25. Mai 2020 2 Likes

„Künstliche Intelligenzen enthüllen die Neigungen ihrer Schöpfer.“

Im Gespräch mit Autor M. G. Wheaton („Emily Eternal“)

Lesezeit: 10 min.

Der Amerikaner Mark Wheaton (im Shop) wirkte bereits an Videogames („F.E.A.R. 2: Project Origin“) und Filmen („Freitag, der 13.“) mit, wobei er mit z. B. Michael Bay und Steven Sonderberg zusammenarbeitete, schrieb aber auch schon eigene Comics („Cleaners“). Außerdem war der gebürtige Texaner, der heute mit seiner Familie in Los Angeles lebt, als freier Journalist für den „Hollywood Reporter“ und „Total Film“ tätig. Nach mehreren Romankrimis veröffentlichte er als M. G. Wheaton seinen ersten Science-Fiction-Roman „Emily Eternal“, der bei Heyne auf Deutsch erschienen ist. Darin wird im Angesicht des drohenden Weltuntergangs die hoch entwickelte künstliche Intelligenz Emily – ein einfühlsames künstliches Bewusstsein – zur letzten Hoffnung der Menschheit. Vorausgesetzt, Emily überwindet ihre moralischen Bedenken, um möglichst viel von der menschlichen Spezies zu retten – egal welche Grenzen dabei überschritten werden müssen. Im Interview spricht Mark Wheaton über seine Erfahrungen mit Computern und KI, den Unterschied zwischen Drehbüchern und Romanen sowie die Parallelen zwischen seiner endzeitlichen Geschichte und der gegenwärtigen Corona- Krise.

 


Mark Wheaton. Foto © Morna Ciraki Photography

Hallo Mark. Du hast einen beruflichen Hintergrund mit Computern. Was genau hast du gemacht, und wie hat das die Entwicklung von Emily beeinflusst?

Um mich durchs College zu bringen, arbeitete ich in einer Fabrik an einem Fließband, wo CPUs und Server zusammengebaut wurden. Man erlernt die greifbare Seite von Technologie sehr schnell. Wie man Laufwerke repariert. Wie Massen an Informationen gespeichert werden. Wie Prozessoren arbeiten und welche Grenzen sie haben. Aber ich bin auch mit all dem aufgewachsen, da mein Vater sein ganzes Leben lang mit Computern arbeitete. In den 60ern, 70ern und 80ern installierte er Systeme für Bank- und Hotelketten, als diese von Akten aus Papier umstellten. Er brachte mir schon in jungen Jahren bei, wie Informationstechnologie voranschritt und was die Leute von ihr wollten.

Was Emilys Herkunft angeht, so hoffte ich, all das den nächsten logischen Schritt weiter zu führen. Derzeit wird viel dahingehend geforscht, wie Erinnerungen in Menschen und Tieren existieren und aufbewahrt werden. In den letzten fünf Jahren hat es Experimente mit Erinnerungen gegeben, die in Mäuse implantiert wurden, oder Genen, die von einem menschlichen Gehirn in das eines Affen transferiert wurden, um den Empfänger der Transplantation etwas erlangen zu lassen, das sonst nur chirurgisch erworben hätte werden können. In der Extrapolation deutet das an, dass individuelle Erinnerungen, konditioniertes Verhalten und Erfahrungen eines Tages, unter Umständen, ebenfalls gespeichert oder transplantiert werden können. Das könnte zu menschlicher Unsterblichkeit und endlosem Lernen führen.

Emily wäre ein Produkt all dieser Entwicklungen. Sie ist nicht bloß das Ergebnis der Erschaffung eines künstlichen Bewusstseins (was natürlich suggeriert, dass wir eines Tages tatsächlich in der Lage sein werden, das knifflige Problem zu lösen, was Bewusstsein wirklich ist), sie kann außerdem dazu genutzt werden, das lebendige Bewusstsein der gesamten Menschheit zu ernten und zu speichern. Und wenn das möglich wäre, wie wird sie uns dann sehen?

