3. August 2023 2 Likes

Im Gespräch mit Lucy Kissick („Projekt Pluto“)

Die englische Autorin über Astrophysik, Mutismus, die Perspektive der Menschheit und ihre Nominierung für den Arthur C. Clarke Award

Lesezeit: 8 min.

Dr. Lucy Kissick (im Shop) ist eine Astrogeologin und Science-Fiction-Autorin aus England. Während sie für ihre Doktorarbeit im Labor die Seen des Mars nachbildete, fütterte sie einen erfolgreichen YouTube-Kanal über das Forschen und Schreiben – und begann mit der Arbeit an ihrem SF-Romandebüt „Plutoshine“, das gerade als „Projekt Pluto“ bei Heyne auf Deutsch erschienen ist (zur Rezension geht’s hier).

Der Roman, der 2023 dank seiner feinen Mischung aus faktensicherer Hard-SF und futuristischer SF-Unterhaltung prompt für den Arthur C. Clarke Award nominiert wurde, handelt von einem Terraforming-Projekt auf Pluto, Sabotage, Familie, Freundschaft, Loyalität und dem Erstkontakt mit Aliens. Im Mittelpunkt stehen der gutherzige Terraforming-Ingenieur Lucian und das an Mutismus leidende, fern der Sonne auf Pluto geborene Mädchen Nuo. Mit ihrer Verbindung steht und fallen Projekt Plutoshine und das Schicksal der Menschen auf der Station inmitten des schroffen, uralten Eises.

Im Interview spricht Lucy Kissick über ihren zwischen England und Österreich entstandenen Roman, H. G. Wells, Pluto als perfekte Science-Fiction-Kulisse, das Schreiben, die Zukunft der Menschheit trotz Klimakrise, den Status quo künstlicher Intelligenz und einiges mehr.

 


Foto © privat

Hallo Lucy. Wann wusstest du, dass du beruflich etwas mit Wissenschaft und Astrophysik machen willst?

Hallo! Ich erinnere mich, dass ich meinen Professor nach einer Vorlesung über die Geologie des Mars fragte, ob es sich dabei wirklich um ein Thema handle, das Leute echt erforschten – und ich weiß noch, mit wie viel Ehrfurcht mich die Antwort erfüllte. Ich konnte nicht glauben, dass Menschen sich beruflich mit fremden Welten befassen; es erschien mir wie eine Kindheitsfantasie. Ich wechselte noch am selben Tag in den Masterstudiengang und schrieb schließlich meine Doktorarbeit über dieses Thema.

Wenn du nur einen deiner liebsten oder für dich bedeutungsvollsten Science-Fiction-Romane mit auf eine Reise zu einem anderen Planeten nehmen könntest – welcher wäre das, und wieso?

Was für eine wunderbare Frage. Da kommt sofort H. G. Wells’ „Die Zeitmaschine“ in den Sinn, denn dieses Buch hat alles: eine verblüffende Prämisse (das ist der Roman, der erstmals Zeitreisen mechanisierte), einnehmende Figuren und einen Strudel aus Emotionen, der von Verwunderung bis hin zu Entsetzen reicht und der einen am Ende sowohl erschöpft als auch erregt zurücklässt. Mich inspiriert auch die Unvollkommenheit des Romans: Im Vorwort von 1931 bezeichnet Wells den Roman selbst als amateurhaft und schlecht getaktet. Wie beruhigend, dass man nicht perfekt sein muss, um geliebt zu werden!

Kannst du uns ein bisschen was über die Entstehung deines Romans „Projekt Pluto“ erzählen? Du hast u. a. daran geschrieben, als du in Österreich geforscht hast, oder?

Ich war tatsächlich in Österreich, kurz nachdem ich mit dem Schreiben begonnen hatte – dort gibt es im atemberaubenden Tirol jedes Jahr eine Schule der Europäischen Weltraumorganisation. Es war ein unglaublich aufregender Sommer: Ich lernte so viel über Missionsdesign, während ich mich zugleich davonschleichen und schreiben wollte! Ich bin wahnsinnig dankbar für diese Zeit.

Die Idee für „Projekt Pluto“ kam mir allerdings schon ein halbes Jahr vorher. Ich wollte über jemanden schreiben, der sich nach etwas sehnt, das wir alle als selbstverständlich erachten. Daraus wurde meine Protagonistin Nou, das kleine Mädchen, das auf dem Pluto aufwächst und sich danach sehnt, die ferne Sonne zu sehen. Plots und Subplots, Helden und Schurken … je mehr Bilder dieser winzigen Welt ich studierte und Pluto so kennenlernte – wie ich es auch bei meinen Recherchen für den Mars getan hatte –, desto mehr wurde diese Idee zu einer Geschichte, die ich erzählen musste, und daraus wurde „Projekt Pluto“.

