17. September 2023

Retro-Werwölfe, alte neue Polit-Paranoia und moderne Hexen

Phantastik-Comic-Neuheiten im September

Lesezeit: 5 min.

Stephen Kings „Der Werwolf von Tarker Mills“ ist wieder erhältlich, Liam Francis Walsh und Kat Leyh debütieren in deutscher Übersetzung mit originellen Jugendcomics, und Neil Gaiman macht auch im Comic weiterhin eine sehr gute Figur.

 

Stephen King, Bernie Wrightson: Der Werwolf von Tarker Mills

Kein Comic, sondern ein illustrierter Kalenderroman von Stephen King (im Shop), dafür mit Bernie Wrightson von einem der Besten und Penibelsten gezeichnet, die das Medium hervorgebracht hat. 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung bringt der Splitter Verlag Kings Kleinstadt-Werwolf-Story als großformatiges Hardcover-Buch erneut in den Handel. Die Liaison King/Wrightson nahm im „Creepshow“-Comic (von Splitter 2021 ebenfalls im bibliophilen Gewand wiederveröffentlicht) ihren Anfang. Beim „Werwolf“ war sie schon eine stabile Ehe. Und besser wurde Wrightsons Arbeit hierzulande noch nie präsentiert, den Taschenbuchausgaben aus den 80ern und 90ern sind die vergrößerten Reproduktionen der Neuausgabe deutlich überlegen. Und auch Kings süffisante Kritik an Kirchenmoral und Lynchjustiz hält der Gegenwart erschreckend souverän stand. Kollege Christian Endres hat den Band bereits an dieser Stelle empfohlen.

Stephen King, Bernie Wrightson • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 136 Seiten • Hardcover • € 25,00

 

Liam Francis Walsh: Red Scare

Und von den echten 80ern aus Kings Roman noch ein paar Jahrzehnte weiter zurück; ein historisches Genre-Tableau einer-, Gegenwartsdiagnose andererseits: Der New Yorker Cartoonist Liam Francis Walsh hat seine auf jugendliche Leser*innen zurechtgeschnittene Graphic Novel „Red Scare“ ebenfalls in einer US-amerikanischen Kleinstadt situiert, auf dem Höhepunkt der Kommunismus-Paranoia der McCarthy-Ära. Die artikuliert sich nicht mehr verklausuliert in Gestalt außerirdischer Invasoren, auch zu Apokalypse-Boten mutierte Fauna gibt’s keine. Das tiefe Misstrauen untereinander und die sehr manifeste Zukunftsangst, die das Zusammenleben prägen, genügen hier völlig für eine schauderhafte Stimmung. Die Bezüge zum heutigen Amerika (und letztlich allen Staaten, die in die Faschisierung abdriften) sind eindeutig. Das zeigt Hergé-Adept Walsh im fachkundigen Neo-ligne-claire-Stil. Irgendwann formiert sich in der latent brutalen Atmosphäre unter den Augen der Polizei ein Mob, der dem neuen Nachbarn ans Leben will. Und mittendrin: die an Kinderlähmung erkrankte junge Schülerin Peggy, die mithilfe eines geheimnisvollen Leuchtstabs aus dem Koffer eines dubiosen Fremden fliegen kann. Wie ein Superheld diese Fähigkeit aber lieber im Verborgenen hält. Den Spott im Schulalltag muss sie weiterhin ertragen. An sie haften sich wiederum gewissenlose Regierungsmitarbeiter, hinter dem Stab den Gamechanger im Kampf der Gesellschaftssysteme vermutend. Das ist der Phantastik-Anteil dieser postmodernen Parabel, die sich den Leiden und Ängsten der Außenseiter in rechten Zeiten verschrieben hat.

Liam Francis Walsh: Red Care • Toonfish, Bielefeld 2023 • 240 Seiten • Hardcover • € 39,95

 

Neil Gaiman, Colleen Doran: Die Trollbrücke

Die nächste Ergänzungslieferung zur locker vom Splitter und Dantes Verlag zusammengetragenen „Neil Gaiman Library“: „Die Trollbrücke“ ist nach „Snow, Glas, Apples“ (hier die Rezension von Christian Endres) und „Ohne Furcht und Tadel“ (hier meine Empfehlung in der Juni-Kolumne) die dritte Zusammenarbeit zwischen Gaiman und Colleen Doran und erneut ein visuelles Juwel. Wie schon „Ohne Furcht und Tadel“ ist auch „Die Trollbrücke“ eine Kurzgeschichtenadaption aus Gaimans Erzählsammlung „Die Messerkönigin“. Vom leichten Ton des Vorgängers ist hier nichts mehr zu spüren. Ein Junge trifft bei seinen Streifzügen durch Wald und Wiesen auf einen hungrigen Troll, dem er nur mithilfe des Versprechens entkommen kann, ihn in einigen Jahren mit mehr Lebenserfahrung abermals aufzusuchen. Das tut er auch, allerdings mit seiner ersten großen Liebe als Faustpfand.

