11. September 2023 2 Likes

Im Gespräch mit John Marrs („The One“)

Der englische Autor über seinen aktuellen Roman „The Marriage Act“, George Orwell, Überwachung durch Big Tech, Influencing und die Zukunft

Lesezeit: 8 min.

Der Engländer John Marrs (im Shop) war als Journalist zwanzig Jahre für den „Guardian“, „Total Film“, „Empire“ und den „Independent“ tätig. Schließlich fing er an, Romane zu schreiben und zu veröffentlichen, erst Psycho-Thriller, dann auch Science-Fiction. Seine aus mehreren Perspektiven erzählten Near-Future-Bücher zeichnen sich dadurch aus, dass Marrs bestimmte technologische Aspekte und Entwicklungen unserer Gegenwart in spannenden SF-Geschichten über ein greifbares Morgen extrapoliert, auf die Spitze treibt. Sein Roman „The One – Finde dein perfektes Match“ (im Shop) über eine Gendatenbank-basierte App zur Beziehungsglücksuche wurde sogar von Netflix als Streaming-Serie adaptiert.

In seinem neuesten Roman „The Marriage Act – Bis der Tod euch scheidet“ (im Shop) geht es nun um Menschen, die ihre Ehe freiwillig stichprobenartig durch Gadgets in ihrem Zuhause und an ihrem Handgelenk überwachen lassen. Mit der kontrollierten Smart-Ehe gehen einige finanzielle Vorteile einher – doch sowie die Ehe der KI zufolge knirscht oder anderswie aus dem Ruder läuft, sind Komplettüberwachung, Beratung und weitere invasive, drastische Maßnahmen fällig. Das lässt weder einzelne Ehen und Familien, noch die Gesellschaft als Ganze unbeeindruckt, die mit einflussreichen Influencern und politischen Extremisten eigentlich schon genug zu stemmen hat. Im Interview spricht John Marrs über inspirierende Technologie im Alltag, Eheberatung, George Orwell (im Shop), Überwachung, Datenschutz und seine nächsten Romanprojekte.

 


John Marrs. Foto © R. Gershinson

Hallo John. Wie hat die Adaption deines Romans „The One – Finde dein perfektes Patch“ als Netflix-Serie dein Leben verändert – oder vielleicht sogar deine Art zu schreiben, etwa durch mehr Druck oder mehr Freiheiten?

Ich glaube nicht, dass es meine Art zu schreiben verändert hat. Ich habe schon immer versucht, beim Schreiben einen filmischen Ansatz zu nutzen, mir die Szenen in meinem Kopf vorzustellen, als würde ich sie in einem Kino abgespielt sehen. Und auch mein Alltag hat sich nicht sonderlich verändert. Allerdings hat die Adaption meinen Namen bei anderen Schreibenden bekannter gemacht, die vorher noch nichts von mir gehört hatten. Auf Instagram führe ich jede Woche ein 60-Sekunden-Interview mit einem anderen Autor oder einer anderen Autorin – eine Schnellfeuerliste mit Fragen. Die Adaption auf Netflix – die mir einen größeren Bekanntheitsgrad verschafft hat – half mir, Schreibende wie Peter Swanson, Riley Sager und Colleen Hoover für eine Teilnahme zu gewinnen. Die Serie hat mir auch ein größeres lesendes Publikum beschert, aber ich habe mir nicht gestattet, mich mehr unter Druck zu setzen. Wie du angedeutet hast, hat es mir wahrscheinlich mehr Freiheiten gebracht, um das zu schreiben, was ich schreiben möchte, weil ich jetzt mehr Leserinnen und Leser habe. Da ich sowohl psychologische Thriller als auch spekulative Romane schreibe, haben Leute, die normalerweise nur spekulative Romane lesen, auch in meine psychologischen Romane hineingeschaut und festgestellt, dass sie ihnen gefallen.

In deinen SF-Romanen schreibst du über eine Zukunft, deren technologische Auswüchse wir alle schon jetzt in unseren Leben spüren: Dating-Apps, smarte Autos, die Schwierigkeit beim Bewahren von persönlichen Daten und Geheimnissen. Scannt ein Teil deines Gehirns den Alltag ständig auf neue Trigger und Ideen für Geschichten?

