5. Dezember 2023

Von Ende zu Ende

Es gibt ziemlich einfache Methoden, das Internet zu einem besseren Ort zu machen – man muss sie nur anwenden

Lesezeit: 10 min.

Das Internet hat geschafft, woran viele andere Netzwerke gescheitert sind. Früher gab es jede Menge Netze – Kabelfernsehen, Festnetztelefon, Standleitungen. Jetzt gibt es nur noch „das Netz“, das viele der genannten Verbindungen zur Übertragung nutzt, sie aber dennoch alle in sich vereinigt.

Das Internet ist deshalb so erfolgreich, weil es uns erlaubt, Probleme herunterzubrechen. Wenn wir uns nicht auf eine Methode X einigen können, vielleicht dann auf eine Methode Y, die irgendwann zu X führt? Man macht einen kleinen Schritt, einigt sich auf eine Grundlage, zerlegt eine scheinbar unmöglich zu bewältigende technologische Aufgabe in immer kleinere Bestandteile, bis man den kleinsten gemeinsamen Nenner erreicht. Und dann überlegt man den nächsten Schritt, auf den sich alle einigen können. Einen Elefanten kann man nur Bissen für Bissen verspeisen.

Diese Methode hat funktioniert. Manchmal waren solche Teillösungen bereits völlig ausreichend. Eine von Brian Enos der Intuition widersprechenden Strategien lautet: „Sei der erste, der auf die Idee kommt, etwas nicht zu tun, was sonst bisher noch niemand nicht getan hat.“

Ein gutes Beispiel dafür ist die E-Mail. Wie man verifizieren soll, ob eine Mail wirklich von einer bestimmten Person stammt oder von jemandem, der sich für diese Person ausgibt, ist schon seit vielen Jahren ein Problem. Dieses Problem zu lösen wäre eine fantastische Sache, aber dazu müssten sich alle auf eine Institution einigen, die definiert, wer wer ist, sozusagen eine globale Internet-Kraftfahrzeugbehörde, die Datenautobahnführerscheine für alle ausstellt. Eine solche Institution ins Leben zu rufen ist mehr oder weniger ein Ding der Unmöglichkeit. Tatsächlich sind wir damit noch nicht viel weiter als bei Veröffentlichung des RFC 822 (der Standard für ARPA-Internet-Textnachrichten) im Jahr 1982.

Dieser Standard besagt im Prinzip Folgendes: „Wir schicken jetzt erst mal die Nachricht, um die Identität der Absendenden kümmern wir uns später.“ Vierundvierzig Jahre später ist dieses Problem immer noch nicht gelöst. Viele identitätsbasierte E-Mail-Systeme, die diesen Standard ablösen wollten, kamen und gingen. Der Standard blieb.

Sei der erste, der auf die Idee kommt, etwas nicht zu tun, was sonst bisher noch niemand nicht getan hat – und die Welt wird dir die Tür einrennen.

Heute haben wir die Kunst des Elefantenessens verlernt. Anstatt erst einmal einen Bissen zu nehmen, versuchen wir, uns das ganze Ding auf einmal in den Mund zu stopfen. Kein Wunder, dass wir daran ersticken. (Nur damit keine Missverständnisse entstehen: Das ist eine Metapher. In der realen Welt sollte niemand Elefanten essen.)

Nehmen wir die Debatte um die Regulierung der Sozialen Medien. Sollten wir nicht etwas gegen Cybermobbing unternehmen? Gegen Hate Speech? Und was ist mit Bots? Wenn wir hier etwas bewegen wollen, müssten wir uns zunächst auf die Definition von „Cybermobbing“, „Hate Speech“ und „Bot“ einigen. Das wäre zwar wünschenswert, ist allerdings bestenfalls Zukunftsmusik. Ich will aber, dass das Internet jetzt und nicht irgendwann ein besserer Ort wird. Ein Bissen würde mir schon reichen. Selbst ein kleiner Sieg ist besser als ewiger Stillstand.

Auf eines sollten wir uns alle einigen können: Wenn jemand die Absicht hat, einem anderen eine Nachricht zukommen zu lassen, die dieser auch haben möchte, dann sollte unsere Technologie es ermöglichen, diese Nachricht zu übermitteln.

