10. August 2015 2 Likes

Das letzte Flüchtlingsschiff

Wie Europa damit aufhörte, das Mittelmeer zum Friedhof werden zu lassen

Lesezeit: 6 min.

Im Juni 2016 überraschte die Europäische Union die Welt, als sie mit der MS Elpis ein umgebautes Kreuzfahrtschiff, das sie dem griechischen Staat abgekauft hatte, an die nordafrikanische Küste schickte, um dort Flüchtlinge abzuholen.

Zuvor hatte sich in den EU-Regierungen folgende Erkenntnis durchgesetzt: 1) Trotz aller Schwierigkeiten wollen nach wie vor tausende Afrikaner und Afrikanerinnen nach Europa emigrieren. 2) Sie nutzen hierzu Schlepper und landen auf überfüllten Booten, die kentern und für zahlreiche Flüchtlinge den Tod bedeuten können. 3) Dies ist weder mit europäischen Werten noch positiver PR vereinbar. 4) Zudem ist es praktisch aussichtslos und obendrein extrem teuer, Schlepperboote rechtzeitig im Mittelmeer aufzuspüren. Ergo: 5) Warum zum Teufel nehmen wir die Sache nicht selber in die Hand, sorgen für einen geordneten Seetransfer, sparen uns die sinnlosen Abfangmaßnahmen, haben einen genauen Überblick über die Flüchtlinge und legen damit auch noch den illegalen Organisationen das Handwerk?

Begleitet von großer, medialer Berichterstattung legte die Elpis im Hafen der spanischen Exklave Melilla an. Beamte des EU-Außenministeriums hatten dort zusammen mit den spanischen Behörden schon eine Check-in-Zone geschaffen: Sie erstreckte sich von einzelnen, geöffneten Schleusen der Sicherheitszäune bis unmittelbar vor die Gangway des Schiffes. Aus Geldmitteln des Europäischen Investitionsfonds, kofinanziert aus Spekulationssteuern, war in kürzester Zeit eine taugliche Infrastruktur entstanden: Erstversorgungsstellen mit Sanitäranlagen; Ausgabestellen für Lebensmittel, die in europäischen Supermärkten ausgemustert worden waren, obwohl das Verfallsdatum noch lange nicht erreicht war; Notunterkünfte und Kleiderausgaben; Büros zur Registrierung von Asylfällen, aber auch von Berufsausbildungen und sonstigen Kenntnissen; Vortragsräume, in denen EU-Mitarbeiter über Sprachen, Gesellschaftssysteme, Einwanderungsbestimmungen und wichtigste Gesetze der EU informierten; sogar eine Kinderbetreuung gab es.

Jeder Mensch, der hier ankam, unbewaffnet war und irgendeine Form von Ausweis vorlegen konnte, wurde in die Zone aufgenommen. Natürlich drängten sich schon nach kurzer Zeit weitaus mehr Emigrationswillige vor den Zäunen, als ein einzelnes Schiff mitnehmen konnte. Ihre Namen wurden daher in ein Lotterieprogramm eingespeist, welches die ersten zweitausend Tickets ermittelte. Zuerst hatte es Raufereien gegeben, um an Lose zu kommen; als sich jedoch herumsprach, dass weitere Schiffe – die MS Esperanza und die MS Hope – folgen würden, legte sich der Unmut. Nächste Losreihen wurden ausgegeben und die zuvor noch chaotische Masse begann sich zu ordnen.

Tahir Patrick Salih, ein aus dem Sudan stammender Flüchtling, erzählte später, wie ihn der Registrierungsterminal in der Zone fasziniert hatte. Ein skandinavisches Open-Source-Projekt hatte schon vor Jahren eine intuitive Software entwickelt, die sich dank rudimentärer künstlicher Intelligenz auf Herkunft, Kultur und Sprache des Anwenders einstellte. Zudem standen ehemalige Wachsoldaten, die endlich einmal etwas Freundliches tun wollten, bei den Terminals und halfen mit der Erfassung von Alter, Ausbildung und speziellen Kenntnissen. Ein Scanner zeichnete Tahirs Fingerabdruck auf, um die Angaben später überprüfen zu können. Danach konnte er sich über die unterschiedlichen Aufenthaltsbedingungen und Arbeitsmärkte der europäischen Länder informieren. Manche schienen besonders an Pflegekräften interessiert, andere an technischen Facharbeitern, viele an kinderreichen Familien – denn Europa überalterte zusehends und benötigte dringend junge Menschen, um Basisabläufe und Pensionssysteme aufrecht zu erhalten. Tahir erfuhr auch von den Schwierigkeiten, die ihn erwarten würden: fremdenfeindliche Stimmung, geringe Bezahlung, regelmäßige behördliche Kontrollen, klimatische Eigenheiten und vieles mehr. Ob er dennoch nach Europa wolle? Ja, das wollte er – alles war besser als die unsicheren und aussichtslosen Zustände in seiner Heimat.

