25. Mai 2020

Fragmente einer Hologramm-Rose

Unsere exklusive Gratis-Kurzgeschichte zu Pfingsten

Lesezeit: 10 min.

Derzeit schlafen sicher einige von uns eher unruhig. Kein Wunder, so mitten in einer Pandemie. Da wünscht man sich doch fast ein ASP-Gerät wie aus William Gibsons Erzählung „Fragmente einer Hologramm-Rose“, das dem Schläfer fremde Sinneseindrücke direkt ins Gehirn projiziert. Parker, der Protagonist dieser Erzählung, leidet an Schlafproblemen, seit seine Freundin Angela ihn verlassen hat. Alles, was ihm von ihr geblieben ist, sind eine Hologramm-Postkarte mit einer Rose drauf und eine ASP-Kassette von ihr. Soll er es wagen, mittels der Apparent Sensory Perception in ihren Körper einzutauchen, während er schläft?

 

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WILLIAM GIBSON

FRAGMENTE EINER HOLOGRAMM-ROSE

 

Parker schlief nicht gut in jenem Sommer. Wegen der Stromknappheit setzte der Delta-Inducer mehrmals abrupt aus, so dass er jäh und schmerzhaft wieder erwachte. Um das zu verhindern, koppelte er den Inducer mit Verbindungskabeln, winzigen Krokodilklemmen und schwarzem Isolierband an ein batteriebetriebenes ASP-Deck. Nun würde ein Stromausfall im Inducer die Playback-Schaltung des Decks aktivieren.

Er kaufte eine ASP-Kassette, die damit anfing, dass der Proband an einem ruhigen Strand schlummerte. Sie war von einem jungen blonden Yogi mit außergewöhnlich exaktem Farbempfinden in einer dem menschlichen Gesichtsfeld entsprechenden Optik aufgenommen worden. Der Junge war nach Barbados geflogen worden, um auf einem herrlichen Privatstrand ein Nickerchen und seine anschließende Morgenübung zu machen. Das Mikrofiche-Laminat im transparenten Kassettengehäuse behauptete, der Yogi könne sich kraft seines Willens ohne Inducer von Alpha nach Delta bewegen. Parker, der seit zwei Jahren ohne Inducer nicht mehr einschlafen konnte, fragte sich, ob so etwas möglich war.

Er hatte es erst einmal geschafft, das Ding komplett mitzuerleben, obwohl er mittlerweile jede Empfindung der ersten fünf subjektiven Minuten kannte. Die interessanteste Stelle war für ihn ein kleiner Schnittfehler am Beginn der komplizierten Atemübung: ein kurzer Blick über den weißen Strand zu einem Wachposten, der an einem Maschendrahtzaun patrouillierte und eine schwarze Maschinenpistole umgehängt hatte.

Als Parker schlief, wurde der Strom im städtischen Netz reduziert.

Der Übergang von Delta zu Delta-ASP war eine dunkle Implosion in fremdes Fleisch. Vertraute Eindrücke dämpften den Schock. Er spürte den kühlen Sand unter den Schultern. Die Hosenbeine seiner ausgebeulten Jeans flatterten im Morgenwind gegen seine bloßen Knöchel. Bald würde der Junge ganz erwachen und mit seinem Ardha-Matsyendra-Blabla beginnen; mit anderen Händen tastete Parker im Dunkeln nach dem ASP-Deck.

 

Drei Uhr früh.

Du machst dir im Dunkeln eine Tasse Kaffee, gießt im Licht einer Taschenlampe das heiße Wasser auf.

Der aufgezeichnete Morgentraum verblasst: durch fremde Augen der dunkle Kondensstreifen eines kubanischen Frachters, der zusammen mit dem Horizont verblasst, vor dem er über den grauen geistigen Monitor fährt.

Drei Uhr früh. Das Gestern umstellt dich mit flachen, schematischen Bildern. Lass es geschehen. Was du gesagt hast – was sie gesagt hat – wie sie packt – sich eine Rikscha ruft. Wie du die Bilder auch anordnest, sie bilden stets den gleichen gedruckten Schaltkreis, Hieroglyphen, die auf einen zentralen Bestandteil zusteuern: du im Regen, den Fahrer anschreiend.

Der Regen war sauer und ätzend, fast pissgelb. Der Fahrer hat dich als Arschloch beschimpft; trotzdem musstest du den doppelten Fahrpreis bezahlen. Sie hatte drei Gepäckstücke. Mit seiner Atemmaske und der Schutzbrille sah der Mann wie eine Ameise aus. Er strampelte in den Regen davon. Sie schaute nicht zurück.

