4. Juni 2022 2 Likes

„Die neue Wildnis“ - Im Gespräch mit Diane Cook

Über das Campen, den Umweltschutz und die primitive Lebensweise

Lesezeit: 6 min.

Die amerikanische Autorin Diane Cook (im Shop) arbeitete früher als Produzentin der Radiosendung „This American Life“ und wurde 2016 mit einem Stipendium des National Endowment for the Arts bedacht. In ihrem Debütroman „Die neue Wildnis“ (Leseprobe) geht es um eine nahe Zukunft, in der die Städte noch verschmutzter und lebensbedrohlicher geworden sind – weshalb einige Menschen liebend gerne an einem Experiment teilnehmen, das es ihnen ermöglicht, in einem Naturschutzgebiet zu leben. Doch ein Camping-Ausflug ist das nicht. In der neuen Wildnis gelten strenge Regeln, die von Rangern durchgesetzt werden. Die ungezähmte Natur in diesem Areal soll durch die Leute, die sie durchstreifen, nämlich auf keinen Fall verändert oder gefährdet werden. Die primitive Lebensweise als Jäger und Sammler birgt viele Gefahren und Entbehrungen für die modernen Menschen. Außerdem entstehen unter den Aufsehern und den Aussteigern problematische Machtstrukturen. Für ihren stilsicheren Roman, in dem es auch um das Verhältnis von Müttern und Töchtern geht, wurde Diane Cook 2020 für den renommierten Booker Prize nominiert. Ihre Kurzgeschichtensammlung „Man V. Nature“ von 2014 war zudem im Rennen für den Guardian First Book Award, den Believer Book Award und den Los Angeles Times Art Seidenbaum Award for First Fiction, während ihre Texte auch in Granta, Harper’s, Tin House, Best American Short Stories und auf BuzzFeed erschienen. Im diezukunft.de-Interview spricht sie über das Campen mit ihrer Familie, die Inspiration zu ihrem erfolgreichen Roman sowie die Sehnsucht nach der Wildnis.

 

Hallo Diane. Wann waren Sie das letzte Mal in der Wildnis campen, und wie war es?

Tatsächlich war ich erst vergangenes Wochenende campen. Wir haben zwei kleine Kinder, deshalb ist es sehr zivilisiertes Car-Camping – großes Zelt, Kühlboxen voll mit Essen, kaum Wanderungen. Aber es hat Spaß gemacht. Es war der erste Camping-Ausflug meines Sohnes. Er ist gerade zwei Jahre alt geworden. Unsere Tochter ist in diesem Alter schon ein paar Mal campen gewesen, also versuchen wir, diesen Sommer verlorene Zeit aufzuholen. Wir leben in Brooklyn, New York, das sehr urban ist, und ich möchte, dass meine Kinder sich wohl damit fühlen, die Wälder zu besuchen oder unter Sternen zu schlafen. Mit ihnen Campen zu gehen, ist mir daher wichtig.

Machen Sie sich viele Gedanken über den CO2-Fußabdruck Ihrer Familie, die Müllmengen und andere Dinge in Ihrem Alltag?

Da wir in einer Stadt leben, verringert sich unser CO2-Fußabdruck automatisch. Wir fahren nicht so oft mit dem Auto, wir besitzen nicht so viele Dinge und haben nicht so viel Platz, den wir mit dem füllen könnten, was wir konsumieren. Ich bin der Meinung, dass mein CO2-Fußabdruck – oder Ihrer – zwar ein Problem darstellt, aber nicht das Hauptproblem ist. Also tue ich das, was mir meine Privilegien oder Ressourcen ermöglichen: Ich nutze meine Kaufkraft für nachhaltige Methoden und das, was mir an meinem Wohnort angeboten wird – Recycling, Kompostierung, öffentliche Verkehrsmittel. Aber meine Strenge wird nicht ausschlaggebend sein – politisch aktiver zu sein oder Kunst zu machen, die sich mit der Umwelt und dem Klima auseinandersetzt, ist eher meine Stärke.

Die Idee zu Ihrem Roman kam Ihnen auf einer Wanderung mit dem United States Forest Service. Können Sie für uns den Moment der Inspiration rekonstruieren, und wie er in die Zukunft und die Geschichte von „Die neue Wildnis“ führte?

Auf dieser Wanderung lernte ich einen neuen Begriff, „Maßnahmen zur Minderung der Umweltauswirkungen“ – das ist die Idee, dass man zum Ausgleich dafür, eine Parzelle Land zu erschließen, zustimmen muss, einen anderen Ort zu renaturieren. Was wäre, wenn eine Region – ein Staat oder ein Bezirk – sich wirklich hinter diese Idee stellen und entscheiden würde, all ihr Land zum Ausgleich der Umweltauswirkungen renaturieren zu lassen? Dieser Gedanke führte dazu, dass ich mir ein riesiges wildes Gebiet inmitten eines Landes vorstellte, das ansonsten ganz erschlossen worden ist. Das gab mir das Setting für das Buch. Ich interessierte mich am Anfang wirklich sehr für den Renaturierungs-Aspekt. Wie interagieren wir mit wilden Räumen, und spielt es eine Rolle, dass sie nicht immer so gewesen sind? Was ist „unberührtes“ Land? Während des Schreibens traten allerdings andere größere Fragen in den Vordergrund, und die Idee der Minderung fiel weg. Aber es war die grundlegende Idee, die alles anregte.


