15. Februar 2024

„The Atrocity Exhibition“ – Die radikalste J.G. Ballard-Verfilmung

Eindrucksvoll, aber auch sehr, sehr herausfordernd

Lesezeit: 3 min.

Bei der 26 Jahre nach Erstveröffentlichung erfolgten Deutschlandpremiere von „The Atrocity Exhibition“ am 26.01.2024 in Köln gab Regisseur Jonathan Weiss den Zuschauern einen guten Rat mit auf den Weg: „Versuchen Sie nicht, diesen Film zu verstehen, dafür wurde er nicht gemacht. Schauen Sie ihn sich einfach an!“

Diesen Ratschlag hätte man auch auf das Poster der Verfilmung des gleichnamigen Romans (im Deutschen als „Liebe & Napalm: Export USA“ erhältlich) von J.G. Ballard drucken können. Weiss hatte nicht einfach ein als „unverfilmbar“ geltendes Buch verfilmt, was ja nichts besonderes gewesen wäre, denn im Grunde sind alle Romane verfilm- oder, besser, filmisch interpretierbar, das Marketing liebt aber aus nahe liegenden Gründen den Begriff „unverfilmbar“. Die Leistung, vor allem aber der Mut von Weiss lag vielmehr darin schwer zugängliche, extreme, garstige Zungen sprechen sogar von „unlesbare“, Experimental-Literatur einen mindestens ebenso schwer zugänglichen, extremen, wenn man so will, „unguckbaren“, Experimentalfilm entwachsen zu lassen – und er musste dafür bitter bezahlen, denn seine im Verlauf von zwei Jahren entstandene Independent-Produktion wurde von Ballard zwar sehr gelobt, verschwand aber nach der Premiere 1998 auf dem Internationalen Filmfest Rotterdam blitzschnell in der Versenkung. Erst 2006 erfolgte eine DVD-Veröffentlichung in den Niederlanden (für die der Schriftsteller den einzigen Audiokommentar seiner Karriere einsprach) und dabei blieb es dann.

Das 1970 erstmals in Großbritannien veröffentlichte Buch wurde aus 15 Kurzgeschichten (ab 1990 wurden vier hinzugefügt) komponiert, die zuvor bereits in diversen Magazinen erschienen waren und hier in verschiedene kleine Sektionen mit eigenen Überschriften aufgeteilt wurden. Es gibt keinen wirklichen Anfang und kein Ende und auch sonst finden sich keine Roman-Konventionen (der Protagonist ändert mit jedem Kapitel den Namen, seine Funktion und seine Sicht auf die Welt), weshalb bis heute umstritten ist, ob es sich denn überhaupt um einen Roman handelt, denn als solcher wird er häufig bezeichnet, was aber wohl in erster Linie als Versuch zu werten ist, dieses sperrige Text-Ungetüm irgendwie greifbar zu machen.

Eine Handlungszusammenfassung ist unmöglich. Es dreht sich um den Universitätsprofessor einer psychiatrischen Anstalt, Travis Talbert, der selbst an einem geistigen Zusammenbruch leidet, mit einem Kollegen und einer Geliebten durch den Filter der Massenmedien ins Bewusstsein geflossene Grausamkeiten der Menschheitsgeschichte nachstellt, versucht sie zu verstehen, und vorhat, als ultimatives Statement den Dritten Weltkrieg auszulösen. Die Charaktere werden auf Distanz gehalten und geben absonderliche Dialogzeilen wie „Es ist eine interessante Frage. Wieso ist Vaginalverkehr erregender als der Verkehr mit einem Aschenbecher?“ von sich, die Filmadaption wabert mehr vor sich hin als tatsächlich voranzuschreiten. Wer angestrengt davor sitzen und intellektuelles Puzzle spielen will, kann das tun, sollte aber einen Hinweis beherzigen, der gleich in den ersten Minuten gegeben wird: „Was wir Wirklichkeit nennen, ist ein Konstrukt unseres beschränkten Nervensystems. Unsere Wirklichkeit basiert auf unseren Bedürfnissen, nicht auf der Wahrheit. Wahnsinn eröffnet eigentlich den Zugang zu einer anderen Wirklichkeit. Die ebenso wahr ist, vielleicht wahrer.“

„The Atrocity Exhibition“ kann als Einblick in den Gedankenpalast, als stream of consciousnes, eines Mannes verstanden werden, der versucht Zusammenhänge und Sinn in einer von massenmedialen Bildinszenierungen (JFK-Attentat, Vietnamkrieg, Marilyn Monroe, etc.) dominierten Öffentlichkeit zu finden und dadurch sich selbst verloren hat.

Weiss’ Film, eigentlich mehr Collage als Film, vermittelt einen „Sinn“ eher auf assoziativer Ebene. Wenn zwischen kunsttheaterhaften Spielszenen etwa – krasse – Aufnahmen von Kriegsverletzungen mit – ebenso krassen – Aufnahmen von Schönheitsoperationen (Szenen dieser Art waren damals übrigens noch ein Novum) gekoppelt werden, ergibt sich zwangsläufig eine Bedeutungsebene, so deutungssicher ist das aber oft nicht, eher im Gegenteil, weswegen der Ratschlag des Regisseurs letztendlich absolut nicht verkehrt ist.

Man sollte sich „The Atrocity Exhibiton“ wahrscheinlich tatsächlich am besten einfach hingeben und ihn als morbiden, aber phasenweise regelrecht hypnotischen Bilderbogen rezipieren, dessen exzellente, sehr vielschichtige, akustische Seite (für die sich JG Thirlwell verantwortlich zeichnet) im Zusammenspiel mit den gelegentlich ins Surreale abgleitenden Bildwelten enorm hilft, auf sinnliche Weise einen Zugang zu einer anderen Wirklichkeit zu schaffen.

Ob und wie man diese erfasst und empfindet, liegt an einem selbst.

The Atrocity Exhibition • USA 1998 • Regie: Jonathan Weiss • Darsteller: Victor Slezak, Anna Juvendar, Michael Kirby, Mariko Takai, Robert Brink, Diane Grotke • Kinostart: 15. Februar

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