Das letzte Bild von ihr: eine Riesenameise, die dir den hochgereckten Mittelfinger zeigte.

 

Das erste ASP-Gerät seines Lebens hatte Parker in Judy’s Jungle gesehen, einer schäbigen texanischen Barackenstadt. Es war eine massive Konsole mit einem billigen chromfarbenen Kunststoffgehäuse. Wenn man eine 10-Dollar-Note in den Schlitz steckte, bekam man fünf Minuten Freifall-Gymnastik in einem Schweizer Orbitalferienort, wo man mit einem sechzehnjährigen Vogue-Model auf dem Trampolin zwanzig Meter weite Perihelien sprang – so was haute rein in Judy’s Jungle, wo eine Pistole leichter zu haben war als ein heißes Bad.

Ein Jahr später war er mit gefälschten Papieren in New York, als zwei Marktführer die ersten tragbaren Decks rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft in die größeren Kaufhäuser brachten. Die ASP-Pornokinos, die in Kalifornien für kurze Zeit wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, erholten sich nie wieder von diesem Schlag.

Auch die Holographie verschwand, und die Fuller-Kuppeln, die ganze Blocks einnehmenden Holotempel aus Parkers Kindheit, verwandelten sich in vielgeschossige Supermärkte oder nahmen staubige Spielhallen auf, in denen man nach wie vor die alten Konsolen fand, über denen ausgebleichte Neonreklame APPARENT SENSORY PERCEPTION – täuschend echte Sinneswahrnehmung – in den blauen Zigarettendunst blinkte.

Jetzt ist Parker dreißig und schreibt ASP-Szenarien, mit denen er die Augenbewegungen der menschlichen Kameras programmiert.

 

Die Stromknappheit dauert an.

Im Schlafzimmer klopft Parker auf die gebürstete Alufront seines Sendai Sleep-Master. Das Kontrolllämpchen flackert und erlischt schließlich. Mit dem Kaffee in der Hand geht er über den Teppich zum Wandschrank, den sie tags zuvor leer geräumt hat. Der Taschenlampenstrahl sucht auf den leeren Regalböden nach Zeichen ihrer Liebe und bringt das gerissene Band einer Ledersandale, eine ASP-Kassette und eine Postkarte zum Vorschein. Auf der Postkarte ist ein billiges Hologramm einer Rose.

An der Küchenspüle wirft er das Sandalenband in den Müllschlucker. Dieser murrt, träge vor Strommangel, schluckt jedoch und verdaut. Das Hologramm vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, senkt er es in das versteckte Reißwolfmaul. Das Gerät gibt ein dünnes Quieken von sich, als die Stahlzähne in das Laminat beißen und die Rose in tausend Fragmente zerfetzen.

Später sitzt er rauchend auf dem ungemachten Bett. Ihre Kassette steckt abspielbereit im Deck. Tapes von Frauen verwirren ihn zuweilen, aber er weiß, dass er nicht aus diesem Grund zögert, das Gerät einzuschalten.

Etwa ein Viertel aller ASP-User sind nicht in der Lage, das subjektive Körperbild des anderen Geschlechts ohne Unbehagen zu verarbeiten. Im Laufe der Jahre sind manche ASP-Stars zunehmend androgyn geworden, um auch den jeweils anderen Teil des Publikums zu erobern.

Vor Angelas Bändern jedoch hat er bisher noch nie Angst gehabt. (Aber was wäre, wenn sie einen Lover aufgenommen hätte?) Nein, das kann es nicht sein – es liegt einfach daran, dass die Kassette eine völlig unbekannte Größe darstellt.

 

Als Parker fünfzehn war, gaben ihn seine Eltern bei der amerikanischen Niederlassung eines japanischen Kunststoffkonzerns in die Lehre. Damals hatte er sich glücklich geschätzt, denn auf jede verfügbare Lehrstelle kamen unzählige Bewerber. Drei Jahre lebte er mit seiner Gruppe im Lehrlingsheim, nahm allmorgendlich in Reih und Glied Aufstellung, um die Firmenhymnen abzusingen, und schaffte es für gewöhnlich, wenigstens einmal pro Monat über den Zaun des Firmengeländes zu klettern, um Mädchen aufzureißen oder ins Holodrom zu gehen.

