28. Oktober 2021

Leseprobe: „Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson

Der eindringlichste Roman über den Klimawandel

Lesezeit: 22 min.

Barack Obama empfiehlt diesen Roman auf Twitter, die Times nennt ihn „ein Meisterwerk“, das Rolling Stone Magazine spricht von einer „Pflichtlektüre für alle, die an Zukunft interessiert sind“, der Guardian lobt den „visionären Optimismus“: Kim Stanley Robinsons neuer Roman Das Ministerium für die Zukunft (im Shop) ist der aktuellste Roman zum Thema Klimakrise.

 

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Es wurde heißer.

Frank May erhob sich von seiner Matte und tappte hinüber zum Fenster, um hinauszuschauen. Braune Putzwände und Ziegel, umbrafarben wie der Lehm aus der Gegend. Quadratische Wohnblocks wie der, in dem er sich befand, die Dachterrassen besetzt von Bewohnern, die nachts hinaufgestiegen waren, weil es drinnen zu heiß zum Schlafen war. Mehrere von ihnen standen hinter den brusthohen Mauern und spähten nach Osten. Der Himmel war braun wie die Häuser, vermischt mit dem Weiß des nahenden Sonnenaufgangs. Frank atmete tief ein. Die Luft erinnerte ihn an eine Sauna. Es war die kühlste Zeit des Tages. In seinem ganzen Leben hatte er keine fünf Minuten in einer Sauna zugebracht, er empfand das als unangenehm. Heißes Wasser ging vielleicht noch, aber heiße, feuchte Luft auf keinen Fall. Es war ihm ein Rätsel, wie jemand an so einem beklemmenden, stickigen Gefühl Gefallen finden konnte.

Hier konnte man ihm nicht entrinnen. Wenn er es sich vorher richtig überlegt hätte, wäre er bestimmt nicht hergekommen. Es war die Partnerstadt seines Heimatorts, doch es gab auch noch andere Partnerstädte, andere Hilfsorganisationen. Er hätte zum Beispiel in Alaska arbeiten können. Stattdessen tropfte ihm jetzt brennender Schweiß in die Augen. Er war nass, obwohl er nur Shorts trug, die ebenfalls nass waren; auf seiner Matte, auf der er schlaflos gelegen hatte, zeichneten sich feuchte Flecken ab. Er hatte Durst, und die Kanne neben seinem Bett war leer. Wie ein Schwarm von Riesenmücken surrten überall in der Stadt angestrengt die Klimageräte in den Fenstern.

Und dann durchbrach die Sonne den östlichen Horizont. Sie blitzte auf wie eine Atombombe – sie war ja auch eine. Die Felder und Häuser unter diesem gleißenden Lichtsplitter wurden dunkel und dunkler, als der Splitter sich zu einer lodernden Linie verbreiterte und dann zu einer Sichel anschwoll, die er nicht ansehen konnte. Die heranbrandende Hitze war spürbar wie eine Ohrfeige. Die Sonnenstrahlung erwärmte sein Gesicht und ließ ihn blinzeln. Seine Augen tränten so stark, dass er nicht viel erkennen konnte. Alles war lohfarben, beige und unerträglich grell. Eine ganz normale Stadt in Uttar Pradesh um sechs Uhr früh. Er warf einen Blick auf sein Telefon: achtunddreißig Grad. Luftfeuchtigkeit ungefähr sechzig Prozent. Die Kombination war das Entscheidende. Vor einigen Jahren wäre das noch eine der höchsten je gemessenen Feuchtkugeltemperaturen gewesen. Jetzt war man ihr schon an einem gewöhnlichen Mittwochmorgen ausgesetzt.

Vom Dach auf der anderen Straßenseite drangen bestürzte Klagen herüber. Zwei junge Frauen, die sich über die Mauer lehnten und hinunter zur Straße riefen. Jemand dort oben rührte sich offenbar nicht mehr. Frank griff nach seinem Telefon und tippte die Nummer der Polizei. Keine Antwort. Er konnte nicht erkennen, ob die Leitung noch funktionierte oder nicht. Wie in Wasser getaucht, schrillten jetzt in der Ferne Sirenen. Mit dem Morgengrauen entdeckten die Menschen angegriffene Schlafende, die nach der langen, heißen Nacht nicht mehr aufwachen wollten. Die Sirenen schienen darauf hinzudeuten, dass zumindest einige Anrufe durchgekommen waren. Frank schaute wieder auf sein Telefon. Es war geladen und zeigte eine Verbindung an. Aber keine Antwort von der Polizeistation, die er in seinen vier Monaten hier schon mehrmals eingeschaltet hatte. Zwei ganze Monate lagen noch vor ihm. Achtundfünfzig Tage, viel zu lange. 12. Juli – und noch kein Monsun in Sicht. Gut, erst mal heute überstehen. Ein Tag nach dem anderen. Dann heim nach Jacksonville, wo im Vergleich zu der Glut hier absurde Kälte auf ihn wartete. Viele Geschichten zu erzählen. Doch die armen Leute auf dem Dach gegenüber …