Das Verhältnis von Emily und ihrem menschlichen Schöpfer im Buch ist zudem ziemlich interessant …

Künstliche Intelligenzen enthüllen auf grandiose Weise die Neigungen und Urteilsverzerrungen ihrer Schöpfer. Ein künstliches Bewusstsein wie Emily ist zunächst die Summe der Neigungen ihres älteren, patriarchalischen, weißen Professor-Schöpfers. Obwohl er gemocht wird und eine verantwortungsvolle Stellung hat, ist er die Art Individuum, die es nicht gewohnt ist, hinterfragt zu werden. Als er Emily baut, erschafft er, ob bewusst oder unterbewusst, keinen Spiegel von jemandem, den er als herausfordernd wahrnehmen könnte, sondern einen idealen Schüler. Jemanden zum unterrichten und belehren. Emily ist damit lange Zeit zufrieden und hinterfragt erst nach seinem Verrat ihr Framing. Problematisch ist, dass der Professor wahrscheinlich glaubt, es sei sein Recht, seinen egal wie weit entwickelten Schüler zu hintergehen.

Ist die immer massivere Symbiose von realer und virtueller Welt das, was du wirklich von der Zukunft erwartest?

Es ist so schwierig, vorherzusagen, was als nächstes kommt. Doch die gegenwärtige Pandemie mag uns ein Fenster öffnen und zeigen, wie es sein wird, wenn klimatisches Chaos uns für längere Zeitspannen ins Haus sperrt oder vom Reisen abhält. Heute verpassen meine Kinder nur ein paar Schultage wegen des Rauchs der jährlichen Waldbrände (und die Kinder meiner Freunde in Houston versäumen die Schule wegen der immer schlimmeren Fluten in Folge der gigantischen Hurricanes an der Golfküste). Aber wegen der Pandemie sehen wir mehr und komplexere Online-Umgebungen, die es erlauben, zu kommunizieren und sich auszudrücken. Ich denke, das wird mehr werden, selbst auf der Entertainment-Seite mit Spielen wie „Animal Crossing“ oder „Minecraft“, die es den Leuten ermöglichen, soziale Interaktion nachzuahmen und, nun ja, Kontrolle über ihre digitale Umgebung zu haben, nachdem sie die Kontrolle über ihr reales Umfeld verloren.

In meinen Augen ist es so einfach. Ist eine virtuelle oder digitale Welt ambitioniert genug, werden die Leute dorthin kommen, anstatt in der Realität zu leben. Wenn sie uns etwas geben kann, das wir wollen oder vermissen oder begehren, wird sie sich ausdehnen, wohingegen reale Interaktionen zurückgehen. Da das Home Office immer normaler wird, verändert das vielleicht die Besiedlungsdichte in den Städten, weil man woanders leben kann in dem Wissen, dass man mit Posten in der Herstellung zu telekommunizieren vermag (wobei diese Herstellungsjobs ohnehin mehr und mehr automatisiert werden). Es kann in zwei Richtungen gehen. Entweder verbringen die Menschen immer mehr Zeit in von ihnen selbst kuratierten Online-Welten, um zu nachzuahmen, wie sich ihre Leben anfühlen sollen. Oder sie sind möglicherweise in der Position, einen physischen Lebensraum zu wählen, der mehr ihren Offline-Vorlieben entspricht, und digitale Welten werden an Popularität verlieren.

Ich schätze, in ein paar Generationen werden wir sehen!


Die Originalausgabe

Wie viel künstliche Intelligenz lässt du derzeit schon in dein Leben?

KI erachte ich in sehr, sehr kleinen Dosen als nützlich. Es ist mir egal, vermarktet zu werden, wenn es tatsächlich in Verbesserungen meiner User Experience resultiert. Musik, die in meinem Spotify aufschlägt und die ich wohl niemals gehört hätte, wenn die KI nicht Zeit darauf verwendet haben würde, meine – langweiligen – Auswahlen zu analysieren. Dasselbe gilt für Kunst, Theater oder sogar Mode. Allerdings ist das der kleinere Nenner. Größtenteils wird KI dazu genutzt, mich zu jagen und in der Hoffnung als Kunden einer Firma zu gewinnen und mich davon zu überzeugen, ihr Produkt zu kaufen, was heute geradezu antiquiert wirkt. Die Menschen sind nicht nur gerissene Konsumenten, sie entwickeln sich auch selbstständig von konstantem, invasivem Marketing fort. Werbefinanziertes Fernsehen wird es nicht mehr lange machen. Die erwartete Zahl derer, die Kabelfernsehen hinter sich lassen zugunsten von reinem Streaming, steigt jedes Jahr. Konsumenten zahlen extra für Streaming-Dienste, um die von ihnen gewollte Musik oder Unterhaltung ohne Werbung zu bekommen. Ja, das Geld geht an eine Firma anstelle einer anderen, aber dahinter steht dennoch eine Entscheidung.

