17. November 2023

Weirde Freizeitparks, frankobelgische Stars und dauerzensierte Künstler

Phantastik-Comic-Neuheiten im November

Lesezeit: 6 min.

Marjorie Liu und Sana Takeda wechseln ins Horror-Genre, Guido Crepax bekommt endlich eine Werkausgabe spendiert und in Kohlhoffs Garten würde auch Jodorowsky lustwandeln.

 

Olrik Kohlhoff: Kohlhoffs Garten

Kohlhoffs Garten, das ist eine Welt voller Erinnerungsfotos, Postkarten, Filmstills und Werbetafeln aus schwarzweißen Kohle- und Kreidezeichnungen, ein Bildband über den titelgebenden bizarren Freizeitpark, der aus Nostalgie, Traumbildern, Groteskem und Absurdem ein einzigartiges Geschäftsmodell entwickelt hat. Der Kieler Künstler Olrik Kohlhoff zelebriert hier seine ganz eigene Weird-Picture-Ästhetik, dass es nur so eine Art hat. Kinder reiten auf mannshohen Hängebauchschweinen, die Karussells bestehen aus riesigen Skorpionen und Spinnen, auf einer idyllischen Wiese wird King Kong dem Publikum präsentiert, aus den Volieren starren Vögel mit Menschenköpfen, und beim „battle of the architectures“ sind die Ringer als Kirchengebäude verkleidet. Wo geht’s zum Eingang?

Olrik Kohlhoff: Kohlhoffs Garten • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 80 Seiten • Hardcover • € 24,00

 

Guido Crepax: Dracula

Avantgardistische Seitenlayouts waren Guido Crepax‘ Markenzeichen. Bildrahmengrenzen spielten bei ihm keine Rolle. Seine filmisch inszenierte Sequenzen, schnellen Perspektivwechsel zu Detail- und Nahaufnahmen, Zeitlupensimulationen und Zersplitterung der Bilder in einzelne Panelelemente waren so revolutionär, dass sie die spätere Ästhetik der Musikvideos vorwegnahmen. Darum erscheinen Crepax‘ Werke in Italien und Frankreich mit Vorworten von Umberto Eco, Roland Barthes und Alain Robbe-Grillet. In Deutschland hingegen erscheint vieles davon gar nicht, weil sich im Jahr 2023 einige seiner erotischen Spielereien aus den 70ern – „Geschichte der O“, „Venus im Pelz“, „Emmanuelle“ – nach 40 Jahren immer noch auf dem Index befinden. Aber der Splitter Verlag arbeitet akut daran, dass dem anachronistischen Zensur-Spuk ein Ende bereitet wird und eröffnet seine (ergänzend zur Editon des Avant-Verlags, wo die „Valentina“- und „Bianca“-Storys veröffentlicht werden) biblophile Crepax-Werkausgabe mit den juristisch unverfänglichen Literaturadaptionen des italienischen Klassikers, von denen „Dracula“ den Auftakt bildet. Im Februar folgt ein Sammelband mit Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, Shelleys „Frankenstein“, Kafkas „Der Prozess“ und James‘ „Die Drehung der Schraube“. Hier wird Comicgeschichte endlich geradegerückt.

Guido Crepax: Dracula • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 144 Seiten • Hardcover • € 35,00

 

Marjorie Liu, Sana Takeda: The Night Eaters. Band 1

Szenaristin Marjorie Liu und Zeichnerin Sana Takeda mussten für die Preise, die ihre „Monstress“-Fantasy-Serie einheimste, vermutlich anbauen. Unter dem Titel „The Night Eaters“ startet nun ihre neueste Zusammenarbeit, eine Haunted-House-Urban-Horror-Trilogie um eine amerikanisch-chinesische Familie, die ihre intergenerationellen Reibereien in einer heruntergekommenen Villa austrägt. Die sollen das Zwillingspaar Milly und Billy auf Geheiß ihrer mürrischen Mutter nämlich renovieren, obwohl sich die beiden wegen ihres schlecht laufenden Restaurants mit Stress bereits ganz gut auskennen. Und dass vor einigen Jahren in dem Gebäude ein Mord stattgefunden hat, wird nicht das einzige Geheimnis bleiben, das das Leben von Millys und Billys Eltern spannender macht. Das mag nicht nach einer kreativen Ausgangslage klingen, aber Liu und Takeda leiten den Plot mithilfe feiner, auch humorvoller Psychologisierungsstrategien, die mal vom culture clash, mal von den Emanzipationsversuchen, dem strengen Elternblick zu entkommen, erzählen. Und so wird ein Schuh draus.

