24. August 2018 4 Likes

Was macht chinesische Science-Fiction chinesisch?

Ein Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Xia Jia zu Cixin Lius Novelle „Der Weltenzerstörer“

Lesezeit: 9 min.

Mit seinen einzigartigen Zukunftsvisionen hat sich Bestsellerautor Cixin Liu international ein Millionenpublikum erschrieben. In China selbst schon lange ein Superstar, gilt der Autor inzwischen auch im Westen als eine der größten Literaturentdeckungen der letzten Jahre. In seiner Novelle „Weltenzerstörer“ (im Shop), in der sich die Menschheit einer außerirdischen Bedrohung stellen muss, verbindet Cixin Liu auf einzigartige Weise klassische Science-Fiction-Motive mit den großen globalen Herausforderungen unserer Zeit. Doch was ist es eigentlich, das chinesische Science-Fiction so einzigartig und faszinierend macht? Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Xia Jia findet in ihrem Nachwort zu „Weltenzerstörer“ darauf eine Antwort.

 

Nachwort

Im Sommer 2012 nahm ich auf dem Chicon 7 an einer Podiumsdiskussion über chinesische Science-Fiction teil. Dabei stellte ein Zuschauer mir und den anderen chinesischen Autoren folgende Frage: „Was macht chinesische Science-Fiction eigentlich chinesisch?“

Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, und sicherlich hat jeder seine eigene Meinung dazu. Doch niemand kann bestreiten, dass die „chinesische Science-Fiction“ in den letzten hundert Jahren eine ziemlich einzigartige Rolle in der Literatur und Kultur des modernen China gespielt hat.

Die Erfindungen der Science-Fiction – gewaltige Maschinen, neue und weltumspannende Transportmöglichkeiten, die Erforschung des Weltraums – sind Resultate der Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung, also durchweg Phänomene, deren Wurzeln im modernen Kapitalismus zu suchen sind. Als China Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts durch Übersetzungen ausländischer Literatur mit dem Genre in Berührung kam, begriff man schnell, dass man mithilfe dieser Fantasien und Fortschrittsträumereien auch dem „chinesischen Traum“ Ausdruck verleihen konnte.

Mit dem „chinesischen Traum“ ist der Wunsch nach einer Erneuerung der chinesischen Nation gemeint. Unabdingbar dafür war aber, dass die chinesische Bevölkerung anfing, neu zu träumen. China musste aus seinem fünftausend Jahre alten Traum von einer frühen Hochkultur aufwachen und anfangen, von China als einer demokratischen, unabhängigen und blühenden Nation zu träumen. Daher sind die ersten Beispiele chinesischer Science-Fiction, um es mit den Worten des berühmten Schriftstellers Lu Xun auszudrücken, literarische Werkzeuge, „um das Denken zu verbessern und die Kultur voranzubringen“. Einerseits versuchten diese frühen Werke, mithilfe der „westlichen“, „globalen“ oder „modernen“ Mythen von Wissenschaft, Aufklärung und Entwicklung die Brücke zwischen Wirklichkeit und Traum zu schlagen. Andererseits war der historische Kontext so begrenzt, dass sie zwangsläufig typisch chinesische Elemente enthielten, die den Graben zwischen Traum und Wirklichkeit nur noch weiter vertieften.

Ein Beispiel dafür ist Lu Shi’es 1910 veröffentlichter Roman „Das neue China“. Der Protagonist wacht nach langem Schlaf im Shanghai des Jahres 1950 auf und findet sich in einem fortschrittlichen, wohlhabenden China wieder. All dies ist einem gewissen Dr. Su Hanmin zu verdanken, der im Ausland studiert und zwei Technologien erfunden hat: die „spirituelle Medizin“ und die „Aufwachtechnik“. Dadurch gelang es der von geistiger Verwirrung und Opiumkonsum gelähmten Gesellschaft, auf einen Schlag aufzuwachen und sofort politische und ökonomische Reformen einzuleiten. Die chinesische Nation erlebt nicht nur eine Wiedergeburt, sondern kann auch alle Hindernisse überwinden, an denen der Westen gescheitert ist. „Die europäischen Geschäftsleute waren ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht und dem Leid ihrer Mitmenschen gegenüber blind“, schreibt der Autor. „Deshalb kam es zum Aufstieg der kommunistischen Parteien.“ Dr. Sus spirituelle Medizin dagegen verwandelt alle Chinesen in Altruisten, „die sich verantwortlich für das Wohlergehen aller Menschen fühlen. Dies ist Sozialismus in der Praxis, weshalb wir selbstverständlich von den Kommunisten verschont blieben.“