Mit einem Mal brach das Rauschen der Klimageräte ab. Wieder betroffene Schreie. Sein Telefon zeigte keine Balken mehr. Kein Netz. Stromausfall. Sirenen wie das Jammern von Gottheiten, der gesamte Hindu-Pantheon in Not.

Schon sprangen Generatoren an, laute Zweitaktmotoren. Benzin, Diesel, Petroleum, aufgespart für Situationen wie diese, wenn die gesetzlichen Vorschriften zur Verwendung von Flüssigerdgas unter der Realität nachgaben. Die ohnehin schon schlechte Luft würde sich bald in einen Schleier aus Abgasen verwandeln. Als würde man direkt hinter dem Auspuffrohr eines alten Busses einatmen.

Bei dieser Vorstellung musste Frank husten und griff wieder nach der Kanne an seinem Bett. Sie war noch immer leer. Er trug sie hinunter und füllte sie aus dem Filterbehälter im Kühlschrank. Auch ohne Strom immer noch kalt, und er konnte damit rechnen, dass das Wasser in der Thermoskanne eine Weile so blieb. Zur Sicherheit warf er noch eine Jodtablette hinein und schraubte den Deckel fest zu. Das Gewicht fühlte sich beruhigend an. Die Stiftung hatte unten in der Abstellkammer einen Generator und mehrere Kanister Benzin deponiert, genug, um ihn zwei oder drei Tage lang zu betreiben. Gut zu wissen.

Seine Kollegen drängten durch die Tür. Hans, Azalee, Heather, alle mit roten Augen und durcheinander. »Komm«, drängten sie, »wir müssen los.«

»Wohin denn?«, fragte Frank verwirrt.

»Wir brauchen Hilfe, der ganze Stadtteil ist ohne Strom,

wir müssen in Lucknow Bescheid sagen, damit Ärzte kommen.«

»Ärzte?«

»Wir müssen es versuchen!«

»Ich geh hier nicht weg«, sagte Frank.

Sie starrten ihn an und wechselten Blicke.

»Lasst das Satellitenhandy hier«, fügte er hinzu. »Holt Hilfe. Ich bleibe und sage den Leuten, dass ihr auf dem Weg seid.«

Unsicher nickten sie und eilten hinaus.

Frank zog ein weißes Hemd an und hatte es ein paar Sekunden später schon wieder durchgeschwitzt. Er trat hinaus auf die Straße. Dröhnende Generatoren pumpten Abgase in die überhitzte Luft. Vermutlich für den Betrieb von Klimageräten. Er unterdrückte ein Husten. Es war einfach zu heiß dafür. Das Wiedereinsaugen der Luft war, als würde man in einem Hochofen atmen, sodass man gleich wieder husten musste. Und von der Zufuhr dampfender Luft und der Anstrengung des Hustens wurde einem noch heißer.

Leute kamen jetzt auf ihn zu und baten um Hilfe. Schon unterwegs, erklärte er ihnen. Kommt um zwei Uhr Nachmittag in die Beratungsstelle. Jetzt bringt erst mal die Alten und Kleinen in klimatisierte Räume. Die Schulen oder das Rathaus haben bestimmt Klimaanlagen. Da müsst ihr hin. Folgt dem Geräusch der Generatoren.

In jedem Hauseingang standen verzweifelte Menschen, die auf eine Ambulanz oder einen Leichenwagen warteten. Auch für heftige Klagen war es zu heiß. Selbst Reden fühlte sich bei der Glut gefährlich an. Und was gab es schon zu sagen? Es war zu heiß zum Denken.

Immer noch steuerten Leute auf ihn zu. Bitte helfen Sie uns, Sir.

Kommt um zwei in die Beratungsstelle, wiederholte Frank ein ums andere Mal. Fürs Erste zur Schule. Geht rein, sucht nach klimatisierten Räumen. Bringt die Alten und die Kinder hier weg.

Aber es gibt nichts!

