13. Januar 2022 1 Likes

„Stalker“ - Im Gespräch mit Übersetzer M. David Drevs

Der verfilmte SF-Klassiker der Brüder Strugatzki als Neuausgabe

Lesezeit: 8 min.

Die Romane und Erzählungen der Brüder Arkadi und Boris Strugatzki (im Shop) gelten nicht nur im russischsprachigen Raum als literarische Klassiker. Ihr berühmtestes und einflussreichstes Werk ist zweifellos der Roman „Picknick am Wegesrand“ aus dem Jahr 1972 – nicht zuletzt, weil Regisseur Andrei Tarkowski daraus 1979 seinen populären Film „Stalker“ destillierte. Die Geschichte von Gebieten, die durch Alien-Besuch zu Zonen voller außerirdischer Schätze und Gefahren geworden sind, in denen sich allein die Stalker genannten Pfadfinder, Glücksritter und Schmuggler halbwegs zurechtfinden, inspiriert bis heute die Science-Fiction in Buch, Film und Game. Bei Heyne ist unter dem Titel Stalker“ (im Shop) soeben eine Neuübersetzung von „Picknick am Wegesrand“ erschienen. Die aktuelle Übertragung aus dem Russischen stammt von M. David Drevs (im Shop), der seit den 1980ern als Übersetzer für Literatur und Film, Dolmetscher, Lektor und Dozent tätig ist und z. B. auch die Bücher von Dmitri Glukhovsky (im Shop) eindeutscht. Für die Neuausgabe von „Stalker“ übersetzte er neben den stimmungsvollen Episoden des kurzen, vielseitigen Romans obendrein den Kommentar aus den Arbeitstagebüchern der Brüder Strugatzki und eine Erzählung, die als Grundlage der Verfilmung gedacht war. Außerdem verfassten Drevs und diezukunft.de-Kollegin Elisabeth Bösl zusammen ein Nachwort zur weitreichenden, medienübergreifenden Stalker-Legende. Im Interview spricht der in München lebende M. David Drevs über seine Beziehung zum Schaffen der Brüder Strugatzki, seine Herangehensweise an die „Stalker“-Neuübersetzung sowie Werke, die er gerne ins Deutsche überführen würde.

 


M. David Drevs. Foto © privat

Hallo Herr Drevs. Können Sie uns für den Anfang erzählen, wann Sie zum ersten Mal etwas von den Strugatzkis gelesen haben?

Die Strugatzkis habe ich erst spät für mich entdeckt – im Slavistikstudium der späten Achtzigerjahre kam die sowjetische Science-Fiction ja nur am Rande vor. Privat hatte ich natürlich vor allem Verne, Wells, Orwell und Bradbury gelesen, von den Osteuropäern gerade mal ein wenig Lem, den ich auch nur zur Hälfte verstand. Ich gehöre also auch zu den vielen, die erst durch Tarkowskis „Stalker“ in die Welt der Strugatzkis eingeführt wurden – oder besser: in ihre Nähe gebracht, denn zwischen Film und Roman gibt es ja große Unterschiede. Damals hatte ich jedenfalls nicht die leiseste Ahnung, welchen Stellenwert das Werk der Brüder innerhalb der sowjetischen Literatur hatte. Noch heute rangieren Klassiker wie „Schnecke am Hang“, „Es ist schwer, ein Gott zu sein“ und eben „Picknick am Wegrand“ (hier: „Stalker“) unter den beliebtesten Büchern in der russischsprachigen Welt.

Ist Russisch von Haus aus schwieriger ins Deutsche zu übertragen als, sagen wir, Englisch? Gibt es da größere Unterschiede, Variablen?

Ich glaube nicht, dass Übersetzungen aus dem Russischen grundsätzlich schwieriger sind als aus anderen Sprachen. Natürlich gibt es besondere Herausforderungen, etwa dass das Russische keine Artikel kennt, häufig mit unpersönlichen Verbformen arbeitet oder sich als flektierende Sprache mehr Freiheiten in der Syntax erlaubt. Auch gibt es bestimmte Begriffe, die im Russischen eine Vielzahl schillernder Konnotationen besitzen und sich daher gar nicht mit einem deutschen Wort wiedergeben lassen. Da ist bei der Übersetzung natürlich ein Bedeutungsverlust geradezu vorprogrammiert. Aber das ist ja kein spezifisches Problem des Russischen, das gibt es in jeglicher Sprachkombination.

Sie sind auch Lehrer und Dozent, u. a. fürs literarische Übersetzen und für interkulturelle Kommunikation. Spielen die Strugatzkis, eventuell als Beispiele, eine Rolle in Ihrer Lehrtätigkeit?