Nach der Gründung der Volksrepublik hatte die chinesische Science-Fiction als Teilbereich der sozialistischen Literatur die Aufgabe, dem Volk wissenschaftliche Erkenntnisse nahezubringen, den Plan für eine schöne Zukunft darzulegen und die Gesellschaft dazu zu motivieren, ihn zu verwirklichen. In diesem Sinne äußerte sich beispielsweise der Schriftsteller Zheng Wenguang: „Der Realismus der Science-Fiction unterscheidet sich vom Realismus anderer Literaturgenres insofern, als er einen revolutionären Idealismus beinhaltet. Immerhin wird Science-Fiction für die Jugend geschrieben.“ Dieser „revolutionäre Idealismus“ ist im Prinzip eine Fortschreibung des Glaubens an die große Erzählung der Moderne und die Begeisterung dafür, die sich durch Fortschrittsoptimismus und eine uneingeschränkte Leidenschaft für die Errichtung eines Nationalstaats auszeichnet.

Ein Paradebeispiel für diesen revolutionären Idealismus ist Zheng Wenguangs Geschichte „Ein Capriccio für den Kommunismus“, erschienen 1958: Im Jahr 1979, bei den Feierlichkeiten anlässlich des dreißigsten Jahrestags der Gründung der Volksrepublik auf dem Tian’anmen-Platz stellen die „Erbauer des Kommunismus“ dem Vaterland ihre wissenschaftlichen Errungenschaften vor. Dazu gehören neben dem Raumschiff Mars I und einem gigantischen Damm, der das Festland mit der Insel Hainan verbindet, auch Fabriken, die alles Mögliche aus Meerwasser herstellen können und künstliche Sonnen, die die Gletscher des Tian Shan schmelzen und Wüsten dadurch in fruchtbares Ackerland verwandeln sollen. „Oh, Wissenschaft und Technik machen solche Träume wahr!“, ruft der Protagonist angesichts dieser Wunder aus.

Nach der von der Kulturrevolution verursachten Periode des Stillstands wurde der Ruf nach einem modernen Nationalstaat ab 1978 wieder lauter. Ye Yonglies schmales Büchlein „Der kleine Schlaukopf in der Zukunft“, erschienen im August 1978, eine aus Kinderperspektive geschilderte Vision einer beeindruckenden zukünftigen Stadt, läutete mit einer Erstauflage von 1,5 Millionen Exemplaren die nächste Phase der chinesischen Science-Fiction ein. Paradoxerweise traten mit den tatsächlich erfolgten Modernisierungen und Reformen unter Deng Xiaoping diese überschwänglichen Zukunftsvisionen mehr und mehr in den Hintergrund. Die Leser und Autoren hatten offenbar genug von den romantischen und idealistischen Utopien und sehnten sich nach Realismus.

1987 veröffentlichte Ye Yonglie eine Kurzgeschichte namens „Kalter Traum im Morgengrauen“. Der Protagonist findet in einer kalten Nacht in Shanghai in seinem unbeheizten Zimmer keinen Schlaf und flüchtet sich in große Science-Fiction-Träume: die Nutzung der Erdwärme, künstliche Sonnen, „Umkehrung von Süd- und Nordpol“, sogar eine „treibhausähnliche Glaskuppel über Shanghai“. Sobald der Held jedoch darüber nachdenkt, wie diese Projekte bewilligt werden können, woher die nötigen Baumaterialien und die Energie stammen und wie internationale Konflikte vermieden werden sollen, gerät er jedes Mal in Konflikt mit der Realität und muss eine Vision nach der anderen zu Grabe tragen: „Wirklichkeit und Fantasie – diese beiden Liebenden sind durch einen tausend Meilen breiten Abgrund voneinander getrennt!“ Man könnte diese Kluft durchaus als Sinnbild für die Angst und das Unbehagen eines China begreifen, das allmählich aus seiner kommunistischen Fantasie erwacht.

