30. Juni 2015 3 Likes

Fütterungszeit

Robert Sheckleys brillante Kurzgeschichte gibt es jetzt exklusiv bei Heyne zum Gratis-Download

Lesezeit: 8 min.

Kaum ein anderer Autor hatte eine derart scharfe Beobachtungsgabe, gepaart mit einem unglaublich humorvollen Geist, wie Robert Sheckley. Seine Geschichten und Romane sind bevölkert von genialen, einfallsreichen Helden, die sich mit allerlei Hochstaplern, skrupellosen Werbefritzen und rätselhaften Aliens herumschlagen müssen und dabei ihren gesunden Menschenverstand nicht verlieren. Denn gerade der gesunde Menschenverstand schien Sheckleys Meinung nach den Amerikanern in den Fünfzigerjahren, in denen viele seiner Geschichten entstanden, gänzlich abhandengekommen zu sein. Das Ergebnis sind über 200 feinsinnige Kurzgeschichten, die auch vor einem kritischen Blick auf das eigene Genre nicht zurückschrecken. Viele davon sind getränkt von einer leisen Paranoia, die sich selbst nie allzu ernst nimmt. Wer einmal das Vergnügen hatte, eine Sheckley-Story zu lesen, wird so schnell nicht wieder davon loskommen.

So ist es auch mit „Fütterungszeit“, die es in unserem Shop als Gratis-Download gibt, aus dem Erzählband Der widerspenstige Planet (ebenfalls im Shop): Acht wertvolle Stunden täglich verschwendet der Bankangestellte Treggis jedes Tag bei der Arbeit. Seine Leidenschaft gilt alten Büchern, je ungewöhnlicher, desto besser. So kann er nicht widerstehen, als er im hintersten Winkel eines Antiquariats ein kleines, abgegriffenes Büchlein mit dem Titel „Pflege und Fütterung von Greifen. Ratgeber für Besitzer“ entdeckt …

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Fütterungszeit

 

Treggis seufzte vor Erleichterung, als der Besitzer des Antiquariats nach vorn ging, um einen anderen Kunden zu bedienen. Es war doch ziemlich nervenaufreibend gewesen, ständig diesen krummen, alten Mann um sich herumscharwenzeln zu haben, der ihm immer wieder über die Schulter geblickt hatte, um mit seinem knorrigen, schmutzigen Finger hierhin und dorthin auf der Buchseite zu deuten, die er gerade aufgeschlagen hatte. Ab und zu hatte der Alte dienstbeflissen mit einem tabakbefleckten Taschentuch Staub von den Regalen gewischt und dann wieder, zu Treggis‘ großen Verdruss, mit schriller hoher Stimme völlig uninteressante Lebenserinnerungen vorgetragen.

Zweifellos war keine böse Absicht dabei im Spiel gewesen, aber alles hatte schließlich seine Grenzen. Er hatte nichts weiter tun können, als höflich zu lächeln und zu hoffen, dass die kleine Glocke über der Ladentür anschlug – was dann endlich auch geschehen war.

Treggis begab sich in den hinteren Teil des Ladens und hoffte, der nervtötende kleine Mann würde nicht nach ihm suchen. Er ging an einer beeindruckenden Menge griechischer Bücher vorüber, dann an der populärwissenschaftlichen Abteilung. Als Nächstes ließ er, in einem eigenartigen Gemisch von Autoren und Titeln, Edgar Rice Burroughs, Anthony Trollope, Theosophie und die Gedichte von Longfellow hinter sich. Je weiter er in den hinteren Teil des Ladens kam, desto dicker wurde die Staubschicht, desto seltener hingen nackte Glühbirnen über dem Gang und desto höher wurden die Stapel der etwas modrig riechenden, eselsohrigen Bücher.

Es war wirklich ein herrlicher alter Ort und Treggis konnte sich überhaupt nicht erklären, warum er ihn nicht schon früher entdeckt hatte. Buchläden waren der einzige Genuss in seinem Leben. Er verbrachte seine gesamte Freizeit in ihnen, glücklich an den langen Bücherreihen entlangwandernd.

Natürlich war er nur an bestimmten Büchern interessiert.

Am Ende des hoch hinaufreichenden Bücherbergs tauchten drei weitere Gänge auf, die in kuriosen Winkeln abzweigten. Treggis folgte dem mittleren Gang und war erstaunt, dass die Buchhandlung viel größer war, als sie von außen gewirkt hatte: nur eine Tür, halb verborgen zwischen zwei Gebäuden, darüber ein altes, handgemaltes Schild. Doch er hatte schon öfter die Erfahrung gemacht, dass man sich bei diesen alten Läden täuschen konnte. Manchmal waren sie beinahe einen halben Häuserblock tief.

Nun teilte sich der Gang in zwei weitere Büchergassen. Treggis wählte die linke und ließ seine Augen mit geübtem Blick über die Titel wandern. Er war nicht in Eile; wenn er wollte, konnte er den ganzen Tag hier verbringen – ganz zu schweigen von der Nacht.

Er war schon ein ganzes Stück den Gang hinuntergeschlendert, als ihm plötzlich ein besonderes Buch ins Auge stach.

Es war ein kleines, schwarzes Buch, alt, jedoch mit jenem alterslosen Aussehen, das manche Bücher haben. Seine Ränder waren abgestoßen und die Schrift auf dem Einband war verblasst.

