20. Juni 2023

Sozialer Medienwechsel

Jetzt gehen Facebook und Twitter auch den Weg, den alle Sozialen Netzwerke vor ihnen gegangen sind

Lesezeit: 7 min.

In letzter Zeit ist eine Massenabwanderung von Twitter und Facebook zu beobachten. Nach Jahrzehnten des ungebremsten Wachstums schrumpfen diese Social-Media-Plattformen mit beängstigender Geschwindigkeit.

Was uns eigentlich nicht überraschen sollte. SixDegrees, Friendster, MySpace, Bebo – so gut wie jedes soziale Netzwerk machte folgende Entwicklung durch: Von jetzt auf gleich erschien es als vorher kaum genutztes Nischenprodukt geradezu explosionsartig auf der Bildfläche, alle waren dabei und man musste ebenfalls beitreten, um mitreden oder überhaupt Kontakt halten zu können. Und genauso plötzlich implodierten diese Plattformen, wurden zu digitalen Geisterstädten, zur Pointe für Witze und schließlich zu vergessenen Ruinen.

Aber nicht Facebook und Twitter, die größer und langlebiger wurden als alle sozialen Netzwerke vor ihnen. Anscheinend hatten die Betreiber soziale Medien für die Ewigkeit erfunden. Lag es daran, dass sie Zugang zum Kapitalmarkt hatten und sich bessere Programmierer leisten konnten? Oder an der Genialität ihrer Gründer und Geschäftsführer? Oder war es einfach nur Glück?

Heute glaubt kaum noch jemand, dass diese Netzwerke ewig Bestand haben werden. Hektisch bringen die Nutzer ihre Daten in Sicherheit und teilen ihren Freunden mit, wie man sie erreichen kann, falls (wenn?) es die Plattform nicht mehr gibt.

Wie konnten derart solide Strukturen so schnell so vergänglich werden?

Dazu habe ich eine Theorie.

Wenn ein System an Wert gewinnt, je mehr Nutzer es hat, sprechen Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen vom „Netzwerkeffekt“. Ein Nutzer wird deshalb Mitglied bei Facebook, weil er die Gesellschaft derjenigen sucht, die bereits dort sind; andere kommen zu Facebook, weil sie die Gesellschaft dieses Nutzers suchen und so weiter. Der Netzwerkeffekt ist sozusagen ein durch positive Rückkopplung angetriebenes Schwungrad, das immer mehr an Fahrt aufnimmt und so für enormes Wachstum sorgt.

Aber er ist auch ein zweischneidiges Schwert. Wenn eine Plattform mit der Zahl ihrer Nutzer an Wert gewinnt, dann verliert sie auch an Wert, wenn die Nutzer abspringen. Und je weniger Wert man einer Plattform beimisst, desto leichter fällt es einem, sich davon zu verabschieden.

Von einer Plattform auf eine andere umzusteigen verursacht „Wechselkosten“ – damit bezeichnet man die Nachteile, die man beim Wechsel eines Produkts, einer Dienstleistung oder einer Gewohnheit hat. Wer mit dem Rauchen aufhört, nimmt nicht nur die hohen Wechselkosten des Nikotinentzugs in Kauf, er verzichtet auch auf die soziale Interaktion in der Raucherecke, die Freunde, die man dort gefunden hat oder in Zukunft finden wird. Auch das sind Wechselkosten.

In den Sozialen Medien werden die höchsten Wechselkosten nicht etwa durch das Erlernen einer neuen App oder dem Ausdenken eines neuen Passworts verursacht, sondern durch den Verlust des Kontaktes zu Communitys, Familienmitgliedern, Freunden und Kunden. Seine alten Kontakte bei der neuen Plattform zu suchen ist mühsam; sie dazu bringen, zum selben Zeitpunkt zum selben Anbieter zu wechseln, ist noch viel schwieriger.

Jede kommerzielle soziale Plattform ist bestrebt, den Umstieg so einfach und den Ausstieg so schwer wie möglich zu machen. Als Facebook beispielsweise für die Öffentlichkeit und nicht nur für Studenten zugänglich wurde, brauchte es eine Strategie im Umgang mit MySpace.