Dennoch gab es laut Online-Statistiken eine beständige Quote von rund sieben Prozent unter den Flüchtlingen, die sich nach diesen Informationen dafür entschieden, lieber auf ihrem Kontinent zu bleiben. Sieben Prozent, die noch vor Jahren trotzdem in die Schlepperboote gestiegen wären, weil sie sich nicht vorstellen konnten, in Europa auf irgendetwas anderes als das Paradies zu treffen. Nicht, dass sie nun in ihre Herkunftsländer zurück gekehrt wären – nein, sie blieben einfach auf der anderen Seite des Zaunes: Hier hatte die EU in einem gemeinsamen Aufbauprogramm mit dem marokkanischen Staat die Grundlagen für eine neue Form wirtschaftlicher Infrastruktur geschaffen – eine Mischung aus Wohnsiedlungen, Bildungseinrichtungen, Werkstätten, Anbaugebieten und interkonfessionellen Gebetshäusern. Die Flüchtlinge selbst bauten an dieser rasch wachsenden Stadt mit, unterstützt von europäischen Architekten, Designern und Ingenieuren. Salzwasseraufbereitungsanlagen versorgten landwirtschaftliche Kleinflächen, solarbetriebene mehrstöckige Gebäude enthielten Wohneinheiten mit vernetzten Nutztierhallen, Minifabriken und Freizeitangeboten. Mit der Zeit kamen nicht nur Studenten aus aller Welt hierher, um von dem Erreichten zu lernen, sondern auch immer mehr Zuzügler aus Marokko und den umgebenden Ländern des Maghreb. Nach drei Jahren wurden erste Touristenbusse gesichtet.

Gefragt, warum die Europäische Union so viel Geld in die Entwicklung dieses Projekts gesteckt hatte – das man doch vielleicht besser in den Ländern daheim gebraucht hätte –, antwortete eine ranghohe EU-Vertreterin: „In Wahrheit war es ein Nullsummenspiel. Die hier investierten Millionen sparen wir uns bei Verbrechensbekämpfung, Sicherheitsaufrüstung und Entwicklungshilfe.“ Was sie nicht erwähnte: Der Großteil an Investitionen floss ohnehin postwendend retour, denn fast sämtliche Baumaßnahmen wurden von europäischen Firmen durchgeführt – eine von den USA und Russland kritisierte versteckte Subvention, um aus der anhaltenden Wirtschaftskrise zu kommen.

Tahir, der mit seiner Frau und zwei Kindern an Bord des dritten Flüchtlingsschiffes sicher und ohne Zwischenfälle an die europäische Küste gelangte, erinnert sich daran, wie die MS Hope nacheinander mehrere Häfen anfuhr; die Gruppen von Flüchtlingen wurden nach dem anhand ihrer Angaben erstellten Schlüssel auf die europäischen Länder verteilt. Als Tahir in Rotterdam erstmals das Festland betrat, war er aufgeregt, aber er fühlte sich aufgrund seines Vorwissens nicht als verzweifelter, den Behörden ausgelieferter Asylbettler, sondern beinahe wie ein Gast. Das änderte sich auch nicht, als er der Reihe nach verschiedenste Billigjobs als Sanitätsgehilfe, Krankenpfleger und Altenbetreuer ausführte und abends noch todmüde die (immerhin kostenlosen) Sprachkurse belegte. Er mühte sich ab, um neben dem täglichen Bedarf auch noch das Schulgeld für seine Kinder zusammenzubekommen. Doch es fühlt sich – heute wie damals - nach einem fairen Deal an: Europa hat ihm nichts Unmögliches versprochen, keine Wunder vorgegaukelt. Sondern ihm einfach eine Chance gegeben.

Stolz ist er auf seinen mittlerweile erwachsenen Sohn Faisal, der nun als Genetiker die Wanderungsbewegungen des Menschen untersucht. „Migration brachte dem Homo sapiens einen entscheidenden evolutionären Vorteil“, sagt Faisal und erinnert an die Auswanderungen früherer Menschen von Afrika in den Norden. „Denn je weiter wir wandern, je stärker wir uns mit Fremden vermischen, desto vielfältiger und widerstandsfähiger wird unser Organismus. Abgesehen von Kriegen, Hungersnöten und Klimawandel sind es vor allem unsere Gene, die uns zum Auswandern bringen. Darum werden wir Menschen für immer auch Migranten sein - nur so können wir überleben.“

Inzwischen verkehren kaum noch Flüchtlingsschiffe am Mittelmeer, für Ende des Jahres ist die allerletzte Überfahrt geplant. Der Zustrom hat nachgelassen, die von der Afrikanischen Union gestarteten Strukturreformen beginnen zu greifen. Doch noch immer gilt auf den schon merklich verschlissenen, anachronistisch wirkenden Hochseekreuzern eine alte Tradition: Wenn sie an jenen Stellen vorbeifahren, wo zu Beginn des Jahrtausends immer wieder hunderte Emigranten qualvoll ertranken, nur weil sie nach Europa wollten, werden kurz die Maschinen abgeschaltet und sowohl Besatzung als auch Passagiere gedenken ein paar Atemzüge lang der Toten, während sie die Stille des Meeres umfängt.

Uwe Neuhold ist Autor und bildender Künstler, der sich insbesondere mit naturwissenschaftlichen Themen befasst. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

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