23. November 2023 2 Likes

„The Future“ von Naomi Alderman

Der ebenso große wie gegenwärtige Zukunftsroman der Autorin von „Die Gabe“

Lesezeit: 3 min.

Ihr Roman „Die Gabe“ (im Shop), international schwer erfolgreich und dieses Jahr als Streaming-Serie adaptiert, machte die Engländerin Naomi Alderman (im Shop) 2016 zur Bestsellerautorin. Nun liegt Aldermans neuer, im Original bereits frenetisch gefeierter Roman The Future“ (in Shop) bei Heyne auf Deutsch vor. Nachdem sie in ihrem feministischen Werk „Die Gabe“ das etablierte Machtverhältnis zwischen Mann und Frau dadurch auf den Kopf gestellt hat, dass Letztere plötzlich Stromstöße mit ihren Händen austeilen können, ist in „The Future“ („Die Zukunft“ – wie passend) der schwerwiegende Titel Programm. Denn die 1974 in London geborene Alderman betrachtet unser schizophrenes Verhältnis zu diesem vielfältigen Konstrukt namens die Zukunft, die im Heute und im nahen Morgen so sehr in Gefahr ist wie lange nicht. Jedenfalls für uns, die Menschheit, als Spezies und Zivilisation …

So auch in der nahen Zukunft zu Beginn von „The Future“, ein paar Jahre nach Corona und dem Untergang Hongkongs via Protesten, Chaos, Krieg. Lai Zhen war damals noch ein Mädchen, inzwischen jettet sie als Survival-Expertin und -Influencerin um den Globus. Über Umwege lernt sie Martha Einkorn kennen, die bei einer streng-religiösen Endzeit-Sekte aufgewachsen ist und später die rechte Hand von Lenk Sketlish wurde. Lenk gehört zu den drei Tech-Milliardären und CEOs, die mit ihren Produkten und Netzwerken die Leben der Leute verbinden, überwachen, auswerten, manipulieren, steuern. Zhen und Martha verlieben sich, und dadurch wird Zhen in die größte Intrige im Kampf um die Zukunft, die unübersehbar abkackende Erde bzw. die es verkackende Menschheit involviert: Denn Martha und einige Mitstreitenden aus dem direkten Umfeld der CEOs planen einen großen Coup, der die Welt retten soll. Am Rand der Apokalypse wird Zhens Dasein dadurch noch gefährlicher und verrückter …

Naomi Alderman erzählt in „The Future“ vom Leben im permanenten, alltäglichen Endzeit-Modus, wovon einen Tech, Soziale Medien, Komfort etc. bloß ablenken und betäuben soll. Dabei geht sie bei ihrer Geschichte, ihrem Plot, lange eher in der Breite und die Tiefe, ehe sich alles zusammenfügt. Die Engländerin nimmt sich viel Zeit, ihre Charaktere auf genüssliche Weise vorzustellen und zu positionieren, das Dilemma der vom Kapitalismus geblendeten und gelähmten Welt zu beschreiben. Zwischendurch verleiht sie ihrem stark geschriebenen Buch mittels z. B. Listen oder durch entsprechend visualisierte Chatroom-Auszüge, in denen die biblische Geschichte von Lot und Sodom interessant interpretiert wird, postmoderne Aspekte (daher übrigens auch die überlappenden Köpfe von Fuchs und Kaninchen, Symbole für Jäger und Sammler, auf dem Cover). Aldermans scharfe, kluge und doch nie humor- oder hoffnungslose Beobachtungen unserer brennenden Welt, mithilfe der literarischen Bande nur ein kleines Stück ins fiktive Morgen befördert und trotzdem ungeheuer gegenwärtig, sind so zutreffend, erschütternd und eindringlich wie Kim Stanley Robinsons Mahnungen in „Das Ministerium für die Zukunft“ (im Shop), und so versiert und gehaltvoll wie Cory Doctorows Tech- und System-Kritik in der „Little Brother“-Serie (im Shop). Kein Wunder also, dass etwa Cory zu denen gehört, die „The Future“ völlig zurecht abfeiern.


Naomi Alderman. Foto © Annabel Moeller

In der beeindruckenden Quintessenz dreht sich Aldermans „The Future“ um große Fragen: Können wir aus der Vergangenheit lernen, die richtigen Schlüsse ziehen? Sind wir dazu in der Lage, die Gegenwart und den Bullshit überall um uns herum zu durchschauen? Und werden wir rechtzeitig bereit sein, die nötigen Opfer für die Zukunft zu bringen, und in Aktion treten? Naomi Alderman behandelt diese entscheidenden Fragen in einem absolut faszinierenden, unterhaltsamen, kritischen, coolen, süffigen Roman, der „Die Gabe“ locker noch mal toppt. Und zwar als smarte Ausnahme-Science-Fiction am Puls unserer schwierigen Zeit, und für diese Zeit – für uns alle und eine von uns dominierte Welt, in der so vieles schief läuft.

Bleibt zu hoffen, dass das optimistische und letztlich ganz einfache Ende von Aldermans großem Zukunftsroman im Rückblick keine Utopie für unsere Realität bleiben wird.

Naomi Alderman: The Future • Roman • Aus dem Amerikanischen von Barbara Ostrop • Heyne, München 2023 • 544 Seiten • Erhältlich als Hardcover und eBook • Preis des Hardcovers: € 24,00 • im Shop

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Christian Endres berichtet seit 2014 als Teil des Teams von diezukunft.de über Science-Fiction. Er schreibt sie aber auch selbst – im Mai 2024 erscheint bei Heyne sein SF-Roman „Wolfszone“.

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