28. Februar 2022 6 Likes

Asche und Staub

Putins Krieg in der Ukraine vervollständigt das düstere Bild, das wir uns vom 21. Jahrhundert machen können

Lesezeit: 5 min.

Wer sich für längere Zeit auf dem Planeten Erde aufhält, bekommt früher oder später einen Eindruck davon, zu welchen Abscheulichkeiten Menschen fähig sind. So bitter das ist, man gewöhnt sich an die Abscheulichkeiten. Und doch hat mich Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine (ein grenzüberschreitendes Ereignis in jeder nur denkbaren Hinsicht, ein terroristischer Akt, ein Jahrhundertverbrechen) mehr erschüttert, als ich es für möglich gehalten hätte. Wer weiß, vielleicht auch, weil mich seither ferne Echos aus der Geschichte meiner Familie erreichen.

Meine Großmutter väterlicherseits wurde 1910 in der Nähe der Stadt Przemyśl geboren, heute südöstliches Polen, damals Teil der autonomen Region Galizien im österreichisch-ungarischen Kaiserreich. Galizien war ein Völkergemisch aus Polen, Ukrainern und Deutschen, eine historische Landschaft, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder in den Reißwolf der Geschichte geraten ist. Wie auch meine Familie: Schon vor 1914 herrschte in Galizien eine große Hungersnot, und meine Großmutter und ihre Eltern mussten nach Wien umsiedeln. Zwei Weltkriege – zwei historische Tobsuchtsanfälle – später gab es ihre Heimat nicht mehr. Durch die Mitte dessen, was einmal Galizien war, verläuft heute die polnisch-ukrainische Grenze.

Ich kann nicht von mir behaupten, viel über Polen und die Ukraine zu wissen. (Ich habe einmal in Ostpolen Urlaub gemacht, und die Leute dort haben mich wie ein exotisches Tier angeschaut, als ich ihnen sagte, dass ich Mamczak heiße und kein Polnisch spreche.) Aber Galizien war für mich immer ein Symbol für die Gnadenlosigkeit, mit der die Geschichte, mit der die Macht mit Menschen verfährt, die ihr im Weg sind. Wenn ich an Galizien und meine Familie denke, fällt mir zwangsläufig Joyce’ berühmtes Zitat ein, dass die Geschichte ein Alptraum ist, aus dem man zu erwachen versucht.

Am Donnerstag vergangene Woche sind wir in einem Alptraum aufgewacht. Über hundert Jahre, nachdem meine Großmutter Galizien verlassen musste, schlugen dort, wie in der ganzen Ukraine, russische Raketen ein. Als hätte uns eine Zeitmaschine in das frühe 20. Jahrhundert zurückkatapultiert, müssen wir zusehen, wie mitten in Europa ein unabhängiger Staat von einer übermächtigen Militärmaschine überfallen wird, deren Absicht es ist, diesen Staat zu liquidieren. Diese Absicht wird natürlich nicht ausgesprochen; der Herrscher der Militärmaschine begründet seinen Krieg damit, er wolle die Ukraine „entnazifizieren“.

Nun hat es seit dem Fall der Berliner Mauer, dem Beginn des historischen Abschnitts, in dem wir uns gerade befinden, nicht wenige militärische Interventionen und Kriege gegeben, die auf Lügen aufgebaut waren; George W. Bushs Irak-Invasion ist wohl das prominenteste Beispiel. Aber Putins Lüge hat eine ganz eigene Qualität. Man könnte sagen, sie gehört, wie Putin selbst, einer eigenen psychologischen Kategorie an: Seine Lüge ist der Fokuspunkt einer trüben, psychotischen Parallelwelt, in der Russland seit Jahrzehnten gedemütigt wird, die frei gewählte ukrainische Regierung „faschistisch“ ist, die eigene Militärmaschine aus „Friedenstruppen“ besteht und es im Übrigen auch gar kein Land namens Ukraine gibt.