Da fiel es ihm ein. »Runter zum See! Geht ins Wasser!«

Sie schienen nicht zu begreifen. Wie bei der Kumbh Mela, versuchte er ihnen zu erklären, wenn die Leute nach Varanasi fuhren und im Ganges badeten. »Zum Kühlen. Im Wasser bleibt ihr kühler.«

Ein Mann schüttelte den Kopf. »Das Wasser liegt in der Sonne. Da ist es so heiß wie im Bad. Schlimmer als an der Luft.«

Frank atmete schwer, als er angespannt und beunruhigt zum See marschierte. Überall vor den Häusern Leute, zusammengedrängt in Eingängen. Einige beäugten ihn, doch die meisten waren zu sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Die Augen groß vor Leid und Angst, rot von der Hitze und den Abgasen, dem Staub. Metalloberflächen backten in der Sonne, er sah Hitzewellen aufsteigen wie über einem Grill. Seine Muskeln wurden zu Brei, nur ein Draht aus Angst hielt sein Rückgrat noch aufrecht. Am liebsten wäre er gerannt, doch das war ausgeschlossen. So weit wie möglich hielt er sich im Schatten, den die eine Straßenseite jetzt am frühen Morgen noch bot. In der Sonne war es, als würde man in ein Lagerfeuer geschoben. Angetrieben von der Glut, torkelte man auf den nächsten Schattenfleck zu.

Kurz darauf stellte er ohne große Verwunderung fest, dass bereits Leute bis zum Hals im See standen, die braunen Gesichter rot vor Hitze. Dick wie Talkum hing das Licht über dem Wasser. Er trat auf die geschwungene Betonstraße, die den See an dieser Seite begrenzte, und steckte den Arm bis zum Ellbogen hinein. Es war tatsächlich so warm wie ein Bad, fast zumindest. Er ließ den Arm drin, um herauszufinden, ob das Wasser kühler oder heißer als sein Körper war. Schwer zu sagen in der brütenden Luft. Nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass das Wasser an der Oberfläche ungefähr die gleiche Temperatur hatte wie sein Blut. Das hieß, es war deutlich kühler als die Luft. Und wenn es doch ein wenig wärmer war als der Körper … nun, dann war es immer noch kühler als die Luft. Seltsam, es war einfach schwer zu erkennen. Er sah nach den Leuten im See. Nur ein schmaler Streifen Wasser lag noch im Morgenschatten der Häuser und Bäume, und auch dieser Streifen würde bald verschwinden. Danach war der ganze See der Sonne ausgesetzt, bis der späte Nachmittag auf der anderen Seite wieder Schatten brachte. Das war nicht gut. Aber Regenschirme – alle hatten doch einen Regenschirm. Allerdings blieb dann noch immer die Frage, wie viele Menschen im See Platz hatten. Sicher nicht genug. Angeblich hatte die Stadt zweihunderttausend Einwohner. Umgeben von Feldern und Hügeln, die nächsten Orte in allen Richtungen mehrere Kilometer entfernt. Seit Urzeiten.

Er ging zurück zur Niederlassung mit der Beratungsstelle im Erdgeschoss. Ächzend mühte er sich in sein Zimmer im ersten Stock. Sicher war es am einfachsten, sich hier hinzulegen und zu warten, bis es vorbei war. Er tippte die Kombination seines Safes ein und nahm das Satellitentelefon heraus. Schaltete es ein. Akku voll geladen.

Er rief die Zentrale in Delhi an. »Wir brauchen Hilfe«, teilte er der Frau am anderen Ende mit. »Der Strom ist ausgefallen.«

»Wir haben auch keinen Strom«, antwortete Preeti. »Er ist überall weg.«

»Überall?«

»In weiten Teilen von Delhi, in Uttar Pradesh, Jharkand, Bengalen. Teilweise auch im Westen, in Gujarat, in Rajasthan …«

»Was sollen wir tun?«

»Auf Hilfe warten.«

»Von wem?«

»Keine Ahnung.«

»Was sagt der Wetterbericht?«

»Die Hitzewelle soll noch eine Weile anhalten. Die aufsteigende Luft über dem Land könnte kühlere Luft vom Meer anziehen.«

»Wann?«

»Das weiß niemand. Das Hochdruckgebiet ist riesig. Es hängt am Himalaja fest.«

»Ist es besser, wenn man im Wasser ist statt an der Luft?«

»Klar. Sofern es kühler ist als die Körpertemperatur.«

Er schaltete ab und legte das Handy zurück in den Safe. Er blickte auf das Feinstaubmessgerät an der Wand: 1300 ppm. Für Teilchen ab 25 Nanometern und kleiner. Dann trat er erneut hinaus auf die Straße, blieb aber im Hausschatten. Das machten alle; niemand stand mehr in der Sonne. Wie Rauch lag die graue Luft über der Stadt. Es war zu heiß zum Riechen, ein Gefühl in der Nase wie von einer sengenden Flamme.

