11. Februar 2019 3 Likes

Die neue Reise in den Westen

Wie Science-Fiction aus China die Welt eroberte

Lesezeit: 12 min.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass mit „Die wandernde Erde“ (im Shop) ein Sammelband mit Erzählungen von Cixin Liu auf die Spiegel-Bestsellerliste geklettert ist. Kurzprosa, und auch noch Science-Fiction aus China? Woher kommt das denn? Der englische Cixin-Liu-Verleger und Science-Fiction-Kenner Nicolas Cheetham wirft in diesem Essay (der als Nachwort in „Die wandernde Erde“ enthalten ist) einen Blick auf die lange Reise des Genres „zurück“ in den Westen genommen hat.
 

Science-Fiction wanderte traditionellerweise nur in eine Richtung die Seidenstraße entlang. Einhundert Jahre lang wurde Science-Fiction im Westen hergestellt und nach China exportiert, und selbst als China in den Neunzigerjahren begann, allmählich den Weltmarkt zu dominieren, deutete nichts darauf hin, dass das Handelsdefizit in diesem speziellen Bereich bald überwunden sein würde. Und doch braute sich in China eine SF-Revolution zusammen. Die Vorhut bildete ein bemerkenswerter Roman, der beinahe zehn Jahre brauchte, bis er seinen Weg nach Westen fand. Doch dann schlug er bei Internetmilliardären, Präsidenten und SF-Lesern ein wie eine Bombe: Mark Zuckerberg wählte ihn für seinen Facebook-Lesekreis, Barack Obama höchstpersönlich gab eine Empfehlung ab, und die SF-Fans sorgten dafür, dass er als erstes übersetztes Werk überhaupt den Hugo Award für den besten Roman erhielt. Er war New York Times-Bestseller, hielt sich elf Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste und gewann Literaturpreise in Spanien und Deutschland.

Cixin Liu: Die drei SonnenDieser Roman war „Die drei Sonnen“ (im Shop) von Cixin Liu. Darin geht es um ein kompliziertes Problem der Himmelsmechanik in drei miteinander verflochtenen Handlungssträngen, die einmal während der Kulturrevolution, dann in der Gegenwart und schließlich auf einem weit entfernten Planeten in einem Sonnensystem mit drei Sonnen spielen. „Die drei Sonnen“ erschien zunächst im Jahre 2006 als Fortsetzungsroman in der chinesischen Zeitschrift Science Fiction World. 2008 wurde er in Buchform veröffentlicht, stürmte kurz darauf die Bestsellerlisten und verkaufte sich eine Million Mal. Heute gilt er als Wegbereiter, der der chinesischen Science-Fiction die Seidenstraße nach Westen öffnete.

Die ersten neunzig Jahre

Die chinesische SF ist ungefähr so alt wie ihr westliches Gegenstück, doch China im 20. Jahrhundert – interessante Zeiten – war für das Genre nicht gerade fruchtbarer Boden, sodass es sich nur schleppend entwickelte.

Die Science-Fiction erreichte China im Jahr 1900 mit einer Übersetzung von Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“. Der erste chinesische Science-Fiction-Roman, „Die Mondkolonie“ von Huangjiang Diaosou, erschien bald darauf – zwischen 1904 und 1905 – als Fortsetzungsroman. Dem Zusammenbruch der Qing-Dynastie im Jahr 1912 folgten beinahe vier chaotische Jahrzehnte der territorialen Zersplitterung und Militärherrschaft, gefolgt von der japanischen Besetzung. Der wohl bekannteste Roman aus dieser Zeit – inzwischen auch als Penguin Modern Classic erhältlich – ist Lao Shes auf dem Mars spielende, dystopische Satire „Die Stadt der Katzen“ von 1932.

Nach Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 erschien mehr und optimistischere SF, die allerdings stark erzieherisch ausgerichtet und in erster Linie für ein jugendliches Publikum gedacht war. Während der Kulturrevolution hatte die Literatur allgemein einen schweren Stand, und erst die Wirtschaftsreformen und die Kommerzialisierung der Literatur in den späten Siebzigerjahren machten die Gründung mehrerer SF-Magazine möglich. Die einflussreichste dieser Publikationen, die 1979 ins Leben gerufene Science Literature, verfügte bereits 1980 über 200.000 Abonnenten. Im Zuge der Kampagne gegen geistige Verschmutzung von 1983 jedoch geriet das Genre unter Verdacht, vom westlichen Kapitalismus beeinflusst zu sein, und verschwand beinahe völlig von der Bildfläche. Science Literature durfte als einziges SF-Magazin weiter erscheinen, die Zahl der Abonnenten fiel jedoch unter 1000.

