20. September 2021 6 Likes

Regen in der Arktis

Ein Generationenkonflikt, die kommenden Wahlen und die Frage, worum es hier wirklich geht

Lesezeit: 5 min.

Unlängst veröffentlichte das Fachblatt Lancet Planetary Health eine aktuelle Studie, der zufolge sich drei von vier jungen Menschen weltweit vor den Auswirkungen der Klimakrise fürchten und glauben, „dass die Zukunft beängstigend ist“. Die Zahlen schwanken von Land zu Land etwas, aber in Deutschland sind es immer noch fünfundsechzig Prozent der Jugendlichen, und als ich das las, musste ich an eine Geschichte denken, die mir vor einigen Tagen eine gute Freundin erzählte.

Ihre siebzehnjährige Tochter, die definitiv zu diesen fünfundsechzig Prozent zählt, rief bei ihrer Großmutter an und bat sie, ihr bei den kommenden Bundestagswahlen sozusagen ihre Stimme zu schenken. Ganz konkret: Sie bat ihre Großmutter, eine Partei zu wählen, die die Klimakrise nicht mal so nebenbei mit „technischen Innovationen“ oder gar „mehr Wachstum“ lösen möchte, sondern erkannt hat, dass die Lösung dieser Krise massive Veränderungen auf allen Politikfeldern notwendig macht. Die Großmutter lehnte dieses Ansinnen empört ab – wie die Enkelin denn auf eine so abstruse Idee käme, und überhaupt hätte sie vor vielen Jahren ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen, immer konservativ zu wählen, damit „nie wieder ein Hitler sein Unwesen treibt“.

Menschen sind kompliziert, und Familien noch komplizierter, aber so kompliziert die Verhältnisse in diesem spezifischen Fall auch sein mögen: Diese Geschichte enthält das Wichtigste, was es bei der kommenden Wahl zu beachten gilt, denn noch nie war eine Wahl in diesem Land so sehr davon geprägt, dass die Zukunft wirklich zur Disposition steht.

Das behaupten natürlich alle wahlwerbenden Parteien nicht erst seit dieser Wahl, ja, man merkt überhaupt erst, dass Wahlkampf ist, wenn das Wort Zukunft im politischen Diskurs so inflationär verwendet wird, dass man es gar nicht mehr richtig wahrnimmt. Oder haben sich Slogans wie „Die Zukunft sichern“, „In die Zukunft investieren“ und „Für eine Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt“ (alle aus dem Wahlkampf vor vier Jahren) etwa in Ihrem Gedächtnis festgesetzt? „Zukunft“ ist die kommunikative Allzweckwaffe schlechthin, wenn es darum geht, das Wahlvolk sanft zu becircen; „Zukunft“ ist das Zauberwort, das gute Laune macht, das irgendwie positiv klingt, aber zugleich völlig abstrakt ist.

In Wahrheit ist beides Unsinn. Die Zukunft ist nichts Abstraktes, sondern der Ort, an dem Ihre Kinder und Enkel einmal leben werden (vielleicht sogar Sie selbst). Und sie ist auch nicht per se positiv, sondern schlicht die Konsequenz dessen, was gerade geschieht. Trotzdem haben sich etliche Generationen von Wählerinnen und Wählern von diesem Zauberwort sehr gerne becircen lassen – bis jetzt. Bis zu der Generation, die im frühen 21. Jahrhundert groß geworden ist, sich nun in der Welt umsieht und begreift: Was gerade geschieht, kann dazu führen, dass der Ort, an dem sie einmal leben wird, ein sehr unangenehmer Ort sein wird.

In der Zukunft nämlich, in die wir derzeit unterwegs sind, sind Flutkatastrophen wie in diesem Sommer in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen und großflächige Waldbrände wie in den Mittelmeerländern Alltag. In dieser Zukunft besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der grönländische Eisschild ins Meer rutscht und Küstenstädte wie Amsterdam oder Hamburg überspült werden. Das klingt bitter, aber ein solches Zukunftsszenario ist weder Panikmache noch die Verbreitung einer Öko-Ideologie, sondern basiert auf nüchternen Tatsachen wie etwa dieser: Mitte August hat es am kältesten Punkt Grönlands zum ersten Mal seit Beginn der Wetteraufzeichnungen geregnet.