In einer Pandemie wird das alles plötzlich noch mächtiger, da Werbung draußen, an Plakatwänden und Bushaltestellen etc., wegfällt. KI-geleitete Kampagnen werden also noch gezielter, noch spezifischer, und User müssen noch cleverer darin werden, Wege zu finden, sie abzuschalten, um nicht bombardiert zu werden. Obwohl es interessant zu sehen ist, wie die Werbenden auf Animation, Archivmaterial und innerhalb der Social Distancing-Richtlinien gemachte Spots zurückgreifen, damit sie neue Werbespots im Programm haben, die alle mit „In diesen schwierigen Zeiten …“ beginnen.

Würdest du einen Chip am Hals nutzen, um mit einer KI zu interagieren wie im Buch?

Definitiv nicht abseits irgendeiner Art medizinischen Geräts, würde ich sagen, und selbst dann wäre es eine harte Entscheidung. Im Augenblick wäre das nur ein weiterer Weg, Zugang zu meinen Entscheidungen als Konsument zu bekommen oder andere Daten über mich zu sammeln, egal, was sie laut Haftungsausschuss nutzen. Hundertausende Menschen haben damit angefangen, diese genetischen 23andMe-Ahnenforschungs-Dienstleistungen zu nutzen, nur um am Ende festzustellen, dass binnen ein oder zwei Jahren ihre Informationen an pharmazeutische Firmen verkauft wurden.

Irgendwann mögen gedanken-aktivierte Chips für selbst eine Suchmaschine wie Google allgegenwärtig sein, aber ich frage mich, ob das die menschliche Gehirnleistung noch weiter zerfressen wird. Wie lange können wir unbegrenzt eingehende, oft nutzlose Informationen mikrodosieren, ohne dass das einen evolutionären Impact hat?

Du schreibst auch Drehbücher für Filme, Comics und Videogames. Inwieweit hat das Einfluss auf deine Arbeit als Romancier?

Das Schreiben für verschiedene Medien bringt dir bei, Geschichten auf vielerlei Arten zu erzählen. Doch in keinem dieser Fälle habe ich direkt für einen Leser geschrieben. Obwohl ich gerne Drehbücher und Scripts verfasse, sind sie einfach nur Blaupausen für jemand anderen, entweder das Filmproduktionsteam, den Comic-Zeichner oder die Game-Macher. Wenn du dann zu Prosa weiterziehst, gibt es keinen Puffer mehr zwischen dir und dem Publikum – keinen Zeichenstil, den man für unlesbare Seiten verantwortlich machen kann, und keinen Regisseur, dem man die Schuld dafür geben kann, alles falsch gefilmt zu haben. Es liegt einzig und allein an dir. Unglücklicherweise kam ich mit allen möglichen schlechten Angewohnheiten zum Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten, etwa dem Hinzufügen von Soundeffekten, dem Überbeanspruchen von fett geschriebenen Worten und allen anderen Tricks, die daher kommen, mehr schlecht als recht möglichst visuell zu schreiben, was aber schauderhaft zu lesen war. Ich bin hoffentlich besser geworden, schreibe und überarbeite, schreibe und überarbeite, während Freunde und Redakteure lesen und kommentieren.


Film, Comic, Prosa – Mark Wheatons Palette

Dein Roman ist auch auffallend schlank und knackig …

Als ich nach einem Agenten suchte, der mich repräsentiert, schickte ich Laura Dail einen 125.000-Wörter-Romankrimi („Emily Eternal“ ist im Englischen ungefähr 80.000 Wörter lang). Sie sandte ihn mir zurück und sagte, es sei vielversprechend, doch müsste er um ein Drittel gekürzt werden. Ich hielt das für unmöglich. Meine Worte sind zu wichtig! Dann tat ich es und hatte nicht das Gefühl, dass etwas fehlte. Seither denkt mein Gehirn irgendwie in Geschichten mit 80.000 Wörtern oder weniger.

Das erinnert mich an die eine Anekdote über Krimiautor Chester Himes. Zu seiner Zeit mussten Romankrimis alle eine bestimmte Länge haben. Deshalb stapelte er auf der linken Seite seiner Schreibmaschine die genaue Anzahl Blätter und legte los. Wenn auf der rechten Seite mehr Blätter waren als auf der linken, fing er damit an, die Dinge zum Abschluss zu bringen. Ich habe stets bewundert, wie straff seine Bücher sind.