Chinas neue Generation – und die neue neue Generation

Science Fiction World magazineDie Umbenennung von Science Literature in Science Fiction World (SFW) im Jahr 1991 war für das Genre ein Riesenschritt auf dem langen Marsch zum wirtschaftlichen Erfolg und der Anerkennung durch die Literaturkritik auf nationaler Ebene sowie zur Integration in die internationale SF-Szene.

Auch die schriftstellerische Laufbahn von Cixin Liu, He Ji und Wang Jinkang – jenem Trio, das als die »Neue Generation« bekannt wurde – nahm bei SFW, das im Jahr 2000 bereits über 350.000 Abonnenten verzeichnete, ihren Anfang. 2003 gründete das Magazin einen eigenen Verlag, der sich die Veröffentlichung der besten internationalen und chinesischen SF zum Ziel setzte.

Trotz dieser Pionierarbeit war die chinesische SF in den Nullerjahren in literarischer Hinsicht noch ein Leichtgewicht. Sie erreichte weder ein großes Publikum noch die Anerkennung der Literaturkritik, von der sie oft als Jugendliteratur abgetan wurde. Als Liu die ersten Bände seiner Trisolaris-Trilogie schrieb, bezweifelte er, dass die chinesischen Leser schon bereit für die spekulativeren Elemente seiner SF waren, und wählte als Ausgangspunkt der Handlung eine Welt, die das Publikum bereits kannte, um behutsam darauf aufzubauen. Erst der letzte Band, in dem es um multidimensionale Kriege, künstliche schwarze Löcher und Miniuniversen geht, war schließlich das Buch, das er als leidenschaftlicher SF-Fan gerne schreiben wollte. Weder Liu noch sein Lektor – Yao Haijun von SWF – rechneten damit, dass solchen Hirngespinsten großer kommerzieller Erfolg beschieden sein würde. Doch zu ihrer Überraschung war es genau dieser Band, der der Reihe zum Durchbruch verhalf.

Chinas Online-Community war regelrecht besessen von der Trisolaris-Trilogie. Die Fans komponierten Lieder, verkörperten in den sozialen Medien Figuren aus dem Trisolaris-Universum, veröffentlichten selbstgemachte Trailer für den sehnlichst erwarteten Film und schrieben Fan-Fiction. Baoshus Fortsetzungsroman Three-Body X etwa, der parallel zu den Ereignissen von Der dunkle Wald und Jenseits der Zeit spielt, erschien eine Woche nach Veröffentlichung des letzten Bandes der Originaltrilogie im Internet und später – mit Lius Segen – als herkömmliche Printausgabe mit dem Titel The Redemption of Time. Durch den großen Online-Hype wurden die Bücher über eine Million Mal verkauft, und plötzlich interessierten sich Wissenschaftler, Ingenieure und die Regierung dafür. Der Kosmologe Li Miao schrieb ein Buch über die Physik der Trisolaris-Trilogie, die chinesische Luftfahrtbehörde stellte Liu als Berater ein.

Der Einfluss des Internets auf die chinesische SF ist nicht zu unterschätzen: Plötzlich hatten die Leser Zugriff auf einen gewaltigen Vorrat an westlicher Science-Fiction, die Fans ein Medium, um darüber zu diskutieren und – was vielleicht am wichtigsten ist – die Schriftsteller eine Möglichkeit, ihre Arbeiten zu veröffentlichen. Viele der bekanntesten und beliebtesten SF-Autoren Chinas haben ihre Karriere nicht dem herkömmlichen Literaturbetrieb, sondern dem Internet zu verdanken. Da ihnen die Verlage, die Regierung oder das Publikum nur wenig Aufmerksamkeit oder gar Respekt zukommen ließen, blieb ihnen eine traditionelle Schriftstellerkarriere verschlossen. Sie veröffentlichten in Internetforen, wobei ihnen weniger an Geld und Ruhm, sondern vielmehr am Austausch mit ihren Lesern gelegen war. Sie hatten keine Scheu, auch grobe Entwürfe zu veröffentlichen, und ließen ihre Werke in Gemeinschaftsarbeit von den Fans lektorieren. Aus diesen Foren gingen so preisgekrönte Autoren und Autorinnen wie Baoshu und Xia Jia hervor, und auch Hao Jingfangs mit dem Hugo Award ausgezeichnete Novelle »Peking falten« war zunächst auf einem Internetforum der Tsinghua University zu lesen.

