18. Dezember 2023

Klassiker-Stelldichein

Phantastik-Comic-Neuheiten im Dezember

Lesezeit: 5 min.

Héctor Germán Osterhelds und Alberto Breccias Meisterwerk „Mort Cinder“ erscheint als Gesamtausgabe, der Auftakt der „Teenage Mutant Ninja Turtles Splitter Collection“ hat begonnen und sowohl „Thorgal“ als auch „Valerian & Veronique“ werden modernisiert – mal mehr, mal weniger.

 

Héctor Germán Oesterheld, Alberto Breccia: Mort Cinder. Gesamtausgabe

Die Science-Fiction-Comic-Figur „Eternauta“ wurde in Argentinien, wo „El Eternauta“ zwischen 1957 und 1959 im Magazin „Hora Cero“ als Serie erschien, in den 70er Jahren zum Sinnbild des Aufbegehrens gegen die Militärjunta. Das hat auch mit der Biografie ihres Autors Héctor Oesterheld zu tun. Dieser schloss sich der linksperonistischen Stadtguerilla Montoneros an, ebenso seine vier Töchter. Sie alle wurden gefoltert und ermordet, man ließ sie 1977 „verschwinden“, ein Jahr nach dem stillen Militärputsch, dem bis 1983 über 30.000 Menschen zum Opfer fielen. So verschmolzen Leben und Werk des ungemein produktiven Oesterheld in der kollektiven Erinnerung zu einer Einheit, seine Dystopie „Eternauta“ wurde zur Gesellschaftsparabel. Dieses Werk hatte der Avant-Verlag 2016 in einer vorbildlichen Gesamtausgabe bereits gehoben.

Zwischen 1962 und 1964 arbeitete Oesterheld mit Alberto Breccia an „Mort Cinder“ zusammen, der hiermit den ersten Höhepunkt seiner experimentellen Schwarzweiß-Zeichenkunst vorlegte (1969 folgte das „Eternauta“-Remake „Eternauta 1969“). Die Serie erschien ursprünglich in dem Magazin „Misterix“ im Hoch-, zweitweise auch im Querformat, das Avant für diese Gesamtausgabe beibehalten hat. Sowohl Oesterheld als auch Breccia befanden sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung an einem Tiefpunkt: Oesterheld hatte seinen Verlag schließen müssen, Breccias Frau war schwer erkrankt. Das Geschichtsbild in „Mort Cinder“ ist materialistisch, das Weltbild verzweifelt, aber von humanistischer Hoffnung geprägt: Die titelgebende Hauptfigur stirbt, nur um stets wiedergeboren zu werden und hat schon zahlreiche, qualvolle Tode erlitten, angefangen bei ihrer Hinrichtung wegen Mordes. Das bietet Breccia und Oesterheld die Möglichkeit, „Mort Cinder“ zentralen Ereignissen der Historie auszusetzen: Wir sehen ihn als Soldaten im Ersten Weltkrieg, als Sklaven beim Turmbau zu Babel, als Legionär in der Schlacht bei den Thermopylen. Als Gesamtwerk ist „Mort Cinder“ eine Betrachtung des beschädigten menschlichen Lebens, der menschlichen Destruktivität und Solidarität. Komplex, modern und weiterhin eine seltene Ausnahme des Mediums. Und sowieso: ein später Höhepunkt dieses Comicjahres.

Héctor Germán Oesterheld, Alberto Breccia: Mort Cinder. Gesamtausgabe • Avant-Verlag, Berlin 2023 • 260 Seiten • Hardcover • € 40,00

 

Kevin Eastman, Tom Waltz u. a.: Teenage Mutant Ninja Turtles Splitter Collection Band 1

Das düstere Spin-off „The Last Ronin“ (das im Januar mit „The Last Ronin: Lost Years“ fortgesetzt wird) bot das Vorspiel, nun startet mit der „Teenage Mutant Ninja Turtles Splitter Collection“ die Kernreihe um die vier mutierten Schildkröten mit Kampfkunst-Background, Pizza-Appetit und Popkultur-Kompetenzen. Bis heute erscheint in den USA bei IDW die 2011 neu gestartete Heftserie, (bislang) 15 über 400-seitige Backsteine der Gesamtausgabe stehen fortan alle drei Monate bei Splitter an. Dabei folgt man der Aufteilung der US-amerikanischen Vorlage und ordnet sämtliche Oneshots, Crossover-Reihen und Special Events chronologisch in die main story ein, um einen möglichst niedrigschwelligen Einstieg für Neulinge zu gewährleisten. Dies ist nicht nur wegen des erheblichen Preises (der sich aus dem großen Umfang erklärt) eine mutige Edition: Vorherigen deutschen Ausgabe bewiesen keinen langen Atem, Splitter hingegen garantiert seit jeher die Komplettierung jeder Serie. Den Abschluss einer derart voluminösen Edition trotz gescheiterter Vorläufer und sinkender Kaufkraft inmitten einer kriegsbedingten Energiekrise zu versprechen, ist aus verlegerischer Sicht allemal kühn und engagierter Fan-Service.