Mein Gehirn hält immer Ausschau nach Technologien, die ich in meine Romane einweben kann. Deshalb lese ich gerne Online-Zeitungen und -Magazine, um mich auf dem Laufenden zu halten. Manchmal lese ich über unwichtige Dinge, die ich dann in den Hintergrund eines Buches einbaue, und hin und wieder kann daraus das Konzept und das Rückgrat der Geschichte werden. Alles kann ein Trigger dafür sein, etwas, das ich gelesen habe, in einen Roman zu verwandeln. Bei „The Passengers“ war es das Aufkommen von selbstfahrenden Autos. „Für The Marriage Act“ waren es unsere Alexas und HomePods. Bei „The One“ war es der Umstand, selbst geheiratet zu haben. Manchmal kommt erst die Geschichten und dann die Technologie, gelegentlich ist es andersherum. Aber ich lasse nie zu, dass die Technik die ganze Geschichte an sich reißt. Meine Romane sind immer charakterorientiert, also stehen die Menschen immer an erster Stelle. Meine Figuren finden sich in einer Ära wieder, in der die Technologie ihr Leben beeinflusst, und ich möchte erkunden, wie sie darauf reagieren.

Kannst du uns etwas mehr darüber erzählen, wie die Idee für „The Marriage Act – Bis der Tod euch scheidet“ zusammengekommen ist? Und wie hast du das Thema Eheberatung angegangen?

Die Idee zu diesem Buch stammt aus einem Gespräch mit meinem Mann. Ein Paar, das wir kannten und von dem wir dachten, dass es ein „ewiges Paar“ sein würde, hatte beschlossen, sich zu trennen. Daraufhin stellten wir uns die Frage: „Wenn ein technisches Gerät dir sagen könnte, dass deine Ehe gefährdet ist, würdest du ihm glauben und auf seinen Rat hören?“ Die offensichtlichste Technologie wären unsere Alexas oder HomePods oder Smartphones und -Watches. Mein Roman geht noch einen Schritt weiter. Eine der Figuren in „The Marriage Act“ ist ein Eheberater, der eine versteckte Agenda verfolgt, wie sich herausstellt. Um für diese Figur zu recherchieren, habe ich viele - und ich meine WIRKLICH VIELE - Bücher gelesen, die von Eheberatern und Eheberaterinnen geschrieben wurden und in denen es um Beziehungsratschläge geht. Als ich damit fertig war, fühlte ich mich selbst wie ein qualifizierte Berater!

In „The Marriage Act“ akzeptieren die Menschen die smarte Ehe und die damit einhergehende Überwachung auch wegen bestimmter sozialer Vorteile, Leistungen. Machen wir das alle auf gewisse Weise schon jetzt zu oft? Unsere Daten und unser Privatleben preisgeben, um Smartphones, Alexa, Facebook etc. zu nutzen?

Ich denke, die meisten von uns akzeptieren, dass unsere intelligenten Geräte uns zuhören. Wir haben alle schon gesehen, wie die bunten Ringe aufleuchten, wenn wir es am wenigsten erwarten. Aber wie viele von uns erforschen diese Geräte wirklich, um zu sehen, wie sehr sie uns tracken, uns folgen und uns aufnehmen? Es gibt die offensichtlichen Datenschutzeinstellungen, aber oft gibt es noch weitere, die darüber hinausgehen. Die meisten von uns haben entweder nicht nachgeschaut, um zu sehen, welche das sind, oder sind einfach nicht beunruhigt. Wenn wir ein Konto in den sozialen Medien eröffnen, geben wir unsere Privatsphäre her. Ich glaube, dass ein Großteil der Bevölkerung das einfach so hinnimmt. Mich eingeschlossen.

Hast du Zeiten oder Zonen in deinem Leben, wo Gadgets außen vor bleiben müssen, und ist das vielleicht ein SF-Autorending?

Ich habe nicht mal eine smartphone-freie Zone in meinem Leben. Ich benutze die gleichen Geräte und Websites wie alle anderen. Ich reagiere allerdings nicht auf diese Facebook-Ads, die anbieten, dein Foto in einen Avatar zu verwandeln oder ähnliches, weil sie immer deine E-Mail-Adresse wollen und ich die lieber nicht herausgeben möchte. Das ist aber nur ein Fall, wo man darauf achten muss, mit wem man seine Daten zu teilen gewillt ist.

Dein neuer Roman beginnt mit dem Suizid einer berühmten Influencerin. Inwieweit interagierst du selbst mit der Welt des Influencings, zumal ja auch BookTok immer wichtiger für unsere Branche wird?