Bislang habe ich das noch nicht gemacht, aber warum nicht? Klar, das Thema Interkulturalität wird in vielen Werken der Brüder immer wieder angerissen – etwa wenn Maxim Kammerer in „Die bewohnte Insel“ auf dem Planeten Sarraksch landet und erst lernen muss, wie er in dieser von Krieg und Terror beherrschten Gesellschaft überlebt. Auch für eine Übung in literarischer Übersetzung könnte ich mir so manchen Text der Strugatzkis durchaus vorstellen, habe das in meinen Kursen aber bisher noch nicht durchexerziert. Also danke für die Anregung!

Was macht „Stalker“ in Ihren Augen zu so einem Klassiker des Genres? Für einen unkonventionell erzählten, ironischen Episodenroman ist das Standing des Buches ja wirklich enorm, und das liegt sicher nicht nur an der Verfilmung, oder?

Das kann man sicher von ganz vielen Seiten her beantworten. Was macht „War of the Worlds“, „1984“, „Animal Farm“ und „Fahrenheit 451“ zu Klassikern? Vielleicht ja ihre ganz einfachen und doch so überzeugenden, geradezu archetypischen Grundkonzepte. Genauso ist das mit der Figur des Stalkers und dem Sujet der „Zone“. Beide haben sich – gerade in ihrer engen, geradezu symbiotischen Verbindung – vor allem in der sowjetischen und russischen Literatur in einer Weise verselbstständigt, wie es die Strugatzkis selbst sicherlich nicht mal im Traum geahnt haben, als sie den kurzen Roman schrieben (den man übrigens auch als Langerzählung klassifizieren könnte).

Was war Ihnen bei der Neuübersetzung von „Stalker“ am wichtigsten?

Generell bietet es sich bei jedem „Klassiker“ (wie immer man diesen Begriff auch definieren mag) an, dass man ihn von Zeit zu Zeit neu übersetzt. Das Sprach- und Stilempfinden der Leser:innen entwickelt sich ja ständig weiter. Ein gutes Beispiel ist da der Titel des Originalwerks: „Picknick am Wegesrand“ klingt für unsere heutigen Ohren fast ein bisschen poetisch, nicht wahr? Dabei entspricht es doch so gar nicht dem Duktus des russischen Originals, und auch die Story gibt diesen etwas schwelgerisch-sentimentalen Ton eigentlich nicht her. Mit einer winzigen Manipulation, nämlich indem man zwei Buchstaben streicht, lässt sich da eine Menge erreichen: „Picknick am Wegrand“ klingt, wie ich finde, schon wesentlich nüchterner und gibt die Essenz der Aussage meines Erachtens besser wieder. Nun ist der Verlag meinem Vorschlag in dieser Sache nicht gefolgt, und das hat sicherlich gute – wenn auch mir unbekannte – Gründe. Aber grundsätzlich habe ich mich bei meiner Neuübersetzung schlicht von meinem eigenen Sprachgefühl leiten lassen. Mir war es wichtig, dass der deutsche Text atmet und die Dynamik des Romans auch in dieser Zielsprache erfahrbar wird. „Stalker“ lässt sich ist ja auch eine extrem packende Abenteuergeschichte!

Und was erfüllt Sie an Ihrer Neuübersetzung am meisten mit Stolz, wenn wir schon dabei sind?

Ich bin einfach sehr glücklich, dass ich diesem wichtigen und tiefen Werk meine deutsche „Stimme“ leihen durfte – und hoffe sehr, dass das zumindest einigermaßen gelungen ist. Als günstige Fügung hat sich dabei herausgestellt, dass der Roman 2019 in der russischen Strugatzki-Gesamtausgabe noch einmal neu editiert wurde und 2021 dann auch seine späteren russischen Fassungen herauskamen, beides jeweils mit umfangreichem Kommentar und Referenzmaterial. Mir stand also eine bis dato ungekannte Textgrundlage zur Verfügung, was mir die Arbeit natürlich extrem erleichtert hat! Vor allem die Wandlungen der Story von der ersten Fassung des Romans bis hin zur Vorlage für Tarkowskis Verfilmung sind extrem spannend nachzuverfolgen – eine dieser späteren Versionen haben wir ja auch in „Stalker“ veröffentlicht. Sie trägt den Titel „Die Wunschmaschine“.

Haben Sie die alte Übertragung bewusst ignoriert, oder wie muss man sich Ihr Verhältnis zu vorherigen Ausgabe bei Ihrer Arbeit an der Neuübersetzung vorstellen?

Grundsätzlich spricht überhaupt nichts dagegen, bei einer Neuübersetzung auch bereits existierende Fassungen zu Rate zu ziehen. In meinem Fall war es aber so, dass ich im Verlauf der gesamten Arbeit tatsächlich nur ein, zwei Mal in die (übrigens sehr gute) Übersetzung von Aljonna Möckel von 1981 hineingeschaut habe – nicht etwa, weil ich selbst nicht mehr weiter wusste, sondern aus reiner Neugier. Mit war es aber wichtig, in meinem eigenen „Flow“ zu bleiben. Ich wollte einfach wissen, wie sich diese Geschichte anfühlt, wenn ich sie aus einem Guss in meiner Sprache erzähle.