Ende der Siebzigerjahre wurden viele europäische und amerikanische Science-Fiction-Romane übersetzt und in China publiziert. Die chinesische Science-Fiction, die sich so lange an der sowjetischen Bildungsliteratur für Kinder orientiert hatte, wurde sich plötzlich ihrer Rückständigkeit und Bedeutungslosigkeit bewusst. Die scheinbar binären Gegensätze wie China – der Westen, unterentwickelt – entwickelt oder Tradition – Moderne sowie der Wunsch, international eine größere Rolle zu spielen, veranlassten die chinesischen Autoren der jüngeren Generation, sich von dem populärwissenschaftlichen Anspruch zu lösen, der bisher den Ton angegeben hatte. Ihr Ziel war es, aus der unreifen, unterdrückten chinesischen Science-Fiction eine erwachsene und moderne Literaturform machen. Gleichzeitig entbrannte unter Schriftstellern und Kritikern eine hitzige Debatte darüber, wie man in Bezug auf Inhalt und Form internationales Niveau erreichen und somit China im globalen Kapitalismus verorten konnte, ohne dabei auf „nationale Eigenschaften“ zu verzichten. Die chinesischen Schriftsteller ahmten Inhalt und Form der Werke ihrer westlichen Vorbilder nach und bemühten sich gleichzeitig, die Position der chinesischen Kultur in einer globalisierten Welt zu bestimmen und ihren Teil zu einer gemeinsamen Vision der Zukunft beizutragen.

In den Neunzigern führten das Ende des Kalten Krieges und die zunehmende Einbindung Chinas in den weltumspannenden Kapitalismus zu einer sozialen Umwälzung, an deren Ende das Marktprinzip Einzug in alle Bereiche des sozialen Lebens hielt. Dies wurde besonders in den verheerenden Auswirkungen offenbar, die die ökonomische Rationalität auf die chinesische Tradition hatte. Dabei meine ich mit „Tradition“ einerseits das althergebrachte Leben im bäuerlichen China, andererseits aber auch die frühere Orientierung des Landes an einer sozialistischen Ideologie der Gleichheit. Während China also diese große Veränderung durchmachte, entfernte sich die Science-Fiction zunehmend von modernistischen Zukunftsversionen und wandte sich der weitaus komplexeren sozialen Wirklichkeit zu.

Die Science-Fiction Europas und Amerikas bezieht ihre kreative Energie und ihren thematischen Rohstoff aus den historischen Erfahrungen des Westens mit politischer und wirtschaftlicher Modernisierung. Sie bildet die Ängste und Hoffnungen der Menschheit angesichts ihrer Zukunft auf hochallegorische Weise in Träumen und Alpträumen ab. Nachdem die chinesische Science-Fiction durch ihr westliches Gegenstück eine Vielzahl von Schauplätzen, Vorstellungen, kulturellen Konventionen und Erzählmodellen kennengelernt hatte, machte sie sich an die Konstruktion einer kulturellen und symbolischen Einheit, die sich deutlich vom Mainstream mit seinen anderen populären Literaturformen abhob. Nach und nach verleibte sie sich soziale Erfahrungen ein, die mit der bestehenden symbolischen Ordnung nicht abzubilden waren, und brachte schließlich einem längeren Prozess der Transformation, Integration und Reorganisation ein neues Vokabular und eine neue Grammatik hervor. In diesem Sinne kann die chinesische Science-Fiction der Neunziger bis zur Gegenwart als nationale Allegorie im Zeitalter der Globalisierung gelesen werden.

Die chinesischen Schriftsteller haben es dabei mit einer einzigartigen historischen Konstellation zu tun. Auf der einen Seite hat sich der Kommunismus als unfähig erwiesen, die Krise des Kapitalismus zu überwinden. Das bedeutet, dass die chinesische Bevölkerung diese Krise sowie die fortschreitende Globalisierung zunehmend im Alltag zu spüren bekommt. Auf der anderen Seite ist es Chinas Wirtschaft gelungen, sich unter großen Opfern von einer Reihe traumatisierender Fehlschläge zu erholen und international an Bedeutung zu gewinnen. Dieses Nebeneinander von Krise und Wohlstand ist für die unterschiedlichen gegenwärtigen Positionen verantwortlich, die die chinesischen Science-Fiction-Autoren in Bezug auf die Zukunft der Menschheit einnehmen: Die pessimistischeren glauben, dass wir bestimmten Entwicklungen machtlos gegenüberstehen. Andere hoffen darauf, dass der menschliche Einfallsreichtum am Ende triumphieren wird, und wieder andere begnügen sich mit der ironischen Betrachtung der Absurditäten des Lebens. Das chinesische Volk glaubte einst, durch Wissenschaft, Technik und den Mut zum Traum zu den westlichen Nationen aufschließen zu können. Inzwischen überbietet sich die westliche Science-Fiction, ja die ganze westliche Kultur in der fantasievollen Ausmalung möglichst düsterer Szenarien, was das Schicksal der Menschheit betrifft. Für die chinesischen Autoren und Leser kann der Westen deshalb die Frage, wohin das alles führen soll, nicht länger beantworten.