Eigentlich versteht sich das von selbst. Wenn Sie eine Telefonnummer wählen, ist es Aufgabe der Telefongesellschaft, Sie mit dieser Nummer und nicht mit einer anderen zu verbinden. Wenn Sie Tony’s Pizza anrufen, wollen Sie auch mit Tony’s Pizza sprechen – und nicht mit Domino’s Pizza, auch wenn Domino’s bereit ist, für eine derartige Rufumleitung zu bezahlen.

Wenn Sie mit der Fernbedienung auf CNN schalten, wollen Sie nicht, dass Ihnen der Kabelbetreiber stattdessen Fox zeigt – auch wenn Fox dafür bezahlt hat.

Wenn Sie jemandem auf Social Media folgen, sollten die Beiträge dieser Person in Ihrem Feed auftauchen.

Obwohl diese Forderung nun wirklich alles andere als radikal ist, wird sie heute kaum noch erfüllt. Facebook, Twitter, TikTok, YouTube und die anderen großen Plattformen behandeln die Liste der Personen, deren Beiträge wir sehen wollen, nicht als Anweisung, sondern als Vorschlag. Für die Plattformen sind solche Listen Übungsdaten, mithilfe derer sie Vorschläge für Sie erstellen. Mitteilungen der von Ihnen ausgesuchten Personen tauchen dann nur noch am Rande auf.

Das hat mehrere Gründe, die sich letztlich alle auf eine zunehmende Bevorzugung der Shareholder der Plattformen zu Ungunsten ihrer Nutzerschaft zurückführen lassen. Bei der Werbung lässt sich das gut beobachten: Die Anzahl der „gesponserten Beiträge“ ist gerade so hoch, dass die Plattform noch benutzbar bleibt. Andere dagegen müssen dafür bezahlen, Sie erreichen zu können – diejenigen nämlich, denen Sie auf auf Social Media folgen wollen. Wenn Sie den Feed einer bestimmten Person, eines Nachrichtensenders oder einer politischen Gruppierung abonnieren, müssen diese Akteure dafür bezahlen, dass Sie deren Inhalt zu Gesicht bekommen. Die Plattformen haben zwar blumige Namen wie „Boosting“ für diese Tributzahlungen, aber letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass Tony’s Pizza zusätzliche Gebühren zahlen muss, um zu verhindern, dass die Telefongesellschaft jeden, der bei Tony’s anruft, mit Domino’s verbindet.

Nicht genug, dass Sie mit Werbung zugemüllt werden – diejenigen, von denen Sie tatsächlich etwas hören wollen, müssen bezahlen, um Sie zu erreichen.

Das sollte verboten werden. Wenn jemand einem anderen eine Nachricht zukommen lassen und dieser die Nachricht auch annehmen will, sollte ein Telekommunikationsdienst genau das ermöglichen. Das muss auch für Onlineplattformen gelten. Wenn man auf Amazon nach einem bestimmten Produkt sucht, sollte man zuerst genau dieses Produkt angezeigt bekommen und nicht ein ähnliches von einer zu Amazon gehörigen Firma oder das eines Konkurrenzunternehmens, das für das Privileg bezahlt hat, ganz oben auf der Ergebnisliste aufzutauchen.

Ob Amazon die Produkte anderer nicht nur verkaufen, sondern Kopien davon herstellen und diese selbst veräußern darf, ist ein kompliziertes und heikles Thema. Die Frage, ob Amazon Sie dazu verleiten darf, auf etwas zu klicken, nach dem sie nicht gesucht haben, ist dagegen ganz einfach zu beantworten: Nein. Es sollte verboten werden, weil es sich um eine unlautere und irreführende Geschäftspraxis handelt.

Bei anderen Onlinesuchen stehen wir vor demselben Problem. Wenn Sie etwa eine bestimmte Band auf Spotify suchen, sollte die Musik dieser Band in der Ergebnisliste erscheinen und nicht die irgendwelcher anderer Bands, deren Plattenfirmen dafür gelöhnt haben.

Oder nehmen wir Google. Ob sich Google der „Selbstpräferenz“ schuldig macht und ob das erlaubt sein sollte oder nicht, ist seit Langem Gegenstand von Gerichtsverhandlungen und erbitterten Diskussionen. Wenn Sie beispielsweise nach einem Restaurant suchen, und Google Ihnen vor den Reviews von TripAdvisor oder Yelp die eigenen Rezensionen zeigt – geschieht das dann, weil Google ehrlich davon überzeugt ist, dass diese Reviews hilfreicher sind als die der Konkurrenz?