Nou ist neun, zehn Jahre alt, eine tolle Kinderfigur. Sind kindliche Figuren schwieriger zu schreiben als erwachsene?

Es war eine Freude, Nou zu schreiben, weil sie so arglos ist. Sie heckt nichts aus und führt nie etwas im Schilde, sondern ist einfach, und sie trägt ihr Herz für alle offen zur Schau. Das liegt zum Teil daran, dass das ihr Naturell ist, aber mit ihrem Alter geht sicherlich auch eine gewisse Einfachheit einher. Sie zu schreiben war wie einen klaren Kopf zu bekommen: Auch ich durfte in einer so unkomplizierten Welt wie der ihren leben. Erwachsene auf der anderen Seite müssen sich mit allen Grauzonen des Lebens auseinandersetzen: Mein Ingenieur Lucian versucht, genauso einfach zu leben, handelt sich dafür aber eine Menge Ärger ein, und Nous älterer Bruder Edmund muss Entscheidungen treffen, die ihn fast zerstören. In diesem Sinne war es eine willkommene Abwechslung, sich in Nous Kopf aufzuhalten.

Der Roman behandelt, teils durch Nou, auch Themen wie Mutismus, Depression, psychologischen Missbrauch. Wieso hast du diese Elemente in den Roman eingebaut, und hattest du Sensitivity-Reader dafür?

Ich habe mich dafür entschieden, Nou Mutismus durchleben zu lassen, weil ich zu dieser Zeit selbst ein stressbedingtes Stottern entwickelt hatte. „Wow“, dachte ich mir sinngemäß, „stell dir vor, wie schrecklich es wäre, einfach ganz mit dem Sprechen aufzuhören – das sollte ich schreiben.“ Dann wurde mein eigenes Stottern so schlimm, dass ich schließlich einen Großteil von Nous Erfahrung umschrieb, weil ich mir das nicht mehr vorstellen musste. Das hatte ich nie beabsichtigt. Für dieses Thema waren also keine Sensitivity-Reader nötig.


Lucy Kissick hilft auf ihrem YouTube-Channel durchs Studium

Was Depressionen und psychischen Missbrauch angeht, so hat mich eine Kritik sehr getroffen, in der mir jemand vorwarf, dass ich diese Dinge offensichtlich nie selbst erlebt habe. Ich glaube nicht, dass man so etwas jemals annehmen sollte. Das sind Erfahrungen, die jeden anders betreffen, und deshalb kann es keine „richtige“ Art und Weise geben, sie darzustellen. Abgesehen davon gehöre ich auch zu dem etwas unmodischen Lager, in dem man nicht glaubt, dass man etwas erlebt haben muss, um darüber schreiben zu können, solange man sorgfältig recherchiert. Ich war beispielsweise noch nie auf dem Pluto! Dem Himmel sei Dank können wir über das schreiben, was wir nicht erlebt haben.

Dein Roman hat für mich die perfekte Menge an Hard-SF und wissenschaftlichen Fakten. Wann wusstest du, dass die Mischung stimmt, und warst du manchmal versucht, mehr faszinierenden Wissenschafts-Stoff über Pluto ins Buch aufzunehmen?

Ah, ich bin wirklich froh, dass die Balance stimmt! Eisschichten aus gefrorener Luft, Berge aus gefrorenem Wasser, Eisvulkane, die einen begrabenen Ozean ausbrechen lassen … Dieser Ort ist wie geschaffen für Science-Fiction. Ich schätze, sobald ich mich selbst für einen Ort in Begeisterung versetzt habe, weiß ich, dass ich genug geschrieben hatte; jedes weitere Detail, sofern es die Szene nicht förderte, hätte nur meinem eigenen Schwelgen gedient.

Wenn du dir die Erde und die Klimakrise betrachtest – sind der Weltraum und das Terraforming die einzige Lösung für die Zukunft der Menschheit?

Keinesfalls: Wir würden sofort sterben, wenn wir auf Mars oder Pluto einen Atemzug täten, und es ist nicht klar, ob wir das jemals ändern können. Unterdessen gibt es auf der Erde seit vier Milliarden Jahren Leben. Sie ist ein wunderschöner Ort, der im Laufe der Zeit große und schreckliche Veränderungen erlebt hat; sogar nach menschlichen Zeitmaßstäben, mit mehreren Vergletscherungen in den letzten Millionen Jahren. Zwischen dem Drang der Menschen hin zu Veränderung, den ich beobachten kann, und dem Einfallsreichtum, den wir haben, bin ich vorsichtig optimistisch. Ich fürchte, auch das ist wieder eine unmodische Ansicht!