Marjorie Liu, Sana Takeda: The Night Eaters. Band 1 • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 208 Seiten • Hardcover • € 29,80

 

Tebo: Die Schlümpfe Spezial: Der Schlumpf, der vom Himmel fiel

Spirou und Fantasio ist es schon lange vergönnt, Valerian und Veronique tut es auch gut, Lucky Luke sowieso, warum also nicht auch den Schlümpfen? Frankobelgische Comicstars erleben seit einigen Jahren einen zweiten Frühling, indem sie in Nebenreihen von Gast-Künstler*innen mit mehr Gestaltungsfreiheit neu interpretiert werden. Bei diesem ersten Schlümpfe-Spezial-Band namens „Der Schlumpf, der vom Himmel fiel“ obliegt es dem Franzosen Tebo („Raowl“), seinen modernen Funny-Stil in den Dienst eines putzig-ungezogenen Schlümpfe-Abenteuers zu stellen. Er setzt einen an Amnesie leidenden Schlumpf ins Dorf, der die dortigen Gebräuche recht merkwürdig findet und dem die Gruppe helfen will, seine Erinnerung wiederzufinden. Erster Dialog mit Papa Schlumpf: „Ist euer Dorf nicht dafür bekannt, dass ihr Zaubertränke braut?“ „Zauberschlümpfe zuzubereiten ist eine meiner Stärken, das stimmt.“ „Und dank eures Zaubertranks können also die Römer euer Dorf niemals erobern?“ „Nein, das ist ein anderes Dorf.“ Und da sind wir erst auf Seite 6.

Tebo: Die Schlümpfe Spezial. Der Schlumpf, der vom Himmel fiel • Toonfish, Bielefeld 2023 • 56 Seiten • Hardcover • € 15,95

 

Frank Pé, Zidrou: Die Bestie. Band 2

In der zweibändigen Prequel-Serie „Die Bestie“ von Frank Pé und Zidrou wird erzählt, wie das Maruspilami 1955 ins Nachkriegs-Brüssel verschleppt wird, in die Obhut des jungen Schülers Frank gerät – einem Naturconnaisseur und Tiermessie mit großem Herzen – und sich in einer langen, den zweiten Band dominierenden Verfolgungsjagd durch die belgische Hauptstadt zahlreicher Häscher erwehren muss: ruhmsüchtige Wissenschaftler, stoische Polizisten, diverse Amtsträger. Das Maruspilami ist indes nicht als Knuddelwesen charakterisiert, sondern von bedrohlicher Anmut, undomestizierte Natur, bemitleidenswert und gefährlich; mehrmals wird eine King-Kong-Hommage bemüht.

Das Problem: Zidrou ist zwar gut darin, seine Zentralkonflikte in der üblichen Dreiakt-Struktur aufzulösen, aber im Laufe des Prozesses geht ständig sein Interesse am Eigenleben seiner Figuren flöten. Sie treten mit großer Geste an und werden zum Schluss nur wieder auf den Topf gesetzt. Frank bleibt der Maruspilami-Beschützer, nun haben sich in einer Hauruck-Entscheidung, die als Selbstzweifel verkauft werden soll, auch die ihn zuvor mobbenden Mitschüler auf dessen Seite geschlagen. Und Franks Mutter, die im ersten Band nicht nur wegen einer kurzen Liaison mit einem deutschen Soldaten isoliert leben muss, sondern auch als Alleinerziehende unter der Moral jener Zeit zu leiden hat, tritt in der zweiten Hälfte des Abschlussalbums nur noch als einen Polizeibeamten mit Lucky-Luke-Kinn anschmachtender Hormonwirbel in Erscheinung. Einmal Uniform, immer Uniform, so einfach ist das. Komplementär dazu stellt Franks Lehrer sein Liebeswerben um dessen Mutter niedergeschlagen ein und lässt sich, Plan B, wieder von seiner Vermieterin und Haushälterin bekochen, die, obgleich im Vorgängerband durchweg von ihm ignoriert und ausgenutzt, hiermit abermals ihre Chance aufs Glück gekommen sieht. Nein, seinen Frauenfiguren will Zidrou auf halber Strecke dann doch nichts zutrauen.

