20. Oktober 2019 1 Likes

Die Unverrückbarkeit der Zukunft

Robert Silverberg führt in „Der Seher“ einen Propheten an seine Grenzen

Lesezeit: 4 min.

Die Idee, in die Zukunft sehen zu können, hat etwas ungemein Verführerisches, denn schließlich möchte so gut wie jeder Mensch wissen, was nächstes oder übernächstes Jahr passiert, um sich darauf einstellen zu können. Doch was, wenn der Blick nach vorn nicht nur bedrohliche Szenarien offenlegt, sondern auch die totale Unfähigkeit, an selbigen etwas zu ändern? Robert Silverberg hat dieser Idee einen seiner besten Romane gewidmet: „Der Seher“ („The Stochastic Man“) aus dem Jahr 1975. Jetzt ist das Buch erstmals als E-Book (im Shop) lieferbar.

Die Geschäftsidee von Lew Nichols lässt sich rasch skizzieren: Als jemand, der mit großer Treffsicherheit zukünftige Tendenzen und Entwicklungen vorhersagen kann, ist er der ideale Mitarbeiter für jede Marketingkampagne. Entsprechend hat er eine Firma gegründet, um seine besondere Fähigkeit optimal zu vermarkten, was ihm sehr freundliche Lebensumstände beschert. Doch Lew will mehr. Als er auf einer Party dem charismatischen Politiker Paul Quinn begegnet, spürt er sofort, dass diesen eine glänzende Zukunft erwartet – Quinn wird Präsident der Vereinigten Staaten werden. Noch aber kämpft er um das Bürgermeisteramt von New York. Lew gibt seine bisherige Tätigkeit auf, um sich voll und ganz auf Quinn konzentrieren zu können, was dann auch vielversprechende Ergebnisse nach sich zieht. Für eine Kandidatur zum Präsidenten ist es freilich noch zu früh, allerdings lassen sich auch in dieser Hinsicht bereits erste Strippen ziehen.

Doch Lews Fähigkeiten sind durchaus Grenzen gesetzt – er ist kein echter Seher, er hat nur Ahnungen. Was Prophetie wirklich bedeutet, wird ihm bewusst, als er Carvajal begegnet, einem unscheinbaren älteren Mann, der dank seiner Begabung ein enormes Vermögen gemacht hat. Carvajal vermag wirklich in die Zukunft zu „sehen“, und er weiß, dass er auch Lew dazu bringen kann, seine Fähigkeiten voll zu entfalten. Doch dazu bleibt ihm nicht mehr viel Zeit, denn der alte Mann hat zigmal seinen eigenen Tod erlebt, der sich bald ereignen und dessen Zeuge Lew sein wird. Alle Versuche, diesem Ereignis auszuweichen, seien vollkommen vergeblich, behauptet Carvajal, weswegen ihn das Ende nicht schrecken würde: Es komme auf ihn zu wie der Schluss eines Films, den man schon mehrfach gesehen hat. Aber das ist nicht das einzige Problem. Lew wird beim Training seiner Fähigkeiten immer wieder von Visionen heimgesucht, die Paul Quinn als despotischen Herrscher zeigen. Hat er auf den falschen Mann gesetzt? Und falls ja – ist dessen Diktatur genauso unausweichlich wie das Ende von Carvajal?

„The Stochastic Man“ erschien 1975 und damit kurz vor Abschluss der zweiten und wichtigsten Schaffensphase von Robert Silverberg, wie Uwe Anton in seinem Werkführer „Zeit der Wandlung“ (SF Personality 26) unterstreicht. Der bis Mitte der 1960er Jahre hochproduktive, aber weitgehend mit belangloser Unterhaltung beschäftigte Autor schrieb 1967 mit „Thorns“ (dt. „Der Gesang der Neuronen“, im Shop) sein erstes Meisterwerk, das ihn zu ambitionierten Themen und einer ausgefeilten Umsetzung führen sollte. „Der Seher“ liegt genau auf dieser Linie und lässt sich als Mischung aus Politthriller und Gesellschaftsporträt (mit viel 1970er-Jahre-Kolorit) beschreiben, eine Melange, die allerdings ohne das dezent eingesetzte SF-Element nicht funktionieren würde. Bisweilen bricht dieses auch zur Gänze durch, wenn Lew tagträumend in eine ferne Zukunft sieht: „Ich erhasche flüchtige Blicke auf ungeheure Wesen, die aufsprießen und sich blähen und verfallen und sterben. Dies sind die Grenzen des Reiches der Kröten. An dieser Mauer beginnt die Republik der langbeinigen Insekten. Der Mensch selbst ändert sich. Sein Körper wandelt sich viele Male, wird grob und dann fein und dann gröber als je zuvor, sonderbare Organe entwickeln sich an ihm, die wie Stimmgabeln an den Knoten seiner ledernen Haut zittern …“

Doch das ist längst nicht alles. Silverbergs Roman ist auch ein Buch über die Unausweichlichkeit des eigenen Todes und der Illusionen, die man sich in dieser Hinsicht macht. „Nun, die Menschen sterben wirklich, Lew“, sagt Carajaval, „einige mit zwanzig und andere mit hundertzwanzig, und immer kommt es als eine Überraschung.“ Schließlich denkt insgeheim ein jeder, er wäre die Ausnahme, die es nicht erwischen würde. Doch weit gefehlt, und so wird auch Lew mit Bildern seines eigenen Todes konfrontiert. Einem Tod, dem er genauso wenig ausweichen kann wie allen anderen Ereignissen, die er vorhersieht.

Silverbergs Weltsicht ist in diesem Buch streng deterministisch – was passieren soll, wird tatsächlich geschehen. Der Einzelne vermag den Ereignissen allenfalls zuzuarbeiten, denn verhindern lassen sie sich nicht. Dies kann man für zutreffend halten oder ablehnen. Dass Silverberg für seine Hauptfigur trotz der unerfreulichen Aussichten einen versöhnlichen Schluss bereithält, soll hier aber unbedingt erwähnt werden.

Robert Silverberg: Der Seher • Roman • Aus dem Amerikanischen von René Mahlow • Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 • E-Book • € 3,99 (im Shop)

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