt wird, ein fortwährender Prozess der Bestimmung, wer wir sind und wie wir uns von allen anderen Völkern in Zeit und Raum unterscheiden. Wir könnten Durant sogar ein wenig verdrehen und sagen, dass eine große Zivilisation erst dann von außen erobert ist, wenn die Menschen den Glauben an ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Geschichten verloren haben.

Wir leben durch Geschichten, und für Geschichten sterben wir. Geschichten haben Imperien zu Fall gebracht, Versklavte befreit und Eroberer vertrieben. Aber sie besitzen auch eine unheilvolle Macht, die mit der Zeit immer deutlicher wird, da sie immer größer und vereinnahmender werden. Diejenigen, die an eine Geschichte glauben, beginnen auch zu glauben, dass alle anderen an dieselbe Geschichte glauben müssen, dass die Eine Wahre Geschichte selbstverständlich ist – die Wahrheit, die anderen gelehrt, zu der andere bekehrt und zu deren Annahme andere irgendwann mit vorgehaltenem Degen gezwungen werden müssen. (Ironischerweise ist es oft eine Form der „Freiheit“, die die Fanatiker anderen aufzwingen wollen.) Deus lo vult, Manifest Destiny, die Bürde des weißen Mannes, das Streben nach Glück, die Diktatur des Proletariats … Geschichten, ob schön oder verachtenswert, haben Länder verwüstet, Millionen abgeschlachtet, haben Blutlinien, Erinnerungen, Sprachen und Pantheons ausgelöscht. Geschichten haben Meere ausgetrocknet und Polkappen geschmolzen, die Luft verpestet und Löcher in den Himmel gestanzt. Geschichten haben tausend Kriegsschiffe auslaufen und könnten noch tausend Atomraketen starten lassen. Der Planet ist auf Gedeih und Verderb unserer Geschichtsschreibung, unserer Geschichten, unseren Zaubersprüchen ausgeliefert.

Während die Spannungen in der Welt zunehmen und Extremismus und Verschwörungsmythen sich wuchernd ausbreiten, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir die Kontrolle über unser Narrativ verloren haben und im Storybogen der Geschichte gefangen sind – während unsere Fähigkeit, Tod und Zerstörung über alle zu bringen, um unsere Geschichten zu verwirklichen, just einen apokalyptischen Höhepunkt erreicht hat. Aber wir sind eine aus Geschichten geborene, von Geschichten verzauberte Spezies, und es gibt keinen anderen Ausweg aus unserer Hölle, außer mehr Geschichten.

Als Trost kann ich lediglich anbieten, dass das Buch, das aufgeschlagen vor uns liegt, noch leere Seiten zu haben scheint und das nächste Kapitel erst noch geschrieben werden muss. Möge es uns allen gelingen, die Geschichte erzählen zu können, die wir erzählen wollen.

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Ken Liu (im Shop) ist ein vielfach ausgezeichneter Autor von Science-Fiction-Erzählungen und Fantasy-Romanen. Doch er arbeitete auch schon als Anwalt, Programmierer, Futurologe, Redner, Übersetzer und Herausgeber. Im Heyne-Verlag ist die von ihm zusammengestellte SF-Anthologie „Zerbrochene Sterne“ mit chinesischer SF erschienen. Zudem übertrug er Cixin Lius Roman „Die drei Sonnen“ aus dem Chinesischen ins Englische und half so dabei, ihn zu einem internationalen Phänomen zu machen. Selbst verfasste Ken Liu bereits Bücher wie die Storysammlung „The Paper Menagerie and Other Stories“ und die Seidenkrieger-Romanserie um „Die Schwerter von Dara“. Seine Geschichten wurden von Netflix für „Death Love + Robots“ und von AMC als „Pantheon“ in animierter Form adaptiert. Ken Liu lebt in der Nähe von Boston, Massachusetts. Hier findet sich ein Interview mit ihm.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in „Orion“ (orionmagazine.org)

Copyright © Ken Liu, 2022

Übersetzung: Christian Endres, mit Dank an Matita Leng

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