Er wandte sich ab und machte sich auf den Weg zur Abstellkammer. Er öffnete sie mit dem Schlüssel aus dem Safe und holte den Generator und einen Kanister Benzin heraus. Als er den Tank auffüllen wollte, merkte er, dass er noch voll war. Also brachte er den Kanister zurück und trug den Generator in die Ecke mit dem Fenster. Das kurze Kabel des Klimageräts war an der Wandsteckdose darunter angeschlossen. Wegen der Abgase kam es nicht infrage, den Generator im Zimmer laufen zu lassen. Aber er konnte ihn auch nicht einfach vors Fenster auf die Straße stellen, weil ihn sonst garantiert jemand stahl. Die Leute waren verzweifelt. Also … Er kehrte in die Abstellkammer zurück und wühlte herum, bis er ein Verlängerungskabel fand. Hinauf zur Dachterrasse, die von einer Mauer geschützt war und vier Stockwerke über der Straße lag. Das Verlängerungskabel reichte allerdings nur bis zur nächsten Etage. Er stieg hinunter und nahm das Klimagerät aus dem Fenster im zweiten Stock. Schnaufend und schwitzend schleppte er es die Treppe hinauf. Kurz fühlte er einen Anflug von Schwäche, dann brannte der Schweiß in seinen Augen, und neue Kraft durchströmte ihn. Im dritten Stock öffnete er das Bürofenster, platzierte das Gerät auf dem Sims und ließ den Schieberahmen wieder herunter. Zuletzt zog er die Seitenpaneele heraus, um das Fenster ganz abzudichten. Oben auf der Terrasse warf er den Generator an und wartete, bis er hustend und röchelnd seinen Zweitaktrhythmus fand. Nach einer ersten Rauchwolke waren keine Abgase mehr zu sehen. Aber er war laut, die Leute konnten ihn sicher hören. Er hörte ja auch die anderen überall in der Stadt. Das Verlängerungskabel anschließen, die Treppe runter zum oberen Büro, das Klimagerät einstecken und einschalten. Knirschendes Surren. Luftzustrom, o Gott, das Ding funktionierte nicht. Doch, es lief. Es senkte die Temperatur der Außenluft um fünf bis zehn Grad. Also waren es immer noch dreißig Grad, überlegte er, vielleicht sogar mehr. Im Schatten ging das, selbst bei der hohen Feuchtigkeit. Man musste sich bloß entspannen und Anstrengungen vermeiden. Und die kühle Luft würde durchs Treppenhaus nach unten sinken und sich im ganzen Gebäude ausbreiten.

Im zweiten Stock versuchte er, das Fenster zu schließen, aus dem er das Kühlgerät genommen hatte. Es hing fest. Er knallte die Fäuste so heftig auf die Griffe, dass fast das Glas brach. Endlich sauste es mit einem Ruck nach unten. Dann raus auf die Straße, Tür zuziehen. Los zur nächsten Schule. In einem kleinen Laden in der Nähe gab es für Kinder und Eltern Essen und Getränke zu kaufen. Die Schule war geschlossen, der Laden auch, doch es waren Leute da, von denen er einige kannte. »In der Beratungsstelle läuft eine Klimaanlage«, erklärte er ihnen. »Kommt mit rüber.«

Schweigend folgte ihm die Gruppe. Sieben oder acht Familien, auch die Ladenbesitzer, die hinter sich absperrten. So gut es ging, hielten sie sich im Schatten, auch wenn kaum noch einer zu finden war. Die Männer vor ihren Frauen, die die Kinder im Gänsemarsch antrieben, um die Sonne zu vermeiden. Die Gespräche wurden auf Awadhi geführt, dachte Frank, oder auf Bhojpuri. Er beherrschte nur ein wenig Hindi, und das wussten sie. Diese Sprache benutzten sie, wenn sie mit ihm reden wollten, oder sie wandten sich an jemanden, der sich auf Englisch mit ihm verständigen konnte. Er hatte sich nie daran gewöhnt, Menschen zu helfen, mit denen er nicht richtig reden konnte. Beschämt überwand er jetzt die Verlegenheit über sein schlechtes Hindi und erkundigte sich, wie sie sich fühlten, wo ihre Verwandten waren, ob sie einen Zufluchtsort hatten. Jedenfalls hoffte er, dass er das fragte. Sie schauten ihn so seltsam an.

Kurz darauf schloss er die Tür zur Beratungsstelle auf, und die Menschen strömten hinein. Ohne Anweisung stiegen sie hoch in das Zimmer, in dem das Klimagerät lief, und setzten sich auf den Boden. Der Raum füllte sich rasch. Er ging wieder hinunter, trat auf die Straße und bat Leute herein, wenn sie sich interessiert zeigten. Bald war das ganze Haus voll bis auf den letzten Platz. Danach sperrte er die Tür ab.