Die aufgehenden Sterne an Chinas SF-Himmel – bekannt als die »neue neue Generation« – haben mit dem Klischee des Science-Fiction-Nerds nur wenig zu tun, sondern sind hochqualifizierte junge Frauen und Männer, die mehrere Sprachen sprechen und in verantwortungsvollen Positionen arbeiten. Hao Jingfang ist Doktorin der Wirtschaftswissenschaften, hat zusätzlich noch einen Abschluss in Astrophysik und arbeitet in Peking für einen von der Regierung finanzierten Thinktank namens China Research Development Foundation. Stanley Chen Qiufan war für Baidu und Google tätig und ist jetzt beim Motion-Capture-Start-up Noitom angestellt. Xia Jia erlangte Chinas ersten Doktortitel für Science-Fiction mit einer Dissertation mit dem Titel »Angst und Hoffnung im Zeitalter der Globalisierung: Kulturpolitik in der zeitgenössischen chinesischen Science-Fiction (1991–2012)«, lehrt an der Jiaotong University in Xi’an, übersetzt aus dem Englischen ins Chinesische (so etwa Ken Lius Novelle »The Man Who Ended History«) und ist nebenbei noch Schauspielerin, Filmemacherin, Malerin und Sängerin. Baoshu, inzwischen selbst preisgekrönter SF-Autor, hat einen Masterabschluss in Philosophie von der belgischen KU Leuven.

Hao Jingfang (Audi-Werbung)Cixin Lius Hugo für den besten Roman 2015 und Hao Jingfangs Preis für die beste Novelle sorgten in China auch über die Szene hinaus für Aufmerksamkeit. Nach dem Hugo für »Peking falten« startete Audi eine Werbekampagne mit dem Slogan: »Hao Jingfang, Chinas erste Hugo-Award-Gewinnerin, marschiert mit Audi in die Zukunft.« Der Autokonzern, der sich in China als fortschrittliche Marke präsentieren will, appellierte direkt an die wachsende SF-Szene, indem er nicht – wie im Westen – auf einen Filmstar oder Sportler als Werbeträger setzte, sondern auf eine Schriftstellerin.

Im chinesischen Film und Fernsehen ist SF gerade schwer angesagt, und selbst die Regierung scheint begriffen zu haben, wie wichtig das Genre ist. Angeblich haben mehrere Funktionäre das Silicon Valley besucht und mittels Statistiken herausgefunden, dass der Erfolg führender Unternehmer in direktem Zusammenhang mit ihrer Begeisterung für Science-Fiction zusammenhängt. Ob dies nun der Wahrheit entspricht, sei dahingestellt – Tatsache ist jedoch, dass der Chinesische Staatsrat 2016 in seinem Fortschrittsplan für Wissenschaft und Technologie eine Verbesserung der naturwissenschaftlichen Bildung gefordert hat. Unter den vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels gehören nationale SF-Auszeichnungen und internationale SF-Festivals.

Cixin Liu und Barack Obama
Cixin Liu und Barack Obama 2017 in Beijing

Auf der Seidenstraße

Obwohl die Begeisterung für chinesische SF im Land selbst groß war, sprang der Funke zunächst nicht nach Westen über. Zum einen ist die Popularität des Fortsetzungsromans ein typisch chinesisches Phänomen, zum anderen stellt die Sprachbarriere ein gewaltiges Problem dar.

Doch davon ließen sich Chinas hochmotivierte SF-Fans nicht beirren. Sie gründeten Interessengruppen wie die Future Affairs Administration (FAA) oder Storycom zur Verbreitung chinesischer SF und arbeiteten hart daran, Interessenten und Investoren im Ausland zu gewinnen. Durch eine Kickstarter-Initiative wurde es dem Clarkesworld Magazine möglich, in jeder Ausgabe eine aus dem Chinesischen übersetzte Geschichte zu veröffentlichen. Die von einem Autorenkollektiv gegründete Bejing Guomi Digital Technology Company übersetzte zwölf Kurzgeschichten von Cixin Liu ins Englische und veröffentlichte sie einzeln als E-Book sowie als Print-on-Demand-Anthologie – es sind zum Teil die in Die wandernde Erde enthaltenen Erzählungen. Der Durchbruch erfolgte jedoch erst, als Li Yun, Exportchef von CEPIEC, Chinas zweitgrößtem Buchimporteur, das Risiko auf sich nahm und eine englische Übersetzung der Trisolaris-Trilogie in Auftrag gab.