Mit zwanzig sollte er die Lehre abschließen und möglicherweise eine feste Anstellung bekommen. Eine Woche vor seinem neunzehnten Geburtstag ging er mit zwei geklauten Kreditkarten und einer zweiten Garnitur Klamotten zum letzten Mal über den Zaun. Drei Tage vor dem Zusammenbruch des chaotischen Regimes der Neosezessionisten kam er in Kalifornien an. In San Francisco lieferten sich Splittergruppen Straßenschlachten. Irgendeine der vier »provisorischen« Stadtregierungen hatte ganze Arbeit geleistet und so viele Nahrungsmittel konfisziert, dass in den Geschäften praktisch nichts mehr zu kriegen war.

Parker verbrachte die letzte Revolutionsnacht in einem ausgebrannten Vorort von Tucson, wo er mit einem dünnen Teenagergirl aus New Jersey schlief, das ihm die Feinheiten ihres Horoskops erläuterte, unterbrochen von fast lautlosen Weinkrämpfen, die mit dem, was er tat oder sagte, offenbar nicht das Geringste zu tun hatten.

Jahre später stellte er fest, dass er nicht mehr wusste, aus welchem Grund er die Lehre damals eigentlich abgebrochen hatte.

 

Die ersten drei Viertel der Kassette sind gelöscht; im Schnellvorlauf geht es durch statisches Grau. Geschmack und Geruch verschmelzen auf einen Kanal. Die akustische Einspeisung ist weißes Rauschen – der Nichtklang des ersten dunklen Meeres … (Exzessiver Konsum von gelöschtem Tape kann hypnagoge Halluzinationen auslösen.)

 

Um Mitternacht kauerte Parker in New Mexico am Straßenrand und beobachtete aus einem Gebüsch den brennenden Panzer auf dem Highway. Flammen erhellten den durchbrochenen weißen Streifen, dem er seit Tucson gefolgt war. Er hatte die Explosion aus zwei Meilen Entfernung gesehen, einen gleißenden Lichtblitz, der die bleichen Äste eines kahlen Baumes vor dem Nachthimmel in ein Fotonegativ verkehrte: Schwarzes Astwerk vor bleichem Himmel.

Viele der Flüchtlinge waren bewaffnet.

Die im warmen Golfregen dampfenden Barackenstädte verdankte Texas der wackligen Neutralität, die es angesichts des Sezessionsversuchs der Küste gewahrt hatte.

Die Städte bestanden aus Sperrholz, Pappe, im Wind flatternder Plastikfolie und Fahrzeugwracks. Sie hatten Namen wie Jump City oder Sugaree sowie vage definierte Regierungen und Territorien, die sich im unberechenbaren Klima der Schwarzmarktwirtschaft ständig veränderten.

Die zur Säuberung der gesetzlosen Städte eingesetzten Bundes- und Landestruppen wurden selten fündig. Aber nach jeder Razzia fehlten ein paar Männer. Die einen hatten ihre Waffen verkauft und ihre Uniform verbrannt, die andern waren der Schmuggelware, die sie ausfindig machen sollten, zu nahe gekommen.

Nach drei Monaten wollte Parker raus, aber durch die Postenketten der Army kam nur, wer auch etwas anzubieten hatte. Seine Chance ergab sich ganz zufällig: Als er eines späten Nachmittags den fetten Kochdunstschwaden zu entkommen versuchte, die über Judy’s Jungle lagen, stolperte er und wäre beinahe über eine Frauenleiche in einem ausgetrockneten Bachbett gefallen. Eine Wolke von Fliegen stob zornig auf und ließ sich wieder nieder, ohne ihn zu beachten. Die Frau trug eine Lederjacke, und Parker fror nachts meist. Er suchte in dem Bachbett nach einem Ast.

Im Rücken der Jacke, direkt unter dem linken Schulterblatt, war ein bleistiftgroßes Loch. Das Innenfutter, ursprünglich rot, war jetzt schwarz, steif und glänzend von geronnenem Blut. Er balancierte die Jacke mit dem Stock vor sich her und machte sich auf die Suche nach Wasser.

Er wusch die Jacke jedoch nicht. In der linken Tasche fand er fast eine Unze Kokain, sorgfältig in Plastik und transparentes Wundpflaster verpackt. In der rechten Tasche steckten fünfzehn Ampullen Megacilin-D und ein Springmesser mit 25 Zentimeter langer Klinge und Hirschhorngriff. Das Antibiotikum war sein doppeltes Gewicht in Kokain wert.