Das ist eine beinahe metaphysische Frage, und wir müssten schon in die Köpfe der Leute, die die Produkte entwerfen und managen, hineinschauen können, um ihre ehrliche Meinung über die relativen Vorzüge der verschiedenen Review-Portale zu erfahren.

Manchmal wird uns so ein Einblick gewährt. Yelp betreffend zum Beispiel gibt es eine verräterischen E-Mail-Wechsel, in dem sich jemand von Google bei seinem Vorgesetzten beschwert, weil er dafür sorgen soll, dass Google-Ergebnisse vor Yelp angezeigt werden sollen, obwohl die Rezensionen auf Yelp besser sind. Aber so größenwahnsinnig die Tech-Giganten auch sein mögen – wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie ihre Pläne zur Täuschung ihrer Kundinnen und Kunden jedes Mal schriftlich niederlegen.

Außerdem gibt es ein viel einfacheres Problem, das wir lösen sollten: Wenn Sie „Yelp Rezensionen von Tony’s Pizza“ in das Suchfeld eingeben, sollte der erste Link, der angezeigt wird, zu Yelp und nicht zu Google führen. Das sollte unser erster Bissen aus dem Elefanten sein, darauf können wir uns doch hoffentlich alle einigen.

Alles kommt irgendwann wieder – so auch das Prinzip, dass der Netzbetreiber alles in seiner Macht Stehende tun sollte, um Nachrichten von einer Person zu einer anderen zu bringen, die diese Nachrichten auch haben will. Das ist einer der kleinsten gemeinsamen Nenner, auf die wir uns vor vielen Jahren bei der Entstehung des Internets geeinigt haben.

Damals hieß eine solche Verbindung End-to-End (E2E). E2E sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Für viele Firmen ist sie jedoch eine ständige Versuchung. Sie wollen Ihre Nachrichten entschlüsseln, um sich zu vergewissern, dass Sie keine Urheberrechte verletzen, um herauszufinden, worüber Sie reden, damit sie ihre Werbung auf Sie zuschneiden können, oder einfach nur, um Ihre Daten an Informationsvermittler weiterzuverkaufen.

Für die Netzbetreiber hingegen ist E2E ein rotes Tuch. Sie wollen Datenraten priorisieren und extra bei denen dafür abkassieren, die Ihnen die Daten schicken wollen, nachdem Sie sie angefordert haben. Comcast beispielsweise hat die Übertragungsgeschwindigkeit von YouTube, Prime und Netflix verringert und dafür die von Peackock (ein weitaus weniger populärer Streamingdienst, der jedoch Comcasts Mutterkonzern NBC Universal gehört) auf das Maximum erhöht.

Das Gegenteil dieser Priorisierung ist Netzneutralität. Dieser von Tim Wu geprägte und sehr nützliche Begriff ist eigentlich nur eine andere Bezeichnung für End-to-End.

Netzneutralität muss auch für Netzbetreiber gelten. Wenn Sie einen Newsletter abonnieren, sollten Sie Gmail mitteilen können, dass es sich dabei nicht um Spam handelt und er daher nie, nie, nie wieder in Ihrem Spamordner landen darf.

Die Tatsache, dass dies nicht möglich ist – dass man den Algorithmus, der bei Google fürs Ranking zuständig ist, weder dauerhaft noch gewaltsam außer Kraft setzen kann –, ist eine bemerkenswerte Unverschämtheit, die nicht länger toleriert werden sollte.

Wir können endlos darüber diskutieren, ob Google bestimmte unverlangt versendete Mails, zum Beispiel Spendenaufrufe, als Spam behandeln sollte. Wenn Sie jedoch jemanden darum bitten, dass er Ihnen eine E-Mail schickt, sollte es doch selbstverständlich sein, dass Sie sie auch erhalten.

E2E ist ein leicht umzusetzendes Prinzip, und genauso leicht lässt sich herausfinden, ob jemand dagegen verstößt. Aber herauszufinden, ob Googles Spamfilter unverlangt versendete E-Mails ungerecht behandelt, ist eine komplizierte Angelegenheit. Erst einmal müssten wir uns darauf einigen, was „gerecht“ bedeutet. Dann müssten wir herausfinden, ob Googles Filter vorsätzlich ungerecht sind. Und schließlich bräuchten wir einen Konsens darüber, wie man das ändert – ein Vorgang, den man in Anwaltskreisen euphemistisch „faktenintensiv“ nennen würde. Schon bei der Vorstellung bekomme ich Kopfschmerzen.