Dafür verpflichtete er zwei engagierte Fürsprecher der chinesischen SF, Ken Liu und Joel Martinsen. Viele engagierte Menschen arbeiteten daran, den Westen mit der chinesischen SF bekannt zu machen, sodass die Behauptung, der Durchbruch wäre das Verdienst einer einzelnen Person, etwas ungerecht ist. Trotzdem – müsste man jemanden benennen, der maßgeblich zu diesem Erfolg beigetragen hat, es wäre wohl Ken Liu.

Ken wurde 1976 in China geboren und zog im Alter von elf Jahren nach Amerika. Er studierte Englisch und Jura in Harvard, arbeitete als Anwalt und Softwareentwickler und betätigte sich nebenher als Schriftsteller. Sein mehrfach ausgezeichnetes literarisches Werk umfasst bisher mehr als 120 Kurzgeschichten und eine epische »Silkpunk«-Fantasyserie. Seine Geschichte »The Paper Memagerie« wurde als erste überhaupt mit den drei wichtigsten SF-Preisen – dem Hugo, dem Nebula und dem World Fantasy Award – ausgezeichnet. Der erste Band seines Fantasyepos gewann den Locus Award für den besten Debütroman. Diesem beeindruckenden Lebenslauf fügte er noch eine erfolgreiche Tätigkeit als Übersetzer hinzu: Qiufan Chen: Die SiliziuminselStanley Chen Quiufan nahm nach der Lektüre einer von Kens Kurzgeschichten online Kontakt mit ihm auf und bat ihn um seine Meinung zu einer Übersetzung einer seiner eigenen Geschichten. Ken fand die Übersetzung ganz brauchbar, glaubte aber nicht, dass sie die Stimme des Originals richtig eingefangen hätte, und machte sich an eine eigene Fassung … was schließlich zur Veröffentlichung von Invisible Planets führte, der ersten kommerziellen Anthologie zeitgenössischer chinesischer SF in englischer Sprache. Für seine Übersetzung von Die drei Sonnen wurde er – wie zu erwarten bei jemandem, der bereits so viele Auszeichnungen im Schrank stehen hat – mit einem Hugo belohnt. Dass er auch Hao Jingfangs »Peking falten« übersetzt hat, dürfte kaum überraschen.

Dank Li Yuns Einsatz wurden die Rechte an Die drei Sonnen inzwischen an zwölf internationale Verlage verkauft. Die Erfahrung in der Verhandlung mit westlichen Verlagshäusern nutzte Li dazu, eine eigene Literaturagentur zu gründen, deren Ziel es ist, für eine weltweite Verbreitung nicht nur chinesischer SF, sondern überhaupt chinesischer Genreliteratur zu sorgen. Inzwischen haben auch andere Agenturen, die früher größtenteils westliche Rechte nach China verkauften, chinesische Autoren unter Vertrag genommen.

Was ist chinesische Science-Fiction überhaupt?

Bedeutet der nationale und internationale Erfolg der chinesischen SF, dass sie über etwas fundamental Neues, noch nie Dagewesenes verfügt? Über eine Geheimzutat? Kann man aus Cixin Lius multidimensionaler Hard-SF oder Stanley Chen Quiufans bzw. Hao Jingfangs Wirtschafts- und Sozialspekulationen die Essenz der chinesischen SF destillieren? Ist das überhaupt möglich? Genauso gut könnte man sich die Frage stellen, ob es eine englischsprachige Science-Fiction gibt. Oder sollte man nicht besser zwischen US-amerikanischer und kanadischer, zwischen englischer und schottischer SF unterscheiden?

Ken Liu jedenfalls ist der Meinung, dass »jeder, der der ›chinesischen SF‹ bestimmte Charakteristiken zuschreibt, entweder a) keine Ahnung von der Szene hat oder b) sich auskennt, aber absichtlich die Komplexität des Themas ignoriert«.

Vielleicht sollte man sich stattdessen die Frage stellen, weshalb die chinesische SF im Westen so erfolgreich ist und welche Erwartungen das westliche Publikum an die chinesische SF hat. Liegt es daran, dass diese SF aus China stammt und daher typisch chinesische Elemente hat? Oder daran, dass chinesische SF eben typische Science-Fiction ist?

Zu allen großen Themen der westlichen SF – die Erforschung des Weltraums, die Kontaktaufnahme mit Außerirdischen, genetische Modifikationen, künstliche Intelligenz und ökologische Katastrophen – gibt es chinesische Analogien, und bei der Extrapolation dieser Themen erweist sich die chinesische Science-Fiction als genauso einfallsreich wie ihr westliches Pendant.

