18. Januar 2024

Wie man ein Raumschiff fliegt

Für alle Weltraum-Nerds dort draußen: Die Space-Shuttle-Betriebsanleitung ist eine faszinierende Lektüre

Lesezeit: 4 min.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich präsentiere Ihnen: das Betriebshandbuch für das Space Shuttle.

Das ist kein Witz – ich sehe es mir gerade an.

Um es in die Finger zu bekommen war es zugegebenermaßen weder notwendig, die NASA zu hacken, noch sonst irgendwie riskante Industriespionage zu betreiben. Das Space-Shuttle-Betriebshandbuch ist schon seit einiger Zeit online. Ich bin einfach einem Reddit-Link gefolgt und habe es mir heruntergeladen. Und trotzdem überkommt mich, wenn ich darin lese oder auch nur das Icon auf meinem Desktop sehe, ein Schauer der Ehrfurcht - obwohl ich niemals Astronaut sein und, weil man sie ja 2011 ausgemustert hat, erst recht nicht am Steuer eines Space Shuttle sitzen werde.

Aber sollte ich aus welchen Gründen auch immer irgendwann einmal dazu gezwungen sein, eines zu fliegen, hätte ich jetzt zumindest die Betriebsanleitung griffbereit.

Dann müsste ich das Handbuch allerdings auch lesen, und das ist kein Pappenstiel, schließlich ist es 1161 Seiten lang. Es beschreibt jedes einzelne System und jede nur vorstellbare Eventualität. Schon möglich, dass der Mensch kompliziertere Maschinen als das Space Shuttle gebaut hat, aber viele werden es nicht sein.

Allein das Inhaltsverzeichnis meiner Version (OI33) ist dreizehn Seiten lang. Noch mal: Dreizehn Seiten dienen der Erläuterung, wie das Buch aufgebaut ist. Und schon im Vorwort liest man Sätze wie diesen: „Das schwarz-weiße Streifenmuster in der APU/HYD-Startbereitschaftsrückmeldungsanzeige stellt keine Startabbruchsvoraussetzung dar.“

Gut zu wissen. Ich bin mir natürlich der Tatsache bewusst, dass man sich als Vollnerd outet, wenn man sich derart über ein technisches Betriebshandbuch freut, aber ich bin mit Sonic the Hedgehog und Videospielkonsolen aufgewachsen, in die man Cartridges stecken musste. Wer das nicht erlebt hat, weiß auch nicht, wieso man wegen eines Anleitungsheftchens ausflippen kann.

Wie auch immer, bei der Lektüre des Space-Shuttle-Handbuchs wird einem schnell klar, wieso die Weltraumforschung eine so anstrengende Sache ist. Nehmen wir etwa einen Satz aus dem Abschnitt über das Schmieren der Treibstoffpumpen: „Der Hilfstriebwerksregler überträgt mithilfe der Hauptcomputer folgende Daten an die BFS-SM-SYS-SUMM-2-Anzeige: Ausgangsdruck der Schmierölpumpe (OIL OUT P) bei circa 45 Pfund pro Quadratzoll, Ausgangstemperatur bei circa 270 Grad Fahrenheit und Rücklauftemperatur des Wassereinspritzungsboilers (OIL IN, OUT) bei circa 250 Grad Fahrenheit für jedes Hilfstriebwerk.“

Interessanter sind da die überraschend detaillierten Abschnitte zum Leben an Bord des Space Shuttle. Wussten Sie etwa, dass die Crew nicht in Schichten schläft? Das Shuttle ist ja kein Schiff auf dem Ozean, wo ständig jemand Wache halten muss. Im Handbuch steht dazu: „Während einer einschichtig organisierten Mission schlafen alle Besatzungsmitglieder gleichzeitig. Dabei muss mindestens ein Besatzungsmitglied ein Headset tragen, damit der Empfang von Mitteilungen der Bodenkontrolle sowie der bordeigenen Warn- und Alarmmeldung gewährleistet ist.“

Es ist schon eine faszinierende Vorstellung, dass ein Multimilliarden teures Fahrzeug die Erde umkreist - und alle an Bord schlafen tief und fest. Das ist bei Weltraumreisen offenbar der Normalfall, ich finde es trotzdem bemerkenswert.

Das Handbuch beinhaltet außerdem Kapitel über die Erledigung der Hausarbeit, Hygiene, Fitnessgeräte, Gepäckaufbewahrung, Abfallentsorgung (ein sehr wichtiges Thema, wie Sie sich sicher vorstellen können) und vieles mehr. Ein sehr großer Abschnitt des Buches trägt den Titel „Diverse Ausfallszenarien“ - das ist wohl der „Ach du Scheiße, und was jetzt?“-Teil des Buches. Ich könnte mir vorstellen, dass im Bordexemplar bei diesen Kapiteln eine Menge Post-its klebten.

Wenn zum Beispiel während des Drosselvorgangs ein Steuerungstriebwerk klemmt, steht uns das Handbuch tröstend mit dem Hinweis zur Seite, dass es abhängig von der Drosselungsstufe und der tatsächlichen Leistung durchaus möglich ist, den Flug in die Umlaufbahn fortzusetzen. Allerdings könnte in diesem Fall vor dem Brennschluss der Haupttriebwerke eine Zündung der Korrekturdüsen erforderlich sein, deshalb sollte man sich die dafür nötigen Schritte genau einprägen.

(Ich weiß selbstverständlich, dass solche Scherze im Hinblick auf die Space-Shuttle-Katastrophen wie die der Challenger und der Columbia geschmacklos wirken könnten. Dazu will ich Folgendes anmerken: Von den 135 Missionen der Space-Shuttles verliefen 130 erfolgreich, und bei den fünf anderen bezweifle ich, dass das Handbuch eine entscheidende Rolle spielte. Das Space Shuttle sollte nicht auf diese fünf Fehlschläge reduziert werden – und das Handbuch verträgt meiner Meinung nach ein paar Scherze.)

Glücklicherweise musste meines Wissens nie jemand das Handbuch auswendig lernen, genauso wenig wie jemand die Abertausende Knöpfe und Schalter im Cockpit des Space Shuttle im Gedächtnis hatte. Wozu auch? Man musste ja nur die entsprechende Stelle im Handbuch aufschlagen und die dort aufgeführten Anweisungen befolgen.

Angeblich brachte die NASA in den 1980er-Jahren ein falsches Handbuch in Umlauf, um die sowjetische Raumfahrtbehörde an der Nase herumzuführen. Auf Reddit hat man mir zwar versichert, dass meine Ausgabe die echte ist, nur wie soll ich das nachprüfen? Ist aber auch nicht so wichtig – der Weltraum-Nerd in mir ist so oder so schwer begeistert.

 

Rob Boffard wurde in Johannesburg geboren und pendelt als Autor und Journalist zwischen England, Kanada und Südafrika. Er schreibt unter anderem für „The Guardian“ und „Wired“. Seine Romane „Tracer“ (im Shop), „Enforcer“ (im Shop) und „Verschollen“ (im Shop) sind im Heyne-Verlag erschienen. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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