In der relativen Kühle der Zimmer schmorten die Menschen vor sich hin. Frank warf einen Blick auf den Computermonitor; Temperatur im Erdgeschoss achtunddreißig Grad. Im Zimmer mit dem Klimagerät war es vielleicht ein wenig kühler. Luftfeuchtigkeit bei sechzig Prozent. Schlecht, diese Hitze zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit. Ungewöhnlich. In der Trockenzeit von Januar bis März war es kühler und trockener auf der Ganges-Ebene; danach wurde es zwar allmählich heißer, blieb aber trocken. Danach brachte der Monsun mit der Nässe kühlere Temperaturen und zahllose Wolken, die Schutz vor der Sonne boten. Das Wetter jetzt war anders. Wolkenlose Hitze und dennoch hohe Luftfeuchtigkeit. Eine schreckliche Kombination.

In der Beratungsstelle gab es zwei Badezimmer. Irgendwann versagten die Toiletten. Wahrscheinlich führten die Abwasserrohre zu einer Kläranlage, deren Notstromkapazitäten nicht für den weiteren Betrieb ausreichten, auch wenn das kaum zu glauben war. Jedenfalls war es so. Jetzt ließ Frank die Leute nach Bedarf hinaus, damit sie irgendwo in eine Seitengasse gehen konnten wie in den nepalesischen Dörfern, die keine Toiletten hatten. Es war ein Schock für ihn gewesen, als er das zum ersten Mal sah. Inzwischen hielt er nichts mehr für selbstverständlich.

Manchmal brach jemand in Tränen aus, und es bildeten sich kleine Gruppen um die Betreffenden; Ältere und Kinder, die sich schämten, weil ihnen ein Missgeschick unterlaufen war. Daher stellte er Eimer in die Badezimmer, leerte sie in den Rinnstein und brachte sie wieder zurück. Ein alter Mann starb; Frank half einigen Jüngeren, den Toten hinauf zur Dachterrasse zu tragen, wo sie ihn in ein dünnes Tuch wickelten, einen Sari vielleicht. Wesentlich schlimmer wurde es später am Abend, nachdem es ein Kind getroffen hatte. In allen Zimmern wurde geweint, als sie den kleinen Leichnam hoch aufs Dach brachten. Frank bemerkte, dass das Benzin im Generator zur Neige ging, und holte einen Kanister aus der Abstellkammer, um nachzufüllen.

Seine Thermoskanne war leer. Die Wasserhähne liefen nicht mehr. Im Kühlschrank standen zwei große Flaschen, von denen er aber nichts erzählte. Aus einer schenkte er im Dunkeln seine Kanne voll; das Wasser war sogar noch ein wenig kühl. Dann machte er sich wieder an die Arbeit.

In dieser Nacht starben vier weitere Menschen. Wie ein flammender Hochofen ging am Morgen die Sonne auf und knallte auf das Dach und seine traurige Fracht eingehüllter Toter. Ein Blick über die Häuser zeigte, dass sich sämtliche Dächer und Gehsteige in eine Leichenhalle verwandelt hatten. Die ganze Stadt war ein einziges Mausoleum, und es war so heiß wie zuvor, vielleicht sogar noch heißer. Die Temperatur lag bei zweiundvierzig Grad, die Luftfeuchtigkeit bei sechzig Prozent. Dumpf starrte Frank auf den Bildschirm. Er hatte vielleicht drei Stunden geschlafen, war immer wieder hochgeschreckt. Der Generator grummelte in seinem unregelmäßigen Takt, und das Klimagerät wälzte ruckelnd Luft. Noch immer rauschten andere Generatoren und Kühlgeräte vor sich hin. Doch nichts davon half.

Schließlich ging er hinunter zum Safe und rief noch einmal Preeti auf dem Satellitenhandy an. Nach dreißig oder vierzig Klingeltönen meldete sie sich. »Was ist?«

»Hör zu, wir brauchen hier Hilfe. Sonst sterben wir.«

»Was bildest du dir ein?«, zischte sie wütend. »Glaubst du, ihr seid die Einzigen?«

»Nein. Trotzdem brauchen wir Hilfe.«

»Wir brauchen alle Hilfe!«, schrie sie.

Frank überlegte. Schwer vorstellbar. Preeti war doch in Delhi. »Alles in Ordnung bei euch?«, fragte er endlich.

Keine Antwort. Preeti hatte abgeschaltet.