Damals war MySpace das größte soziale Netzwerk aller Zeiten. Es war unnötig komplex, voller Spam und nicht selten unerfreulich, hatte für MySpace-Nutzer jedoch einen großen Vorteil gegenüber Facebook: Ihre Freunde waren bereits auf MySpace.

Da war es egal, dass Facebook über ein besseres Interface oder mehr Funktionen verfügte. Es spielte auch keine Rolle, dass Facebook versprach, seine Nutzer nicht im Namen der Werbetreibenden auszuspionieren (das war tatsächlich das Argument, mit dem Facebook 2006 warb, als eine .edu-Adresse nicht länger Teilnahmebedingung war).

Facebook löste dieses Problem, indem es wechselwilligen MySpace-Nutzern ein Tool zur Überbrückung zwischen den beiden Plattformen an die Hand gab. Man musste einfach nur seine MySpace-Logindaten eingeben, worauf sich ein Bot bei dem betreffenden MySpace-Account anmeldete, alle dort gespeicherten Nachrichten abholte und in Facebook ausgab. Wenn man eine Antwort schrieb, loggte sich der Bot wieder bei MySpace ein und veröffentlichte sie dort unter dem Namen des Nutzers.

Facebook bemühte sich von Anfang an, die Wechselkosten für den Nutzer so niedrig wie möglich zu halten – was den Netzwerkeffekt und damit auch das rasante Wachstum begünstigte.

Als Facebook und Twitter ihre Vormachtstellung zementierten, versuchten sie gleichzeitig, den Wert, den die Nutzer generierten, durch entsprechende Modifikationen der Plattformen abzuschöpfen. Zunächst wurde der Fokus von den Nutzern zu den Werbetreibenden verlagert: Eine intensivere Ausspionierung der Nutzer ermöglichte zielgenauere und aufdringlichere Reklameformen, die den Werbetreibenden viel Geld wert waren.

Diese Beschissenheitifizierung war möglich, weil die Wechselkosten so hoch waren. Die riesigen Communitys, die sich durch den Netzwerkeffekt gebildet hatten, waren für die Nutzer so wertvoll, dass sie es sich nicht leisten konnten, Facebook zu verlassen. Sie hätten damit wichtige persönliche, berufliche, geschäftliche und nicht zuletzt Liebesbeziehungen aufgeben müssen. Und um zusätzlich zu verhindern, dass sich die Nutzer nicht davonschlichen, ging Facebook aggressiv mit rechtlichen Mitteln gegen alle Startups vor, die es ermöglichten, ohne die konzerneigenen Plattformen mit seinen Freunden in Kontakt zu bleiben. Twitter reduzierte konsequent jegliche Schnittstellenunterstützung, sodass es immer schwerer wurde, die Plattform ohne Einbußen zu verlassen.

Bei hohen Wechselkosten können die Plattformen ungeliebte Veränderungen vornehmen, ohne Kundenverluste befürchten zu müssen. Je höher die Wechselkosten, desto stärker kann der betreffende Konzern seine Nutzer ausbeuten – in dem Wissen, dass die Zumutungen erträglicher für sie sind als der Wechsel zu einer Alternative.

Und das hat meiner Meinung nach den großen sozialen Netzwerken den Todesstoß versetzt.

Jedes soziale Netzwerk hat Nachteile (Trolle, Bespitzelung, Werbung, das Risiko des Identitätsdiebstahls) und Vorteile (Gemeinschaft, Geschäft, Familie). So lange die Vorteile überwiegen, bleibt man dabei.

Wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen, bezeichnet die Wirtschaftswissenschaft dies ganz banal als Gewinn. Der Gewinn ist die Differenz zwischen dem Nutzen, den man von der Inanspruchnahme einer Dienstleistung hat und den Nachteilen, die dadurch entstehen.