In Konflikten sind Begriffe Waffen zur Vernebelung, das ist keine neue Erkenntnis, und sehr oft erreichen sie dieses Ziel, aber Putins Lüge (das ist ihr einzig positiver Aspekt) lässt uns die Dinge klarer sehen. Sie lässt uns sehen, dass es sich genau andersherum verhält. So diffus der Begriff Faschismus auch ist, das Putin-Regime erfüllt jetzt beinahe alle Merkmale, die Umberto Eco einmal aufgelistet hat, um den „Ur-Faschismus“ zu charakterisieren: der Kult der Überlieferung, die Blut-und-Boden-Ideologie, die Obsession einer Verschwörung, die Verachtung des Schwachen, die brutale Unterdrückung abweichender Meinungen, das Orwell’sche Newspeak und so weiter. Was immer Wladimir Putin am Anfang seiner politischen Karriere gewesen sein mag, heute ist er ein faschistischer Warlord, der imperialistischen Fieberträumen verfallen ist und die westlichen Demokratien – die Demokratie überhaupt – aus tiefstem Herzen hasst.

Und leider ist er noch mehr. Er ist ein faschistischer Warlord mit Nuklearwaffen. In seiner Fernsehrede, in der er den Krieg verkündete, drohte Putin unverhohlen mit dem Einsatz von Atomraketen gegen jene, „bei denen die Versuchung aufkommen könnte, sich von der Seite in das Geschehen einzumischen“ (eine bedrückend dehnbare Formulierung). Er hat das schon 2014 während der Annexion der Krim getan, aber seine Rede von letzter Woche, gehalten von einem boshaften alten Mann, dessen Gehirn sich, wie Martin Amis einmal über Donald Trump bemerkte, in einen Testosteronsumpf verwandelt hat, ist historisch einmalig, sie ist die eigentliche Zäsur: Zum ersten Mal ist es der Aggressor, der mit Nuklearwaffen droht.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Rede noch im 22. Jahrhundert von Historikern studiert werden wird. In was für einer Welt werden diese Historiker leben? Mit Putins Rede vervollständigt sich ein düsteres Bild, das wir uns von der Zukunft machen können: eine von Wetterkatastrophen und Flüchtlingsströmen aufgewühlte Welt, in der die USA, China und Russland um globalen Einfluss ringen und der Einsatz von Atomwaffen kein Tabu mehr ist; in der Politik nicht auf rationalen Interessen gründet, sondern auf religiösen (Iran, Pakistan, Indien) oder säkularen (Nordkorea, China, Russland) Glaubensbekenntnissen; in der die Demokratien innerlich ausgehöhlt sind und sich ebenfalls in Autokratien verwandelt haben (eine weitere bestürzende Nachricht der letzten Tage war, dass sich große Teile der US-Republikaner, die Trumpisten, zu Putin bekennen); eine Welt, in der wir von der „einen Menschheit“, die wir bräuchten, um die ökologische Zerstörung des Planeten zu verhindern, Lichtjahre entfernt sind und all die technischen Erfindungen, die uns eigentlich zu dieser „einen Menschheit“ verhelfen sollten, für das Gegenteil verwendet werden: für den Kampf aller gegen alle.

Vielleicht wird es so sein. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist der Überfall auf die Ukraine ja Putins letztes verzweifeltes Gefecht gegen die Freiheitsbestrebungen in seinem eigenen Land. Vielleicht ist er der Anfang vom Ende des Putin-Regimes, denn seine große Lüge liegt nun offen zutage und kein Imperium hat sich auf Dauer gehalten, das ausschließlich durch Lügen und Gewalt zusammengehalten wurde. Vielleicht implodiert sein Imperium. Vielleicht implodiert auch das chinesische Imperium. Und vielleicht begreift die amerikanische Bevölkerung, dass eine zweite Trump-Präsidentschaft die USA in den Abgrund reißen würde.

Vielleicht.

Als meine Familie vor über hundert Jahren Galizien verlassen musste, hatte sie wohl keine genaue Vorstellung davon, wie sich das 20. Jahrhundert entwickeln würde. Aber ganz sicher rechnete niemand von ihnen damit, dass Galizien hundert Jahre später nur noch eine ferne Erinnerung sein würde. Alles, was fest zu sein scheint, kann sich eines Tages in Asche und Staub auflösen.

Wir haben das in der vergangenen Woche erlebt.

Und Wladimir Putin könnte es auch einmal erleben.

 

Sascha Mamczak ist Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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