Seine Augen brannten wieder. Er wischte sich über die Lider und stieg hinauf, um die Eimer aus dem Bad zu holen. Inzwischen füllten sie sich langsamer; die Menschen waren ausgetrocknet. Ohne Wasservorräte mussten sie bald weg von hier, es blieb keine andere Wahl.

Als er von der Straße zurückkehrte und die Tür öffnete, hörte er plötzlich ein Geräusch und bekam einen Stoß in den Rücken. Drei junge Männer aus einer größeren Gruppe drückten ihn auf den Boden, einer mit einer eckigen Schusswaffe so groß wie sein Kopf. Frank starrte in die auf ihn zielende Mündung des Laufs, die das einzig Runde an dem schwarzen Metallding war. Die ganze Welt schrumpfte auf diesen kleinen Kreis zusammen. In seinen Ohren hämmerte das Blut, und er spürte, wie er am ganzen Körper erstarrte. Der Schweiß lief ihm über Gesicht und Hände.

»Keine Bewegung«, fauchte einer von denen, die sich zur Treppe wandten. »Wenn du dich bewegst, bist du tot.«

Schreie von oben begleiteten den Vormarsch der Eindringlinge. Die gedämpften Geräusche des Generators und des Klimageräts brachen ab. Dann drang nur noch das allgemeine Brausen der Stadt durch die offene Tür. Passanten starrten neugierig herein und setzten ihren Weg fort. Es waren nicht viele. Frank atmete so flach wie möglich. In seinem rechten Auge war ein heftiges Brennen, doch er schloss es einfach und schaute mit dem anderen entschlossen weg. Er hatte das Gefühl, sich wehren zu müssen, aber er wollte nicht sterben. Es war, als würde er das Ganze vom zweiten Stock aus beobachten, außerhalb seines Körpers und losgelöst von dessen Empfindungen. Nur das Brennen im Auge blieb.

Schließlich polterten die Kerle mit dem Generator und dem Klimagerät wieder die Treppe herab und hinaus auf die Straße. Die Männer, die Frank festhielten, ließen ihn los. »Wir brauchen das dringender als ihr«, bemerkte einer.

Der mit der Schusswaffe machte ein finsteres Gesicht, als er das hörte. Er zielte ein letztes Mal auf Frank. »Das ist alles eure Schuld.« Dann knallte die Tür zu, und sie waren verschwunden.

Frank stand auf und rieb sich die Arme, wo ihn die Männer gepackt hatten. Sein Herz raste noch immer, und ihm war speiübel. Von oben wagten sich einige Leute herunter und fragten, wie es ihm ging. Sie machten sich Sorgen um ihn, hatten Angst, er könnte eine Verletzung erlitten haben. Diese Aufmerksamkeit versetzte ihm einen Stich, und auf einmal überwältigten ihn seine Gefühle. Er hockte sich auf die unterste Stufe und vergrub das Gesicht in den Händen, weil ihn ein Weinkrampf schüttelte. Immerhin linderten die Tränen das Brennen in den Augen.

Schließlich rappelte er sich auf. »Wir müssen runter zum See. Dort ist es bestimmt kühler. Im Wasser und auf dem Gehsteig.«

Mehrere der Frauen wirkten nicht besonders glücklich, und eine von ihnen meldete sich zu Wort. »Sie haben sicher recht, aber die Sonne ist zu stark. Wir sollten bis zum Einbruch der Dunkelheit warten.«

Frank nickte. »Da ist was dran.«

Immer noch schwach und schwindlig, ging er mit dem Ladenbesitzer zu dessen kleinem Geschäft. Das Saunagefühl drosch auf ihn ein, und es kostete ihn viel Kraft, Lebensmittel und Getränke in Säcken zur Beratungsstelle zu bringen. Trotzdem half er beim Tragen von sechs Ladungen. So schlecht er sich auch fühlte, er hatte den Eindruck, stärker als die meisten anderen in der kleinen Gruppe zu sein. Bei einigen fragte er sich, wie lang sie sich wohl noch so dahinschleppen konnten. Keiner von ihnen sprach ein Wort oder schaute ihm in die Augen.

»Wir können später noch mehr holen«, erklärte der Ladeninhaber schließlich.