Eine Firma, die keine Angst vor Kundenabwanderung haben muss (beispielsweise wegen hoher Wechselkosten und/oder wenigen Wettbewerbern), kann diesen Gewinn abschöpfen, indem sie die Nutzer intensiver ausspioniert, ihnen mehr Reklame zeigt oder die Content-Moderation einschränkt.

Sobald man den Nutzern den Gewinn abgeknöpft hat, kann man ihn an die Werbekunden weitergeben – beispielsweise, indem man Reklame billiger oder allgegenwärtiger macht. Das erhöht den Umsatz, lässt den Aktienkurs steigen und bringt noch mehr Werbekunden.

Noch lieber wäre es dem Konzern selbstverständlich, wenn der gesamte Gewinn in der eigenen Bilanz auftaucht. Wenn sowohl Nutzer als auch Werbekunden an die Plattform gefesselt sind, kann man auch letzteren den Gewinn schmälern. Zum Beispiel, indem der Plattformbetreiber Produkte herstellt, die mit denen die Werbekunden in direktem Wettbewerb stehen. Oder indem der Anzeigenmarkt manipuliert wird (wie es Google und Facebook illegalerweise im Rahmen des Geheimprojekts „Jedi Blue“ getan haben).

Je höher die Wechselkosten, desto größer der Gewinn, den sich die Technikfirmen unter den Nagel reißen – zum Nachteil von Werbekunden und Nutzern.

Und genau das ist MySpace und Bebo und Friendster und den anderen Leichen auf dem Social-Media-Friedhof passiert. Sie haben die Bedingungen für Nutzer und Werbekunden soweit verschlechtert, bis die Wechselkosten so niedrig waren, dass sich ein Wechsel gelohnt hat.

Wenn sich Nutzer und Firmen von einem Social-Media-Giganten abwenden, tritt der umgekehrte Netzwerkeffekt ein: Die Menschen, mit denen man auf MySpace zu tun hatte, sind woandershin abgewandert, und ohne Kontakte war es sinnlos, sich von MySpace weiter gängeln zu lassen. Also hat man auch gewechselt, was wiederum für andere den Ausschlag gab, ebenfalls umzuziehen. Derselbe Mechanismus, der für ein rasantes Wachstum gesorgt hat, beschleunigt nun den Untergang.

Die Social-Media-Plattformen, die heute vor dem Abgrund stehen, haben sich sehr lange gehalten. Sie haben Änderungen im Urheber-, Patent-, Nutzer und Vertragsrecht durchgeboxt, die es ihren Konkurrenten so gut wie unmöglich gemacht haben, eine Alternative zu ihren Angeboten anzubieten. Weil das ganze soziale Umfeld in ihren Produkten gefangen war und einem der Ausstieg so schwer gemacht wurde, konnten sie die Nutzer wie den letzten Dreck behandeln, ohne befürchten zu müssen, diese zu verlieren. Sie haben den Gewinn bis zum letzten Tropfen aus ihnen herausgequetscht.

Und dann … ging es bergab. Mark Zuckerberg entwickelte die fixe Idee, dass wir alle als beinlose Witzfiguren mit lächerlich niedriger Polygonzahl in einem Metaverse leben müssen, in dem keiner sein will, noch nicht einmal die Facebook-Angestellten, die es entworfen haben. Twitter wurde von einem Milliardär mit zu großem Selbstbewusstsein und zu niedriger Aufmerksamkeitsspanne gekauft, der eine Karte nach dem anderen aus dem Kartenhaus herausnahm, um zu sehen, wann das System zusammenfällt. Und als es so weit war, wurden wir alle darunter begraben.

Die Plattformen wurden immer unzumutbarer, bis zu dem Punkt, an dem die meisten kurz davor waren, zu kündigen, weil sowohl Privat- als auch Geschäftskunden keinen Gewinn mehr zu erwarten hatten.

Es brauchte nur einen Tropfen, um das Fass zum Überlaufen und die Nutzer zum Wechseln zu bringen. Und nun wird Facebook und Twitter dasselbe Schicksal wie MySpace und Bebo ereilen.

Ruhet in Frieden.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Seine Romane sind im Shop erhältlich.

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