Kevin Eastman, Tom Waltz u. a.: Teenage Mutant Ninja Turtles Splitter Collection Band 1 • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 424 Seiten • Hardcover • € 49,80

 

Robin Recht: Thorgal Saga – Adieu, Aaricia

1977 debütierte „Thorgal“ im „Tintin“-Magazin, 1980 erfolgte die erste Albumveröffentlichung. Damit zählt das über Jahrzehnte von Autor Jean van Hamme und Zeichner Grzegorz Rosinski inszenierte Epos zu den langlebigsten frankobelgischen Fantasy-Comicserien, erscheinen doch bis heute neue Alben, nebst zweier Spin-offs („Die Welten von Thorgal: Lupine“ (sieben Bände) und „Die Welten von Thorgal: Kris de Valnor“ (acht Bände)) und einem lockeren Prequel („Die Jugend von Thorgal“ (demnächst elf Bände)). Die Hauptserie, die bis Band 36 vom polnischen Veteran Rosinski gezeichnet wurde, vermeldete in diesem Jahr mit Band 40 ein Jubiläum.

„Thorgal“ ist zugleich auch eine SF-Serie, denn die Titelfigur erweist sich im späteren Verlauf als von einem Sternenvolk ausgesetztes Waisenkind, das mehr oder minder zufällig bei den Wikingern gestrandet ist. Ab hier wird die Erzählung in den Folgebänden deutlich differenzierter, der Umgang mit mythischen Sagen und Dichtungen verspielter. Selbst psychedelische Abschweifungen werden nicht verschmäht, und Thorgal erlebt überdies, was den meisten Comichelden verwehrt bleibt: er altert.

Nun beginnt mit „Thorgal Saga“ eine weitere Nebenreihe, in der abgeschlossene Storys von wechselnden Künstlern aus arrivierten frankobelgischen Kreisen erscheinen. In Robin Rechts „Adieu, Aaricia“ ist Thorgal ein vollends ergrauter Mann, der über den Tod seiner Frau Aaricia verzweifelt. Darum lässt er sich auf das Angebot der Schlange Nidhoggr ein und reist mithilfe eines Rings zurück in die Vergangenheit, begegnet seinem jugendlichen Ich und versucht, die Ursachen für Aaricias Tod zu verändern. In den besten Momenten führt das zu einer traurigen Reflexion über Tod, Verlust und die höllische Bürde des Alterns.

Robin Recht: Thorgal Saga – Adieu, Aaricia • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 120 Seiten • Hardcover • € 27,00

 

Hommage an Valerian und Veronique

Pierre Christins und Jean-Claude Mézierès‘ „Valerian und Veronique“, das ist nahezu monolithische frankobelgische SF-Klassik, erst recht wenn man die Erscheinungszeit in den 70er Jahren bzw. den Start im „Pilote“-Magazin 1967 bedenkt. Die „Inspirationshilfe“ für heutige Franchises war nicht abzusehen, die Innovation aber schon damals augenscheinlich: Christin und Mézières setzten nicht auf eine pure Space Opera, sondern übertrugen auf zeichnerisch höchstem Niveau gesellschaftliche Debatten in unterhaltsame Abenteuer für jugendliche Leser*innen, denen man verklausuliert die Konfrontation bspw. mit der Angst vor der Atombombe oder vorm ökologischen Kollaps zutraute. Selbstredend ist das einen Hommage-Band wert, und man verbeugt sich hier auch tief und variantenreich. Dass indes fast nur männliche Künstler zur Party eingeladen wurden, steht im blamablen Missverhältnis zur einst progressiven Vorlage.

Hommage an Valerian und Veronique • Carlsen, Hamburg 2023 • 96 Seiten • Hardcover • € 24,00

 

Carbone, Julien Monier: Sam und die Geister. Band 1

Ein neuer Zweiteiler der Kindercomic-Autorin Carbone, die sich auch in diesem Fall wie schon in „Die magische Spieluhr“ einiger Motive der Phantastik bedient: Das junge Mädchen Sam kann – im Gegensatz zu ihrem großen Bruder Tim, bei dem sie seit dem Tod ihres Vaters lebt – Verstorbene sehen. Das findet sie auf dem Friedhof heraus, wo sie den Geist der herzlichen, aber etwas verwirrten alten Dame Luise kennenlernt, die schon lange nach ihrem Ehemann sucht und in Sam eine Unterstützerin gefunden hat. Zum Leidwesen von Tim, der für eine angemessene Außenwirkung des Geschwisterpaars Sorge tragen muss, weil ihn, offenkundig aus bloßer Antipathie, das Jugendamt im Visier hat. Auch Luises Vergesslichkeit erlangt bald bittere Züge. So wird das Übernatürliche mit dem Kontrast menschlicher Fehlbarkeit – sei sie medizinischer oder institutioneller Art – in der Erzählung kontrastiert, ein subkutaner Ernst, den die luftig-modernen, sich auch Mitteln des Cartoons bedienenden Zeichnungen nicht unbedingt erwarten lassen. Am hingeklatschten Cliffhanger werden sich aber – Kalauer oder Spoiler? – die Geister scheiden.

Carbone, Julien Monier: Sam und die Geister. Band 1 • Toonfish, Bielefeld 2023 • 56 Seiten • Hardcover • € 14,95

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