Die Originalausgabe

Du hast einen YouTube-Kanal über dein Leben als Autorin und Wissenschaftlerin. Würdest du sagen, dass man ohne YouTube, BookTok, etc. heute keinen Erfolg mehr mit einem Roman haben kann?

BookTok, kreisch! Ich habe YouTube während meiner Doktorarbeit als Tagebuch genutzt, es aber kurz nach meinen Abschluss aufgegeben, um mehr die Natur draußen vor meiner Tür zu genießen (ich lebe jetzt im englischen Lake District). Ich bin mir bewusst, dass meine fehlende Internetpräsenz nicht gerade verkaufsfördernd ist – aber ich habe es satt, mich selbst zu verkaufen, und genau das ist es, wonach sich der Kanal anzufühlen begann. Ich werde naiv sein und törichterweise hoffen, dass sich das Buch von allein verkauft…

In der Station auf Pluto gibt es in deinem Roman eine freundliche, hilfsbereite KI. Gerade wird viel über KI gesprochen, die unser Leben, die Kunst, das Schreiben verändert. Wie siehst du das Thema im Moment?

KI fängt an seltsam zu werden. Ich finde, dass Kunst aus menschlichen Erfahrungen entstehen sollte, aus den schwierigen Dingen, die uns aufhalten, wie Schmerz und Liebe. Man muss sie sich verdienen, meist durch Leiden. Deshalb fühlt sich Ghostwriting immer ein bisschen wie Betrug an, und Songs, die nicht vom Sänger geschrieben wurden, wirken ein bisschen hohl. Ich glaube, die KI kann die menschliche Erfahrung immer nur imitieren, und selbst wenn sie bei jemandem echte Emotionen hervorruft, kommt sie nicht authentisch von irgendwoher. Vielleicht war ich mit der KI in „Projekt Pluto“ unkreativ; ich hätte ihn in seiner Freizeit Symphonien komponieren lassen sollen.

Du hast mir erzählt, dass deine Schwester in Berlin lebt und du schon am Erscheinungstag das Foto eines Exemplars der deutschen Ausgabe von „Projekt Pluto“ gesehen hast …

Ja, wir haben eine meiner Schwestern an Berlin verloren! Sie liebt die Stadt und spricht nach sieben Jahren dort fließend Deutsch – sie wird mir also sagen, wie gut die Übersetzung ist! Es ist immer schön, sie zu besuchen. Und das deutsche Cover sieht großartig aus. Es ist herrlich, mir Nou und Lucian und Edmund in einer deutschen Ausgabe vorzustellen, und auch in einer tschechischen! Es macht mir wirklich klar, dass Menschen, die ich nie getroffen habe, diese Figuren kennenlernen, die mir so sehr am Herzen liegen. Ich glaube, das ist meine wahrhaftigste Motivation für das Schreiben: sie real werden zu lassen, in dem Sinne, dass sie nicht mehr nur in meinem Kopf sind.

Und was bedeutet dir die Nominierung für den Arthur C. Clarke Award aktuell?

Die Nominierung für den 2023er Arthur C. Clarke Award ist etwas, womit ich nie gerechnet habe. Schon die Nominierung ist eine wunderbare Überraschung, völlig egal, was im August passiert, wenn der Gewinnende bekannt gegeben wird. Die Nominierung bedeutet insofern viel für mich, als dass ich das Schreiben jetzt ernster nehme: Ich arbeite nur noch Teilzeit als Wissenschaftlerin, um mich auf mein nächstes Buch zu konzentrieren.

Ich habe schon ein Drittel geschrieben, und diesmal geht es um den Mars – den Planeten meiner Doktorarbeit, den ich so sehr kenne und liebe. Es ist keine direkte Fortsetzung von „Projekt Pluto“, aber bekannte Gesichter könnten wieder auftauchen. Und es dürfte den Mars – und Terraforming – in einem gänzlich neuen Licht zeigen. Solange ich davon begeistert bin, werde ich weiter schreiben. Und wenn ich auch andere Menschen begeistern kann, dann weiß ich, dass ich es richtig mache.

Das tust du. Viel Erfolg mit deinem neuen Roman, wir freuen uns darauf!

Lucy Kissick: Projekt Pluto • Roman • Aus dem Amerikanischen von Peter Robert • Heyne, München 2023 • 544 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 17,00 • im Shop

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