Regen in der Arktis … Vor einer so dramatischen Veränderung des Weltklimas kann man natürlich die Augen verschließen, und ich kenne viele Menschen, auch Politiker, die mit solchen Tatsachen nicht konfrontiert werden wollen und das alles, ganz genau, in die Zukunft verschieben.

Doch das Problem dieser Menschen – und leider unser aller Problem – ist: Die ökologische Krise ist kein nebulöses Zukunftsthema, als die sie von manchen Parteien im Wahlkampf immer noch einsortiert wird, sondern sie ist hier, genau da, wo wir sind. Diese Zukunft beginnt nicht irgendwann, sondern sie hat bereits begonnen, und alles, was wir noch tun können, ist, den Schaden zu begrenzen, was für Deutschland, eines der größten Industrieländer der Welt und ein wichtiges Symbol für viele andere Länder, konkret heißt: deutlich schneller als geplant die Kohlekraftwerke stilllegen, Verbrennungsmotoren verbieten, jeglichen Kohlendioxidausstoß massiv verteuern und eine Klimaaußenpolitik betreiben, die ihren Namen auch verdient.

Forderungen dieser Art klingen in Ihren Ohren vermutlich sehr politisch, sogar parteipolitisch, und nur allzu gerne würde ich an dieser Stelle einen Exkurs einfügen, warum die Politisierung der globalen ökologischen Krise in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der größten Menschheitsfehler aller Zeiten war (wenn nicht der größte überhaupt), aber aus Platzgründen belasse ich es bei einem einfachen Satz: Diese Forderungen haben nichts mit individuellen Moralvorstellungen, persönlichen Lebensgewohnheiten und anderen politischen Nebenschauplätzen zu tun, sondern es geht dabei einzig und allein um die Frage, ob unsere Kinder und Enkel in einer lebenswerten Welt leben sollen. Oder nicht.

Was mich zurück zu der Geschichte von der Tochter meiner Freundin bringt, die darüber verzweifelt ist, dass sie – wie unzählige andere, die bei dieser Wahl eigentlich im Mittelpunkt stehen müssten – keine Stimme hat und einen Erwachsenen darum bitten muss, für sie zu stimmen. Ihre tatsächlich einigermaßen abstruse Bitte wäre ein guter Anlass, einmal die Kohärenz unseres Wahlsystems zu thematisieren, aber da sich an diesem System kurzfristig leider nichts ändern lässt, geht es bei der Wahl am kommenden Sonntag letztlich um die Solidarität zwischen den Generationen. Ein heißes Eisen, denn so rührig Aktionen wie „Omas for Future“ auch sind, sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten der über Fünfzigjährigen, die in diesem Wahljahr erstmals das größte Wählerreservoir bilden und auf die sich sämtliche Wahlkampagnen konzentrieren, nicht verstehen (oder nicht verstehen wollen), dass sie eine Bringschuld gegenüber den Jüngeren haben, dass ihr Wohlstand auf einer Monströsität gründet: der Zerstörung des Ökosystems Erde, wie es seit Tausenden von Jahren Bestand hat.

Das ist eine nüchterne Tatsache.

Man kann vor dieser Tatsache die Augen verschließen. Oder man wirft einen klaren Blick darauf und erkennt: Auch wenn sich bereits so viel Kohlendioxid in der Atmosphäre befindet, dass die nächsten Jahrzehnte so oder so schwierig werden, besteht zwischen „schwierig“ und „katastrophal“ immer noch ein großer Unterschied. „Schwierig“ oder „katastrophal“ – das ist Wahl, die wir haben.

Das ist die Wahl, die wir treffen müssen.

 

 

Sascha Mamczak ist Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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