Aber Zeit für ein paar Schwanzwitze – denn der vom Marsu misst ja 8,5 Meter, also 8,5 Meter Schwanz, kennste, kennste? – nimmt er sich, ist schließlich eine Pennäler-Story; man wünscht sich, dass wenigstens Adriano Celentano um die Ecke geknautscht käme. Was bleibt, ist die betörende Zeichenkunst von Frank Pé, dem größten Tierfreund unter der Zeichner*innengilde (wovon man sich allerdings nachhaltiger im ausladenden Bonusapparat der zweiteiligen „Jonas Valentin“-Gesamtausgabe überzeugen kann, seiner melancholischen 80er-Ode an Flora und Fauna, für deren Zukunft er schon damals den Pinsel einsetzte).

Frank Pé, Zidrou: Die Bestie. Band 2 • Carlsen, Hamburg 2023 • 208 Seiten • Hardcover • € 30,00

 

Junji Ito: Fragments of Horror

Wo Junji Ito draufsteht, ist auch Junji Ito drin, das muss man ihm lassen. In der Carlsen Bibliothek ist ein weiterer Band mit acht Kurzgeschichten erschienen, „Fragments of Horror“, usrprünglich 2014 veröffentlicht. Itos Nachwort kann man entnehmen, dass er anscheinend mit den Ergebnissen nicht sonderlich zufrieden ist. Das hat zum Glück nicht er allein zu entscheiden. Denn abgesehen von der neunseitigen Auftakt-Story „Futon“ herrscht hier wieder der aus japanischer Folklore und westlichen Trauma-Horror zusammengesetzte beklemende Ito-Ton, der von tragikomischen body horror bis hin zu traurigen Familiendramen immer nahezu perfekt das Unvorhersehbare ins Spiel bringt, so gut, dass selbst in konventionellen Lösungen wieder etwas Überraschendes steckt. Und das ist es doch, was uns einst in die Fänge der Geister und Dämonen getrieben hat.

Junji Ito: Fragments of Horror • Carlsen, Hamburg 2023 • 224 Seiten • Hardcover • € 18,00

 

Stefan Mesch, Lino Wirag: Unnützes Wissen für Marvel-Nerds

Die beiden Comicexperten Stefan Mesch und Lino Wirag servieren uns ein wohlgeratenes Kuckucksei. Denn anders als der lange Titel ihres Buchs – „Unnützes Wissen für Marvel-Nerds. Spannende Fun Facts zu den legendären Comics, Filmen und deinen Lieblingsfiguren“ – vermuten ließe, haben sie sich nicht stauenenden Auges noch einmal ins MCU und ihre Comicsammlung versenkt, um für einen weiteren Ratgeber zu notieren, in welchem Heft Captain America zum ersten Mal mit Thor einen Salat gegessen hat. Nichtsdestotrotz ist das Buch einsteigerfreundlich geschrieben, spottbillig und gänzlich von Fan-Service beseelt. Nur geht Meschs und Wirags Verständnis davon weit über die gängigen unkritischen Produktberatungsgeldschleudern der Zunft hinaus. Ihre Recherchen beziehen sich vornehmlich auf politische und ökonomische Entscheidungen, man findet also viel zu Unterstützungszahlungen an Donald Trump oder Werbedeals mit dem US-amerikanischen Militär. Es ist, wie Mesch in einem Interview sagt, „ein Buch voller Skandale, Kritikpunkte, redaktioneller Tiefpunkte, Machtkritik“ und in diesem Sinne als Unternehmenschronik zukünftig unverzichtbar.

Stefan Mesch, Lino Wirag: Unnützes Wissen für Marvel-Nerds • Riva Verlag, München 2023 • 192 Seiten • Softcover • € 10,00

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