Der Tag zog sich in die Länge. Das Jammern hatte sich zu vereinzeltem Stöhnen abgeschwächt. Erschöpft von Hitze und Durst, regten sich die Leute nicht einmal mehr auf, wenn ihre Kinder starben. Rote Augen in braunen Gesichtern, die Frank anstarrten, wenn er zwischen ihnen herumstolperte und mithalf, Tote hoch aufs Dach zu bringen, wo sie voll der Sonne ausgesetzt waren. Natürlich war zu befürchten, dass sie dort oben verwesten, aber vielleicht würden sie auch einfach ausglühen und vertrocknen, weil es so heiß war. In dieser Glut konnten sich keine Gerüche halten außer dem der sengend feuchten Luft. Oder doch: Auf einmal stank es nach fauligem Fleisch. Niemand hielt sich mehr hier oben auf. Frank registrierte vierzehn eingewickelte Tote, Erwachsene und Kinder. Ein kurzer Blick über die Stadt zeigte ihm, dass andere Menschen mit ähnlichen Verrichtungen beschäftigt waren: schweigsam, in sich gekehrt, hastig, mit gesenktem Kopf. Niemand von ihnen schenkte der Umgebung Beachtung.

Unten waren Lebensmittel und Getränke bereits aufgebraucht. Frank zählte durch, so schwer es ihm auch fiel. Ungefähr zweiundfünfzig Leute in der Beratungsstelle. Eine Weile saß er auf der Treppe, dann trat er in die Abstellkammer und sah sich um. Er füllte seine Thermoskanne auf, trank ausgiebig, füllte wieder nach. Nicht mehr kühl, aber auch nicht heiß. Da standen noch die Benzinkanister; wenn nötig, konnten sie die Leichen verbrennen. Ansonsten ließ sich mit dem Benzin wenig anfangen, da sie keinen Generator mehr hatten. Das Satellitentelefon war noch aufgeladen, aber er wusste nicht, wen er hätte anrufen sollen. Seine Mutter vielleicht? Hi, Mom. Ich sterbe gleich.

Nein.

Quälend langsam krochen die Sekunden dahin, und dann beriet sich Frank mit dem Ladenbesitzer und dessen Bekannten. Murmelnd kamen sie überein: Zeit aufzubrechen. Sie weckten die anderen Leute, erklärten ihnen den Plan, halfen denen, die es nötig hatten, aufzustehen und die Treppe hinunterzusteigen. Einige schafften es nicht – ein Dilemma. Mehrere Alte wollten angeblich noch bleiben, solange sie gebraucht wurden, und später nachkommen. Sie verabschiedeten sich von den anderen, als wäre alles normal, doch ihre Augen verrieten sie. Viele weinten, als sie die Beratungsstelle verließen.

Im Nachmittagsschatten machten sie sich auf den Weg zum See. Heißer denn je. Kein Mensch auf den Straßen und Gehsteigen. Kein Klagegeschrei in den Häusern. Immer noch dröhnten einige Generatoren, surrten einige Klimageräte. Die bleierne Luft schien alle Geräusche zu verschlucken.

Am See bot sich ihnen ein verzweifelter Anblick. Es waren viele, viele Leute im Wasser, Kopf an Kopf um die Ufer herum, und auch weiter draußen, wo es wahrscheinlich tiefer war, lagen Menschen halb untergetaucht auf behelfsmäßigen Flößen. Doch nicht alle lebten noch. Von der Wasseroberfläche stieg ein giftiger Todeshauch auf, und der Gestank nach Verwesung stahl sich langsam in die versengten Nasenlöcher.

Sie einigten sich darauf, dass es vielleicht das Beste war, sich zuerst auf den niedrigen Uferweg zu hocken und die Beine ins Wasser zu hängen. So stapften sie zum Ende des Wegs, wo noch Platz war, und setzten sich einer neben dem anderen als geschlossene Gruppe hin. Der Beton unter ihnen strahlte noch immer die Hitze des Tages ab. Alle schwitzten, bis auf einige, die röter waren als die anderen und förmlich im Schatten des Spätnachmittags glühten. Als die Dämmerung hereinbrach, brachten sie diese Menschen in eine halb aufrechte Lage und halfen ihnen beim Sterben. Der See war heiß wie Badewasser, wärmer als die Körpertemperatur. Eindeutig wärmer als gestern, fand Frank. Und das lag ja auch nahe. Er hatte einmal gelesen, dass die Temperaturen steigen würden, bis die Meere kochten, wenn die Erde die gesamte auf sie einwirkende Sonnenenergie aufnehmen würde, statt genug davon zurückzuwerfen. Er konnte sich das Ganze lebhaft vorstellen. Der See fühlte sich an, als fehlten nur noch wenige Grad bis zum Siedepunkt.

Trotzdem wateten sie nach dem Sonnenuntergang und der kurzen Abenddämmerung alle in den See. Es fühlte sich einfach besser an. Ihr Körper forderte sie dazu auf. Sie konnten sich an einer besonders seichten Stelle niederlassen, den Kopf knapp über Wasser, und versuchen durchzuhalten.