Es mag außerdem eine weitere Angewohnheit vom Drehbuchschreiben sein. Die meisten Filme sind weniger als zwei Stunden lang, damit Kinos möglichst viele Vorstellungen an einem Tag zeigen können. Du verkaufst mehr Popcorn und Eintrittskarten, wenn du sechs Mal am Tag einen 100-Minuten-Film zeigst anstatt in derselben Zeit zwei Mal einen 210-Minuten-Film. Wenn eine Minute Zeit auf der Leinwand einer einzelnen Manuskriptseite entspricht, reicht man immer Drehbücher mit um die 105/112 Seiten ein. Wenn du einem Studio 160+ Seiten gibst, solltest du besser einen guten Grund dafür haben oder ein „Avengers“-Sequel.

Ich könnte also längere Romane schreiben, doch sie wären wohl überschrieben und abschweifend.

Wegen Corona wurde und wird viel darüber diskutiert, welche Rechte und Grenzen die Regierung aushebeln darf, um Menschenleben zu retten. Das hat „Emily Eternal“ zusätzliche Relevanz gegeben in diesen Tagen, oder?

Es hat vieles verstärkt, denke ich. Ich weiß, dass es viele apokalyptische Geschichten gibt, in denen die Leute verrückt werden, der Aufstand geprobt wird und „Mad Max“ ausbricht, doch ich dachte schon immer, dass es für die Leute traurig und betäubend sein müsste, zu wissen, dass die gesamte Menschheit frühzeitig ein Ende findet. Darüber hinaus legt „Emily Eternal“ nahe, dass jene, die politische Macht haben und Ressourcen kontrollieren, danach trachten, sich selbst zu erhalten sowie ein paar Wenige, von denen sie profitieren können. Auf einem Makro-Level passiert das vor allem in meinem Heimatland auf Dutzende von Arten.

Doch in meiner Stadt und Nachbarschaft, auf dem Micro-Level, kümmern sich die Leute umeinander. Menschen in meiner Straßen tauschen die ganze Zeit Dinge. Jeder ist bereit, Ressourcen zu teilen: „Oh, mein Bruder kann Heizungen reparieren, ich rufe ihn an“. „Kann ich einen Sack Limonen gegen fünf deiner Gesichtsmasken tauschen, jetzt, da das Tragen in der ganzen Stadt Pflicht ist?“ „Meine Schwester arbeitet in einem Krankenhaus, hat irgendjemand Hygienetücher, die er spenden will?“ „Das Restaurant, in dem ich arbeite, hat immer noch Zugang zu diversen Nahrungsmittellieferanten – hier ist eine Liste, ihr könnt die Sachen zum Einkaufspreis über uns bestellen.“ Dies alles, wieder und wieder. Von den örtlichen Schullehrern gar nicht erst zu sprechen, die wirklich die Dinge zusammenhalten für Kinder, für die bald 70 Tage im Lockdown zu Buche stehen. All das zeigt zu einem gewissen Grad, woran Emily im Roman glaubt. Wenn es drauf ankommt, versuchen wir wirklich, einander zu helfen.

Willst du deinen deutschen Lesern noch etwas sagen, vielleicht auch über deinen nächsten Roman?

Mein nächstes Buch hätte eigentlich diese Woche in Großbritannien erscheinen sollen, verspätet sich aber wegen der Erschütterungen der Lieferketten. Es heißt „The Quake Cities“ und wird hoffentlich Ende des Jahres im Vereinten Königreich und im Frühjahr in den USA herauskommen. Es dreht sich um eine Erdbebenplage, die die Welt zerreißt und eine Stadt nach der anderen fällt. Ein junger Plünderer, der darauf spezialisiert ist, für wohlhabende Menschen auf der ganzen Welt Dinge aus Erdbebengebieten zu bergen, trifft in den Ruinen von Los Angeles eine seltsame Frau, die glaubt, vor Jahren gestorben zu sein und, wie sich herausstellt, womöglich den Schlüssel für die Zukunft der Menschheit in Händen hält.

Meinen deutschsprachigen Lesern möchte ich – auch wenn es sentimental klingt – noch sagen, dass ich hoffe, ihr bleibt physisch wie psychisch gesund. Es ist ein wildes, unberechenbares Zeitalter. Mögen wir alle durchkommen und die andere Seite mit dem Wissen erreichen, was funktioniert und was wir verändern müssen, um die nächsten Herausforderungen zu meistern, ob groß oder klein.

M. G. Wheaton: Emily Eternal • Heyne, München 2020 • 381 Seiten • E-Book: € 11,99 (im Shop)

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