Am Ende von „Ohne Furcht und Tadel“ haben beide Figuren gekriegt, was sie wollten. Das ist auch hier so. Aber niemand ist deswegen glücklicher. Ein schmerzhaft ehrliches Coming-of-Age-Märchen.

Neil Gaiman, Colleen Doran: Die Trollbrücke • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 64 Seiten • Hardcover • € 18,00

 

Dan Wetters, Dev Pramanik: Der Mann, der vom Himmel fiel

Ob in Walter Tevis‘ Roman (1963) oder Nicolas Roegs brillanter Verfilmung mit David Bowie (1976): Das Fremde, das Andere, das Nicht-Identische ist in beiden Werken verhängnisvoll, Vernunft trifft auf die Konkurrenz im Kapitalismus als höchsten Ausdruck menschlicher Gewalt und zieht den kürzeren. Ein Alien landet auf der Erde, weil es für seinen sterbenden Heimatplaneten Wasser benötigt, gründet dank seines überragenden Intellekts ein High-Tech-Milliardenunternehmen und verzweifelt an den Menschen, die ihm, nachdem es sich als Alien zu erkennen gibt, alles nehmen: die Würde, die körperliche Unversehrtheit, das Geld und damit auch die einzige Möglichkeit, irgendwann zu seinem Heimatplaneten zurückzukehren. So wird es nach jahrelangen quälenden Untersuchungen in eine Welt der Raubtiere verbannt, vor deren Brutalität nur noch die Träume ein Refugium bieten. Roegs Film ist anspielungsreich, führt bewusst ins Leere, ist assoziativ-philosophisch. „Man muss jederzeit gewärtigen, dass einem ein Film von Roeg um die Ohren fliegt“, schrieb mal Dominik Graf. Da kann Dev Pramaniks Comic nicht mithalten und strandet oft beim Pathos, wo er Verzweiflung und Einsamkeit evozieren will. Aber verwegene künstlerische Absichten können ja auch beim Scheitern einen eigenwilligen Reiz entfalten.

Dan Wetters, Dev Pramanik: Der Mann, der vom Himmel fiel • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 128 Seiten • Hardcover • € 25,00

 

Kat Leyh: Snapdragon

Ein neuer Titel in der Kindercomic-Sparte des Reprodukt Verlags. Die Chicagoer Zeichnerin Kat Leyh ist vor allem als Co-Autorin von „Lumberjanes“ und für „Thirsty Mermaids“ – einer Graphic Novel über trinkfeste Meerjungfrauen, die sich besoffen an Land in die Menschenwelt zaubern, aber die Rückwärtsvariante vergessen haben – bekannt, hierzulande ist sie eine Entdeckung. In „Snapdragon“ führt sie mit Versatzstücken des magischen Realismus durch eine sympathische Story um das junge Mädchen Snap, die herausfindet, dass die im Wald lebende alte Dame Jacks, vor der sie alle warnen, wohl nur eine vermeintliche Hexe ist – oder zumindest keine von der bösen Sorte. Daraus entwickelt sich ein herzliches, aber keineswegs blöd-harmonisches Plädoyer fürs Anderssein. In den Zeichnungen bleibt genug Raum für die Verschrobenheiten herrlich dysfunktionaler Familien, die nicht mit dem Zuckerwattehammer in die Disney-Form gekloppt werden. Da will man schon aus Prinzip beruhigt aufatmen.

Kat Leyh: Snapdragon • Reprodukt, Berlin 2023 • 240 Seiten • Hardcover • € 20,00

 

Elsa Gambin, Alexis Thébaudeau: Klassiker der Filmgeschichte

Ein Sachcomic über wichtige Meisterwerke des Films. Man möchte darüber streiten, ob „Pretty Woman“, „Da graust sich ja der Weihnachtsmann“ oder „Avengers: Endgame“ dazuzählen, erst recht, wenn nicht ein einziger Film aus beispielsweise England berücksichtigt wird. Aber das Buch will keine Filmgeschichtsschreibung sein, sondern flüchtig Interessierten schnelle Eckdaten zur Hand reichen. Da bleibt eben nur Kopfschütteln. Der Aufbau zu den 30 Filmeinträgen ist stets identisch: Eine Textseite liefert Hintergründe zum Film, drei Comicseiten von unterschiedlichen Zeichner*innen picken qualitativ erheblich schwankend einen Aspekt der Produktion oder Rezeption heraus, und zwei weitere Textseiten kontextualisieren den Film in der Epoche, im Genre und manchmal sogar Diskurs, wenn auch maximal oberflächlich, also eher „Galileo“ als meinetwegen „kinokino“. Für Phantastik-Fans sind die Beiträge zu „Die Reise zum Mond“, „Metropolis“, „Psycho“, „Der weiße Hai“, „Star Wars“, „Gremlins“, Tim Burtons „Batman“ und „Avatar“ von Belang.

Elsa Gambin, Alexis Thébaudeau: Klassiker der Filmgeschichte • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 192 Seiten • Hardcover • € 35,00

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