13. Dezember 2023 2 Likes

„Leave the World Behind“ auf Netflix

Die hochkarätig besetzte Verfilmung von Rumaan Alams „Inmitten der Nacht“

Lesezeit: 4 min.

Stell dir vor es ist Weltuntergang, und du bemerkst es nur schleichend. So oder so ähnlich lautet die Prämisse von Rumaan Alams „Inmitten der Nacht“ (im Shop), einem Kammerspiel während der Apokalypse. Alams Roman von 2020 begeisterte Kritiker:innen und Leser:innen gleichermaßen – und zählt zu den Lieblingsbüchern von Barack Obama. Dass der ehemalige US-Präsident und seine Frau auch beim Film mitgewirkt haben, überrascht nur auf dem ersten Blick. Aber dazu später mehr.

Worum geht es überhaupt? Amanda (misanthropisch und brillant: Julia Roberts) und Clay (zerstreut lässig: Ethan Hawke) wollen mit ihren beiden Kindern Archie (der perfekte Teenager: Charlie Evans) und Rose (überraschend souverän: Farrah Mackenzie) ein paar Tage entspannen. Also geht es vom hektischen Treiben New Yorks nach Long Island, wo sich Reh und Flamingo gute Nacht sagen. Die ungewohnte Stille durchbrechen zwei unerwartete Besucher: George „G.H.“ Scott (wunderbar besetzt: Mahershala Ali) und seine Tochter Ruth (eine Wucht: Myha’la Herrold), denen das angemietete Ferienhaus gehört. Und ihre Geschichte klingt ziemlich haarsträubend: Weil in New York alle Lichter ausgegangen sind, haben sich Vater und Tochter auf den Weg zu ihrem Haus gemacht. Ob sie die Nacht über bleiben könnten? Niemand von ihnen ahnt, dass dies der Anfang einer größeren Katastrophe ist …

Die große Stärke von Rumaan Alams „Inmitten der Nacht“ ist die für einen Weltuntergangsroman fast schon poetische Ruhe – und die Möglichkeit, viele unangenehme Fragen zu stellen: über rassistische Vorurteile, überholte Geschlechterklischees und spannungsreiche Klassenunterschiede. Indem der Autor die weiße Mittelklassefamilie auf das ältere, vermögende afroamerikanische Ehepaar treffen lässt, kommt nicht nur das Unaussprechliche zur Sprache. Je länger die beiden Familien aufeinander hocken, desto mehr verschwimmen auch die Grenzen zwischen ihnen, kommen die Gemeinsamkeiten zu Tage. Am Ende sind wir alle Menschen, die in einer Krise besser zusammenhalten sollten.

Doch Hand aufs Herz: Kammerspiele sind was für europäische Arthouse-Produktionen und in Hollywood eher eine Nische. Also hat Regisseur und Drehbuchautor Sam Esmail („Mr. Robot“, „Comet“) ein paar kleine, aber feine Änderungen vorgenommen, die „Leave the World Behind“ eine neue Dynamik geben. Die größte Veränderung: George ist bedeutend jünger und wird nicht mehr von seiner Frau begleitet, sondern von seiner Tochter. Ruth bildet dadurch nicht nur den Gegenpol zum eher hormongetriebenen Archie, sie verkörpert auch das richtige Maß an Trotz, Rebellion und Verständnis für unsere Welt, das vermutlich nur Heranwachsenden zu eigen ist. So konfrontiert sie Amanda nicht nur mit ihrem latenten Rassismus, sondern stellt auch die Prioritäten ihres Vaters in Frage.

Die zweite größere Änderung bestimmt eine Eigenheit des Romans. Sowohl Amanda und ihre Familie als auch George und Ruth haben keine Ahnung, was ein paar Kilometer weiter in New York City passiert, da die Kommunikation mit der Außenwelt zum Erliegen gekommen ist. Alam bemüht hier einen allwissenden Erzähler, der von abgestürzten Flugzeugen und weiteren Katastrophen berichtet. Als Leser:innen können wir nie ganz sicher sein, was Wahrheit oder Lüge ist und misstrauen dem Erzähler ähnlich wie Amanda George. In einem Film lässt man Bilder für sich sprechen: die Tiere spielen verrückt, beim Strandbesuch hält ein Öl-Tanker ungebremst auf die Küste zu, bei Georges Rundgang fällt ein Flieger vom Himmel – ohne Blockbuster-Feeling geht es halt doch nicht ganz. Den Rest gibt es häppchenweise. Sobald die Medien doch mal kurz senden, wird das wahre Ausmaß der Katastrophe deutlich.

Wie verhalten sich Menschen in Krisensituationen? Die Antwort auf diese Frage macht den Reiz apokalyptischer und post-apokalyptischer Geschichten aus. Sam Esmail konnte dabei auf prominente Unterstützung bauen. Auftritt: die Obamas. Mit ihrer Produktionsfirma Higher Ground war das Ehepaar an der Verfilmung beteiligt. Und noch mehr: Der ehemalige US-Präsident hat den Regisseur mit allerlei Anmerkungen beim Drehbuch unterstützt, wie Esmail dem Branchenblatt „The Hollywood Reporter“ erzählte. Diese Kommentare betrafen verschiedene Plot-Punkte und Charaktereigenschaften, die uns mit den Figuren mitfühlen lassen. Obama habe als Fan des Romans gehandelt, so Sam Esmail weiter, und einen „richtig guten Film“ sehen wollen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.

„Leave the World Behind“ ist eine für Hollywood-Verhältnisse ruhige Apokalypse, die sich ganz auf das Zusammenspiel ihrer Figuren konzentriert. Die Geschichte aus der Peripherie der wohl berühmtesten Metropole der Welt überzeugt durch ihre Starbesetzung, teilweise ungewohnte Kameraperspektiven und mit viel CGI entstandenen Naturaufnahmen. Ob Sie in der dunklen Jahreszeit zum Roman greifen oder das Sitzfleisch für die 140 Minuten lange Verfilmung aufbringen, bleibt Ihnen überlassen. Lohnen tun sich beide.

Leave the World Behind • USA 2023 • Regie: Sam Esmail • Darsteller: Julia Roberts, Mahershala Ali, Ethan Hawke, Myha’la Herrold, Charlie Evans, Farrah Mackenzie und Kevin Bacon • Seit 8. Dezember auf Netflix

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