„Picknick am Wegesrand“ – ältere Ausgaben des Romans

Sie übersetzen auch Dmitri Glukhovsky ins Deutsche, Bewunderer und „Erbe“ der Strugatzkis. Macht es das Übersetzen seiner Werke leichter, dass sie beide die Strugatzkis so gut kennen, dasselbe literarische Bezugssystem haben?

Glukhovskys frühe Romane hatte ich zum größten Teil bereits übersetzt, bevor ich mit den ersten kleineren Texten der Strugatzkis beauftragt wurde. Also müsste eigentlich sein „Sound“ meine Strugatzki-Übertragungen beeinflusst haben, oder? Die Parallelen sind aber, wie ich finde, durchaus begrenzt: Dmitri ist eine ganz eigene Hausnummer, ein großartiger Autor mit einer starken, unverkennbaren Stimme – was in meinen Übersetzung hoffentlich auch zum Tragen kommt.

Gibt es einen weiteren russischen oder anderen Science-Fiction-Klassiker, den sie gerne erstmals oder neu ins Deutsche übertragen würden?

Ein „Klassiker“ fällt mir jetzt nicht ein, aber nur zu gern würde ich für das deutschsprachige Publikum irgendwann mal eine bislang unbeachtete Perle bergen, nämlich den Roman „NET“ von Linor Goralik und Sergej Kusnezow. Dieser lässt sich durchaus im Science-Fiction-Genre verorten, auch wenn er ebenso Krimi- und Thriller-Elemente erhält und mit diversen literarischen Gattungen spielt. Es ist ein wilder Ritt und sprachlich eine große Herausforderung!


Die Brüder Strugatzki

Aber wo wir schon dabei sind: Es gibt da diese „Urfassung“ von „Stalker“ – die erste vollständige Drehbuchvorlage, die die Strugatzkis 1977 für Andrej Tarkowski verfassten, bevor dieser selbst das Ruder übernahm und noch während der Arbeit an seinem berühmten Film entscheidende Passagen veränderte. Gerade weil das Drehbuch der Brüder nie als Film umgesetzt wurde, fände ich es zum Beispiel faszinierend, daraus sozusagen „im Nachgang“ etwas zu machen – zum Beispiel ein Hörspiel oder eine Theaterfassung. Das wäre meines Erachtens wirklich reizvoll, nicht zuletzt als Ergänzung zur Neuausgabe des Romans. Die Übersetzung des Drehbuchs habe ich im Wesentlichen bereits fertiggestellt, jemand müsste nur die Rechte dafür erwerben.

Im Moment herrschen wieder einmal größere Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Gibt Ihnen die intensive Beschäftigung mit der russischen Kultur, vielleicht ja sogar explizit den Strugatzkis, besondere Einsichten und Anhaltspunkte in solchen Phasen, die immer etwas Bedrohliches haben?

2013 feierte Alexej Germans „Es ist schwer, ein Gott zu sein“ beim Filmfestival in Rom Premiere. Auch dieser Film basiert auf einem Strugatzki-Roman, den man sehr gut als Allegorie auf die vielen Stellvertreterkriege dieser Welt lesen kann. Scheinbar überlegene Zivilisationen stülpen dabei „primitiven Kulturen“ ihre Wertesysteme über und hinterlassen am Ende doch nur Chaos. Vietnam, Irak, Afghanistan – die Liste ließe sich fortsetzen. Führt man sich vor Augen, was heute noch immer an der ukrainischen Demarkationslinie geschieht, kommen einem unwillkürlich ganz ähnliche Gedanken – Walentyn Wassjanowytsch hat dafür ja in „Atlantis“ von 2019 seine ganz eigenen Bilder gefunden. Das alles hat aber meines Erachtens nur bedingt mit „russischer Kultur“ zu tun. Es sind schlicht die Auswüchse eines internationalen Konkurrenzkampfs, bei dem Machterhalt, Einflusszonen und strategische Interessen Vorrang haben vor dem individuellem Recht auf Leben, Gesundheit und Menschenwürde. Diese zuletzt genannten Werte sind für die Strugatzkis stets unumstößlich gewesen – und gerade deswegen sind viele ihrer Werke auch heute noch hochaktuell.

Das sind sie, und das ist doch das perfekte Schlusswort. Vielen Dank für dieses Interview!

Arkadi & Boris Strugatzki: Stalker • Roman • Aus dem Russischen von M. David Drevs • Heyne Verlag, München 2021 • 400 Seiten • Erhältlich als Paperback und Ebook • Preis des Paperbacks: 12,99 € (im Shop)

[bookpreview] 978-3-453-32101-4

 

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