Im Gegenteil dazu ist die Frage „Hat mir Gmail die Nachrichten einer bestimmten Person, der ich erlaubt habe, mit mir in Kontakt zu treten, auch zugestellt?“ viel einfacher zu beantworten. Wenn die Antwort nein lautet, liegt die Lösung auf der Hand. Dann müssen wir Google dazu verpflichten, alle E-Mails zuzustellen, die die Nutzerschaft haben möchte.

Genauso ist es bei Amazon. Um die Frage zu beantworten, ob Amazon eine „gute“ oder „schlechte“ Produktempfehlung ausgesprochen hat, müssten wir alle in Platons Höhle stiefeln und nach den wahren Formen Ausschau halten, die ihre Schatten an die Wand werfen. Wie anstrengend.

Die Frage, ob Amazon das Produkt angezeigt hat, dessen Bezeichnung oder Produktnummer ich in das Suchfeld eingegeben habe, ist wiederum sehr einfach zu beantworten. Falls dies nicht der Fall ist, gilt auch hier: Das erste angezeigte Ergebnis einer Suche sollte das Produkt sein, auf das die Suche am ehesten zutrifft.

Für App-Stores gilt das Gleiche: Wenn ich nach einer bestimmten App suche, sollte das erste Ergebnis auf der Liste diese App sein. Und für Social Media erst recht: Wenn ich einen bestimmten Kanal abonniere, dann will ich benachrichtigt werden, wenn darauf etwas Neues veröffentlicht wird.

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass E2E das Einverständnis von Sendenden und Empfangenden voraussetzt. Wenn Dienste wie TikTok, YouTube, Facebook oder Twitter ihren Content nach Priorität sortieren oder Vorschläge machen wollen, ist das lediglich ein großartiges Angebot. Allerdings muss der Algorithmus Vorschläge machen, die mit den Inhalten, die ich ausdrücklich erhalten will, mithalten können. Das ist die Grundvoraussetzung, damit die Konzerne nicht einfach einen Haufen Mist auskippen, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, dass ihre Vorschläge nichts mit dem zu tun haben, was ich gerne sehen will.

Und es gibt noch ein Argument, das für E2E bei Onlinediensten spricht: Selbst kleinere Firmen können diese Bedingung erfüllen. Viele Vorschläge zur Regulierung von Social Media setzen gewaltige Ressourcen (Kapital, Server, menschliche Moderatoren und so weiter) zu ihrer Durchführung voraus. Wenn wir diese Vorschläge zu Gesetzen machen, frieren wir das Internet ein, da nur die Konzerne, die den Markt beherrschen und durch ihre monopolistische Macht gewaltige Profite einstreichen, über die Möglichkeiten verfügen, diese Bedingungen erfüllen können.

E2E dagegen kann auch von kleinen Providern realisiert werden. Ihre Kirchengemeinde oder Ihr Oldtimerverein könnten durch den eigenen Mastodon-Server, E-Mail-Server oder Webshop dafür sorgen, dass das, wonach man sucht, immer an oberster Stelle der Trefferliste erscheint und so weiter. Indem man darauf verzichtet, den Leuten Vorschläge zu machen, die diese gar nicht haben will, spart man sogar Ressourcen. Das gilt auch für die kleinen Startups, Kooperativen und gemeinnützigen Organisationen, die Ihr Vertrauen und Ihre Unterstützung viel eher verdienen als die großen, etablierten Konzerne, die das Internet aktuell dominieren.

Wahrscheinlich brauchen wir noch weitere Regeln außer E2E, um das Internet zu bekommen, das wir haben wollen, doch das steht nicht im Widerspruch dazu, E2E zu unserem Leitbild zu machen und den Rest nach und nach zu klären.

Und diese Debatte sollten wir am besten in einem End-to-End-Internet führen, wo keiner der Beiträge im Spam-Ordner landet, unter Anzeigen verschüttet oder von irgendwelchen Filtern aussortiert wird.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Seine Romane sind im Shop erhältlich.

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