Er trieb das Messer bis zum Heft in einen morschen Baumstumpf, den die Holzsammler in Judy’s Jungle übersehen hatten, und hängte die Jacke daran auf. Die Fliegen umschwirrten sie, als er ging.

Als er an jenem Abend in einer Bar mit Wellblechdach auf einen der »Anwälte« wartete, die dafür sorgten, dass die Postenkette durchlässig wurde, probierte er sein erstes ASP-Gerät aus. Es war eine riesige Maschine aus Chrom und Neon, und der Besitzer war sehr stolz darauf; er hatte selber mitgeholfen, den Laster zu kapern.

 

Falls das Chaos der Neunziger einen radikalen Wandel der Paradigmen visueller Perzeption widerspiegelt, nämlich die endgültige Abkehr von der Lascaux-Gutenberg-Tradition einer präholographischen Gesellschaft, was haben wir dann wohl von dieser neuen Technologie zu erwarten, die eine getrennte Kodierung und anschließende Rekonstruktion des gesamten Spektrums der Sinneswahrnehmungen verheißt?

Roebuck und Pierhal, Jüngere amerikanische

Geschichte: Eine Systembetrachtung

 

Schnellvorlauf durch die surrende Nichtzeit von gelöschtem Tape …

… in ihren Körper. Europäische Sonne. Straßen einer fremden Stadt.

Athen. Griechische Schriftzeichen und Staubgeruch …

und Staubgeruch.

Sieh durch ihre Augen (du denkst, die Frau ist dir noch nie begegnet; du bist doch gerade erst aus Texas raus) auf das graue Monument, die steinernen Rösser, die flatternden, kreisenden Tauben …

… und Statik erfasst den geliebten Körper, wischt ihn aus, lässt ihn im Grau verschwinden. Wellen weißen Rauschens brechen sich an einem nicht vorhandenen Strand. Und das Band endet.

 

Das Licht am Inducer brennt jetzt.

Parker liegt im Dunkeln und erinnert sich an die tausend Fragmente der Hologramm-Rose. So ist das mit Hologrammen: Holt man die Fragmente zurück und beleuchtet sie, zeigt jedes einzelne das ganze Bild der Rose. Im Sturz auf Delta zu sieht er sich selbst als Rose; jeder seiner verstreuten Bestandteile offenbart ein Ganzes, das er nie kennen wird: geklaute Kreditkarten – ein ausgebrannter Vorort – planetare Konjunktionen einer Fremden – ein brennender Panzer auf einem Highway – ein flaches Päckchen Drogen – ein an Beton geschliffenes Springmesser, scharf wie der Schmerz.

Er denkt: Wir alle sind Fragmente, Bestandteile voneinander, und: Ist das immer so gewesen? Dieser Moment einer Europa-Reise, eine Insel im grauen Meer des gelöschten Bands – ist Angela ihm jetzt näher oder realer, weil er dort gewesen ist?

Sie hatte ihm geholfen, seine Papiere zu bekommen, und ihm den ersten Job im ASP-Geschäft verschafft. War das ihre gemeinsame Geschichte? Nein, Geschichte war die schwarze Front des Delta-Inducers, der leere Schrank und das ungemachte Bett. Geschichte war sein Widerwille gegen den vollkommenen Körper, in dem er erwachte, wenn der Strompegel sank, seine Wut auf den Rikschafahrer und ihre Weigerung, durch den kontaminierten Regen zurückzuschauen.

Dann fiel ihm wieder ein, dass jedes Fragment die Rose aus einem anderen Blickwinkel zeigt; aber Delta spülte über ihn hinweg, bevor er sich fragen konnte, was das bedeuten mochte.

 

William Gibson wurde 1948 in South Carolina geboren und studierte englische Sprache und Literatur an der University of British Columbia. In seinem ersten Roman »Neuromancer«, 1984 veröffentlicht und Auftakt der gleichnamigen Trilogie, erfindet er den Begriff »Cyberspace« und revolutioniert damit die Literatur. »Neuromancer« wurde mit dem Hugo-, dem Nebula- und dem Philip-K.-Dick-Award ausgezeichnet. Der Autor lebt mit seiner Familie in Vancouver.

William Gibson: Fragmente einer Hologramm-Rose • Erzählung • Aus dem Amerikanischen von Peter Robert und Reinhard Heinz • E-Only • ca. 9 Buchseiten • € 0,49 • im Shop

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