Die chinesischen Science-Fiction-Schriftsteller könnten in Bezug auf Alter, Herkunft, beruflicher Ausbildung, sozialer Stellung, Ideologie, kultureller Identität und ästhetischen Vorstellungen nicht unterschiedlicher sein. Doch wenn man ihre Werke aufmerksam liest, stößt man durchaus auf Gemeinsamkeiten – da nehme ich mich selbst nicht aus. Wir schreiben für ein chinesisches Publikum, und die Probleme, die wir behandeln, sind die Probleme unserer Gesellschaft – obwohl sie natürlich auf komplexe Weise tausendfach mit dem Schicksal der Menschheit im Allgemeinen in Verbindung stehen.

Die westliche Science-Fiction macht den chinesischen Leser mit den Ängsten und Hoffnungen der Menschheit vertraut, mit jenem modernen Prometheus, der selbst Herr über sein Schicksal ist. Vielleicht kann der westliche Leser durch die chinesische Science-Fiction Bekanntschaft mit einer alternativen chinesischen Moderne machen und sich zu einem neuen Modell unserer Zukunft inspirieren lassen.

Dabei geht es in chinesischer Science-Fiction nicht nur um China. Ma Boyongs „Die stille Stadt“ beispielsweise ist ebenso Hommage an Orwells „1984“ wie eine Darstellung der unsichtbaren Mauern, die uns der Kalte Krieg hinterlassen hat. Liu Cixins „Um Götter muss man sich kümmern“ verhandelt die Probleme, die eine expansive, ausbeuterische Zivilisation verursacht, im enggesteckten Rahmen eines ländlichen chinesischen Dorfs. In Chen Qiufans „Die Blume von Shazui“ hält eine düstere Cyberpunk-Atmosphäre Einzug in die Fischerdörfer um die Stadt Shenzhen herum. Der fiktive Küstenort Shazui ist gleichzeitig ein Mikrokosmos der globalisierten Welt als auch ihr Symptom. Meine eigene Geschichte „Die Nacht der hundert Geister“ wiederum spielt auf mehrere Meisterwerke an: Neil Gaimans „Das Graveyard-Buch“, Tsui Harks A Chinese Ghost Story und die Filme von Hayao Miyazaki. Meiner Meinung nach haben diese so unterschiedlichen Geschichten vieles gemeinsam, und die Kombination von chinesischen Spukgeschichten mit Science-Fiction ist nur eine weitere Möglichkeit, dieser Gemeinsamkeit Ausdruck zu verleihen.

Science-Fiction ist – um mit Gilles Deleuze zu sprechen – eine Literatur im Prozess des Werdens, eine Literatur an der Grenze: der Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, zwischen Magie und Wissenschaft, Traum und Wirklichkeit, dem Selbst und dem Anderen, der Gegenwart und der Zukunft. Die Entwicklung unserer Zivilisation wird getrieben von der Neugierde, die uns dazu bringt, diese Grenzen zu überschreiten, Vorurteile und Stereotypen abzulegen und dabei uns selbst zu erkennen und über uns hinauszuwachsen.

In diesem entscheidenden historischen Augenblick ist es meine feste Überzeugung, dass es nicht nur der Wissenschaft und Technik bedarf, um die Welt zu verändern, sondern auch des Glaubens daran, dass das Leben besser werden muss und dass es auch tatsächlich besser werden kann. Dazu braucht es Fantasie, Mut, Engagement, Verbundenheit, Liebe und Hoffnung, das Verständnis für und das Mitgefühl mit anderen. All das sind wertvolle Eigenschaften, die uns angeboren sind – und zugleich sind es die größten Geschenke, die uns die Science-Fiction machen kann.

Xia Jia ist das Pseudonym der 1984 geborenen Wang Yao. Bereits während ihres Physikstudiums veröffentlichte sie ihre ersten Science-Fiction-Geschichten und gewann 2004 den begehrten Galaxy Award. Xia Jia ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, die das junge Genre der chinesischen SF erforscht.

 

Cixin Liu: „Weltenzerstörer“Novelle ∙ Aus dem Chinesischen von Marc Hermann ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 128 Seiten ∙ Preis € 8,99 (im Shop)

 

 

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