Diane Cook. Foto © Katherine Rondina

Warum ist eine primitive oder sogar postapokalyptische Lebensweise für viele Menschen so verlockend? Dabei ist es, bei aller Freiheit, in den meisten Geschichten – auch in Ihrer – ein hartes Leben. Und doch scheint da diese Sehnsucht zu sein …

Ich glaube, es hat mit dem Wunsch nach einem Neuanfang zu tun. Wenn wir nur neu anfangen könnten, wäre alles besser! Zivilisierte Menschen scheinen die primitiven Menschen immer als simpel angesehen zu haben – als wäre eine simple Lebensweise einfach. Aber natürlich ist sie das nicht. Es ist gefährlich und prekär, mit begrenzten Ressourcen zu leben und von Tag zu Tag zu überleben. Das ist eine Sache, über die ich gerne nachdenke – wie wir die Wildnis charakterisieren und warum wir sie romantisieren, obwohl sie in Wirklichkeit hart und irgendwie erschreckend ist und die Menschen viel Energie darauf verwendet haben, sie zu zähmen, wo immer man sie gefunden hat.

Ihr Buch beginnt mit einer sehr drastischen Szene. Haben Sie jemals über Trigger-Warnungen für Ihren Roman nachgedacht?

Ich habe nie an eine Triggerwarnung gedacht. Ich glaube, ich bin zu alt, um sie in Erwägung zu ziehen – ich bin nicht damit aufgewachsen, also scheint es mir ein Fremdkörper im Werk zu sein. Und ich wollte nicht schockieren, obwohl ich weiß, dass es für viele schockierend sein wird. Ich wollte mit der Szene zwei Dinge erreichen. Erstens wollte ich den Leserinnen und Lesern zeigen, dass diese Welt nicht ihre Welt ist und dass andere Erwartungen an die Menschheit und das Überleben notwendig sein könnten. Und zweitens wollte ich den Leserinnen und Lesern einen Moment mit Bea schenken, der Mutter und Protagonistin, in dem wir wirklich mit ihr fühlen. Wo wir sehen, wie schwer dieses ganze Leben für sie ist und wie viel sie ganz allein bewältigen muss. Denn sie wird im Laufe des Buches einige Dinge tun, die unsere Empathie für sie erschüttern werden, aber ich wollte nicht, dass die Leserinnen und Lesern sich von ihr abwenden.

Wie gut können Sie Ihre Arbeit als Autorin vom Rest Ihres Lebens trennen? Wenn Sie z. B. über Mütter und Töchter schreiben – gab es Momente, in denen Sie mit dem Schreiben aufhören mussten, um Distanz zu den Konflikten und dem Schmerz im Buch zu schaffen?

Ich habe das Buch begonnen, um meine eigene Mutter besser kennenzulernen. Sie starb, als ich 30 war – bevor ich sie wirklich über all die Dinge ausgefragt hatte, die mir später im Leben wichtig werden sollten – Liebe, Karriere, Familie, Mutterschaft. Ich schrieb als Tochter, die ihre Mutter kennen lernen wollte. Während ich den Roman schrieb, gründete ich meine eigene Familie und bekam eine Tochter. Das hat das Buch und diese Beziehung geöffnet. Dadurch fühlte sich das Projekt dringlicher an, und ich konnte die Gefühle verstehen, die ich vorher nur erahnt hatte. Ich finde es am besten, die Arbeit in mir zu behalten, während ich mein Leben lebe. Das verwirrt mich nicht – ich denke, es bereichert beide Erfahrungen.

Wie verändert eine Nominierung für den Booker-Preis das Leben einer Autorin in Sachen Möglichkeiten, Stress, Reichweite, Druck …?

Nun, ich glaube zum Beispiel nicht, dass dieser Roman ohne den Booker-Preis das deutsche Publikum erreicht hätte! Als das Buch im englischsprachigen Original während der Pandemie erschienen ist, habe ich nicht damit gerechnet, dass es das Publikum so erreicht, wie ich mir das wünschte. Die Nominierung für den Booker hat das Leben des Buches völlig verändert und auch mein eigenes Leben ein ganzes Stück. Ich könnte sagen, dass es nervenaufreibend ist, das nächste Werk zu schreiben, nachdem diesem eine solche Ehre zuteil wurde – aber ich wäre so oder so nervös gewesen, ein neues Projekt zu beginnen!

Gibt es noch etwas, das Sie Ihren deutschsprachigen Leserinnen und Lesern sagen möchten?

Ich hoffe wirklich, dass Sie alle dieses Buch genießen. Die Landschaft ist westlich und amerikanisch, doch die Ideen sind global und zutiefst elementar – es ist ein Roman über unsere intimsten Beziehungen, unser verborgenstes Selbst, darüber, wo wir hingehören, und darüber, wofür wir leben. Ich hoffe nur, dass meine deutschsprachigen Leserinnen und Leser sich von dem Buch an einen neuen, fremden, manchmal gefährlichen Ort führen lassen.

Die neue Wildnis ruft. Danke für das Gespräch!

Diane Cook: Die neue Wildnis • Roman • aus dem Amerikanischen übersetzt von Astrid Finke • Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 • 544 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks € 16,00 (im Shop)

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