Science-Fiction ist überall genug vorhanden – ist die Geheimzutat also das chinesische Element? Für den Westen ist China – sei es in Bezug auf seine Geschichte, Geografie oder Mythologie, aber auch auf die Küche oder die Sitten und Gebräuche – eine fundamental andersartige Erfahrung. Der westliche Leser darf sich bei der Lektüre chinesischer SF nicht nur auf eine Prise Exotik, sondern, was umso wichtiger ist, auf interessante Perspektivwechsel gefasst machen. In Die drei Sonnen ist die Erfahrung des Menschseins eine völlig andere als in der typisch westlichen SF, in der es um Grenzkämpfe, Rebellenallianzen und die Vernichtung der Außerirdischen geht. In seiner Einführung zu einer einbändigen Sonderausgabe der Trisolaris-Trilogie schreibt Cixin Liu: »Am Ende des neunzehnten und zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts überquerte die westliche Zivilisation den Ozean und machte das uralte chinesische Reich mit neuen Ideen bekannt, die es dramatisch veränderten und immer noch verändern: die moderne Technologie, der Marxismus, der Kapitalismus mit seinen freien Märkten, die Demokratie. Im Vergleich zu den westlichen Gesellschaften haben die Chinesen eine viel unmittelbarere und konkretere Vorstellung davon, wie es ist, wenn der Kontakt mit einer anderen Zivilisation die eigene verändert. In diesem Sinne kann man meine Trilogie auch als Ausdruck dieses nationalen Traumas verstehen.«

Im Westen ging eine Phase wirtschaftlichen Aufschwungs stets mit einer zunehmenden Popularität von SF einher. In diesem Sinne reflektiert Chinas vielfältige, lebendige und moderne SF-Szene auch das vielfältige, lebendige und moderne China. Man darf jedoch nicht vergessen, dass sich die technologischen und sozialen Veränderungen, für die der Westen drei Jahrhunderte brauchte, in China innerhalb von zwei Generationen vollzogen. Womöglich verfügt die chinesische SF deswegen über eine Unmittelbarkeit und Bedeutungsschwere, die der westlichen fehlt. Die Ernsthaftigkeit und Leidenschaft, mit der die chinesischen Autoren Philosophie und Praxis des Genres behandeln, ist Symptom dafür, dass die SF in China derzeit einen weitaus höheren gesellschaftlichen Einfluss genießt als im Westen.

Nicolas Cheetham mit chinesischen SF-Autoren
Stanley Chen Qiufan, Adrian Tchaikovsky, Nicolas Cheetham, Baoshu, Cixin Liu und Ken Liu auf dem Worldcon 75 in Helsinki (v.l.n.r.)

Der Schlüssel zum internationalen Erfolg der chinesischen SF liegt jedoch nicht zuletzt in der Natur des Genres selbst. Erstens ist die Science-Fiction schon von der Anlage her international, da sie als eine Literatur der Möglichkeiten das Neue und Andersartige bereitwillig annimmt. Ihre Leser erwarten, von neuartigen Konzepten herausgefordert zu werden und fremde Länder jenseits aller bekannten Horizonte zu bereisen. Zweitens drängt sich die Frage auf, weshalb andere, in China immens populäre Genres wie Wuxia- (Kampfsport-), Gespenster- oder historische Romane nicht denselben internationalen Erfolg genießen. Indem sie ein bestimmtes Konzept zum Ausgangspunkt nimmt und dieses extrapoliert, ist die SF zu einem Großteil selbsterklärend bzw. durch die Wissenschaft als lingua franca verständlich. Andere Genres sind durch die Masse an historischem, geografischem oder mythologischem Wissen, das vorausgesetzt wird, praktisch unübersetzbar. Die Fußnoten, die der Übersetzer um der Verständlichkeit willen anfügen müsste, wären länger als der Text selbst. Und drittens ist die SF universell, da ihre Probleme alle Grenzen überschreiten. »Science-Fiction ist das globale und universelle Medium, um Geschichten zu erzählen«, schreibt Cixin Liu. »Sie wird von allen Kulturen verstanden. Die SF beschäftigt sich mit Problemen, denen die ganze Menschheit gegenübersteht, und die Gefahren, die sie heraufbeschwört, betreffen üblicherweise die Menschheit als Ganzes. Dieses Genre hat also eine einzigartige und sehr wertvolle Sichtweise auf die Menschheit – es betrachtet sie stets als eine unteilbare Einheit.«
 

Nicolas Cheetham ist Verleger von Head of Zeus, dem britischen Verlag von Cixin Liu, Chen Qiufan, Ken Liu, Adrian Tchaikovsky und anderen.

 

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