Ich habe meine Karriere im Selbstverlag begonnen, also waren es Facebook-Buchclubs, Blogger und Twitter, die mir geholfen haben, mir eine Karriere aufzubauen. Und jetzt sind es Instagram und TikTok, die dabei helfen, meine Bücher über Rezensionen und Fotos zu verbreiten. Doch abgesehen von BookTokern und Instagram-Buchbloggern habe ich Influencern aus anderen Bereichen nie wirklich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Und ich bin auch keinem gefolgt, bis ich dieses Buch geschrieben habe. Daher verbrachte ich zwei Tage damit, mir jeden YouTube- und Instagram-Clip anzusehen, den ich finden konnte, um mehr über sie herauszufinden. Und es war eine Offenbarung! Millionen von Abonnenten schalten ein, um zu sehen, wie Influencer eine Schachtel mit Schönheitsprodukten öffnen, oder um sich sagen zu lassen, wohin sie in den Urlaub fahren oder was sie anziehen sollen. Die Kameras verfolgen jeden Moment im Leben eines Influencers und dokumentieren alles, von dem, was sie essen, bis hin zu der Art und Weise, wie sie feiern und schlafen. Kein Bereich ihres Lebens ist tabu. Und wenn sie ihr Leben so leben wollen und die Leute das sehen wollen, dann viel Glück für sie alle.

In „The Marriage Act“ geht es auch darum, wie viel Einfluss die Regierung auf das Leben jedes einzelnen haben sollte. Wann ist zu viel Kontrolle durch den Staat zu viel – und wann zu wenig nicht genug?

Ich denke, meine Bücher sind ein warnendes Beispiel dafür, wenn die Dinge zu weit getrieben werden und wann es zu viel Kontrolle ist. Ich bin der Meinung, dass es ein Gleichgewicht geben muss. Wir als Einzelpersonen und unsere Regierungen haben alle eine Verantwortung, wenn es um Kontrolle geht, und wir machen es nicht immer richtig.

Das Thema Überwachung ist ziemlich orwell-mäßig, der Kern der literarischen dystopischen Seele. Was bedeuten dir George Orwell und „1984“ heute noch, als Leser wie als Autor?

Ich erinnere mich daran, dass ich „Farm der Tiere“ in der Schule gelesen habe und davon überwältigt war. Ich habe es vor Kurzem zum ersten Mal seit 35 Jahren wieder gelesen, und es hat nichts von seiner Wirkung auf mich verloren. „1984“ habe ich nur einmal gelesen, und auch das war in der Schule. Seitdem habe ich es bewusst nicht mehr gelesen, obwohl ich ein Exemplar in meinem Regal stehen habe. Wenn man Bücher schreibt, die im Ansatz ein wenig dystopisch sind, wird man von Rezensierenden oft mit Orwell verglichen. Sein Thema der ständigen Überwachung durch den Staat – oder in der heutigen Zeit durch Big Tech – ist ein zentrales Element in „The Marriage Act“. Natürlich könnte ich nie mit Orwell mithalten und würde es auch nie versuchen, weil ich kläglich scheitern würde! Aber ich möchte mich auch nicht so sehr von ihm beeinflusst fühlen, dass ich unbewusst versuche, auf seinen Ideen aufzubauen. Wenn ich mit dem Schreiben dystopischer Romane fertig bin, werde ich wieder „1984“ lesen.

All deine Science-Fiction-Romane sind in demselben Universum angesiedelt, „The Marriage Act“ baut z. B. auf „The One“ auf und erwähnt auch „The Passengers“. Bleibt dieser Near-Future-Kosmos fürs Erste deine Komfortzone, oder wirst du in einem deiner nächsten SF-Romane vielleicht auch mal über das All schreiben?

Ich habe nicht vor, über den Weltraum zu schreiben! Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie viel ich recherchieren müsste, um das erfolgreich umzusetzen. Ich werde mich an das halten, was ich kenne, und das sind Figuren in einer leicht futuristischen Zeit. Mein nächster spekulativer Roman dreht sich um künstliche Intelligenz und Familien, die im Metaverse geschaffen werden, damit Menschen in der realen Welt sie aufzuziehen können. Erinnert sich noch wer an Tamagotchi-Haustiere? Und einer der Hauptcharaktere in diesem Buch hatte seinen ersten Auftritt mit einer kleinen Rolle in „The Passengers“. Danach habe ich noch eine Idee für einen Roman, der durch etwas in „The Marriage Act“ inspiriert wurde. Ich werde so lange spekulative Romane schreiben, bis ich nichts mehr zu sagen habe. Oder KI sie für mich schreibt.

John Marrs: The Marriage Act - Bis der Tod euch scheidet • Roman • Aus dem Amerikanischen von Felix Mayer • Heyne, München 2023 • 560 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 17,00 • im Shop

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