Neben Frank saß ein junger Mann, den er einmal in der Rolle des Karna in einem Stück beim örtlichen Mela-Fest gesehen hatte, und wieder fühlte er einen Stich durch seine innere Leere jagen, als er sich an den Moment erinnerte, in dem Arjuna Karna mit einem Fluch wehrlos gemacht hatte und im Begriff war, ihn zu töten. In diesem Augenblick hatte der junge Mann triumphierend gerufen: »Das ist nur das Schicksal!«, und zu einem letzten Hieb ausgeholt, bevor er, getroffen von Arjunas unbezwingbarem Schwert, zu Boden sank. Jetzt schlürfte der junge Mann das Seewasser, die Augen groß vor Angst und Leid. Frank musste den Blick abwenden.

Nach und nach stieg ihm die Hitze zu Kopf. In seinem Körper wühlte das Verlangen, dieses zu heiße Bad hinter sich zu lassen. Er wollte endlich in den eiskalten See springen, der eigentlich zu jeder Sauna gehörte, und den glückseligen Kälteschock spüren, der einem den Atem verschlug, wie damals in Finnland. Die Menschen dort sprachen vom maximalen Temperaturunterschied, von einer blitzschnellen Änderung um hundert Grad, die sie unbedingt erleben wollten.

Doch dieser Gedankengang war wie das Kratzen an einer juckenden Stelle und machte alles nur noch schlimmer. Er kostete das heiße Wasser und konnte schmecken, wie faulig es war. Ihn schauderte bei der Vorstellung, was da alles im See herumschwappte. Trotzdem empfand er einen Durst, den er nicht stillen konnte. Heißes Wasser im Magen hätte bedeutet, dass es keine Zuflucht mehr gab und dass die Wärme innen und außen weit über der Temperatur lag, die für den Körper eines Menschen gesund war. Sie wurden hier gedünstet. Heimlich schraubte er seine Kanne auf und trank. Das Wasser darin war inzwischen lauwarm, aber nicht heiß, und es war sauber. Sein Körper lechzte danach, und er hörte nicht auf zu trinken, bis die Kanne leer war.

Die Leute starben immer schneller. Es gab keine Kühlung mehr. Alle Kinder waren tot, alle Alten waren tot. Statt Wehgeschrei brachten die, die noch lebten, nur ein Murmeln heraus. Wer noch konnte, zog Leichen aus dem See oder schob sie hinaus in die Mitte, wo sie wie Holz trieben oder untergingen.

Frank schloss die Augen und versuchte, die Stimmen um ihn herum zu ignorieren. Er lag, von seichtem Wasser bedeckt, da und konnte den Kopf auf den Betonrand des Wegs und den Schlamm darunter lehnen. Langsam sank er tiefer, bis er im Morast steckte und nur noch sein Gesicht in die sengende Luft ragte.

So verstrichen die Stunden. Oben waren lediglich die hellsten Sterne als verschwommene Flecken zu erkennen. Eine mondlose Nacht. Satelliten zogen vorüber, von Osten nach Westen, von Westen nach Osten, einmal sogar von Norden nach Süden. Die Menschen beobachteten sie, obwohl sie wussten, was mit ihnen hier unten geschah. Sie wussten es, aber sie taten nichts. Sie konnten nicht. Es war sinnlos, jedes Wort war sinnlos. Für Frank vergingen in dieser Nacht viele Jahre. Als sich der Himmel zu einem ersten Grau erhellte, das nach Wolken aussah und sich dann als klarer, leerer Himmel entpuppte, regte er sich schließlich. Seine Fingerspitzen waren ganz schrumpelig. Er war langsam gegart worden und war jetzt durch. Es fiel ihm schwer, den Kopf auch nur einen Zentimeter zu heben. Womöglich würde er hier ertrinken. Dieser Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Er bohrte die Ellbogen in den Grund und stemmte sich hoch. Seine Extremitäten fühlten sich an wie gekochte Spaghetti, doch die Knochen bewegten sich wie von selbst. Er setzte sich auf. Die Luft war noch immer heißer als das Wasser. Er sah zu, wie der erste Sonnenschein die Wipfel der Bäume auf der anderen Seite des Sees berührte. Es schien, als würden sie in Flammen aufgehen. Den Kopf vorsichtig auf der Wirbelsäule balancierend, ließ er den Blick über die Szenerie wandern.

Alle waren tot.

 

Lesen Sie weiter in: Kim Stanley Robinson: Das Ministerium für die Zukunft • Roman • Aus dem Amerikanischen von Paul Bär • Wilhelm Heyne Verlag, München 2021 • 720 Seiten • als Paperback und E-Book erhältlich • Preis des E-Books: € 13,99 • im Shop

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