»Nun, was enthältst du denn?«, murmelte Treggis leise.

Auf dem Einband stand: Pflege und Fütterung von Greifen. Und darunter, in kleinerer Schrift: Ratgeber für Besitzer.

Treggis wusste, dass ein Greif ein mythologisches Ungeheuer war, halb Löwe und halb Adler.

»Nun gut«, sagte er zu sich selbst. »Wollen mal sehen.« Er schlug das Buch auf und begann das Inhaltsverzeichnis zu lesen.

Die Überschriften lauteten: 1. Die Gattung Greif. 2. Eine kurze Geschichte der Greifologie. 3. Unterarten des Greifen. 4. Die Nahrung des Greifen. 5. Die Nachbildung des natürlichen Habitats für den Greifen. 6. Der Greif während der Mauser. 7. Der Greif und …

Treggis klappte das Buch zu. »Dies«, sagte er sich, »ist ganz entschieden – nun ja, ungewöhnlich.«

Neugier ließ ihn das Buch wieder öffnen, er überflog ein paar Seiten, las hie und da einen Satz. Sein erster Gedanke, dass es sich bei dem Buch um eines jener »gekünstelten« naturhistorischen Werke handelte, die in der Elisabethanischen Zeit so beliebt gewesen waren, erwies sich eindeutig als falsch. Das Buch war nicht alt genug; der Stil hatte nichts Beschönigendes, keinen ausbalancierten Satzbau, keine kunstvolle Antithese und dergleichen – er war geradeheraus, klar unterteilt, knapp. Treggis überflog einige weitere Passagen, bis er auf Folgendes stieß:

»Die alleinige Nahrung des Greifen besteht aus Jungfrauen. Gefüttert wird einmal im Monat und es ist ratsam, dabei Vorsicht walten zu lassen …«

Er klappte das Buch wieder zu. Dieser Satz löste eine ungewöhnliche Assoziationskette in seinem Inneren aus. Errötend verscheuchte er sie und betrachtete wieder das Regal, in der Hoffnung, weitere Bücher derselben Sorte zu finden. Irgendetwas wie Eine kurze Geschichte der Affären der Sirenen oder vielleicht Die Aufzucht von Minotauren – richtig gemacht. Aber da war nichts auch nur entfernt Interessantes. Nicht in diesem Regal und, soweit er das beurteilen konnte, auch in keinem anderen.

»Etwas gefunden?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

Treggis schluckte, lächelte und streckte dem Besitzer des Antiquariats das alte schwarze Buch hin.

»Oh ja«, sagte der alte Mann und wischte den Staub von dem Einband. »Was Sie da haben, ist eine Rarität.«

»Tatsächlich?«, murmelte Treggis.

»Greifen«, sagte der alte Mann grüblerisch, während er das Buch durchblätterte, »sind sehr selten. Es sind sehr seltene … Tiere«, schloss er nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Einen Dollar fünfzig bekomme ich für dieses Buch, Sir.«

Treggis verließ, seine Eroberung unter den dünnen rechten Arm geklemmt, eilig den Laden und ging schnellstens nach Hause. Man kauft schließlich nicht jeden Tag ein Buch über die Pflege und Fütterung von Greifen.

 

Treggis‘ Zimmer hatte auffallende Ähnlichkeit mit einem Antiquariat. Es herrschte der gleiche Platzmangel, die gleiche graue Staubschicht lag über allem und es gab das gleiche vage sortierte Chaos von Titeln, Autoren und Genres. Treggis hielt sich diesmal nicht damit auf, sich an seinen Schätzen zu weiden. Seine abgegriffenen Wollüstigen Gedichte blieben unbeachtet. Die Psychopathia Sexualis stieß er unbarmherzig von seinem Sessel, setzte sich und fing an, in seiner neuen Errungenschaft zu lesen.

Es stellte sich heraus, dass eine Menge bei der Pflege und Fütterung von Greifen zu beachten war. Kaum zu glauben, dass ein Geschöpf, das halb Löwe und halb Adler war, dermaßen heikel sein sollte. Treggis stieß auch auf eine interessante Abhandlung über die Fressgewohnheiten des Greifen, ebenso wie auf andere erhellende Informationen. Zur reinen Unterhaltung schien ihm das Greifenbuch mindestens ebenso gut zu sein wie sein bisheriges Lieblingsbuch, Havelock Ellis‘ Vorlesungen über Sex.

Am Schluss stieß er auf ausführliche Anweisungen, wie man in den Zoo gelangte. Die Anweisungen waren, um es vorsichtig auszudrücken, ungewöhnlich.

Es war weit nach Mitternacht, als Treggis das Buch schloss. Was für eine Ansammlung merkwürdiger Einfälle sich zwischen diesen beiden schwarzen Buchdeckeln befand! Besonders ein Satz ging ihm nicht aus dem Kopf:

»Die alleinige Nahrung des Greifen besteht aus Jungfrauen.«

Das beunruhigte ihn. Es schien irgendwie unfair.

Nach einer Weile schlug er wieder das Kapitel auf, dessen Überschrift lautete: Anweisungen, wie man in den Zoo gelangt.

Zweifellos waren sie seltsam. Aber doch auch nicht allzu schwierig. Mit Sicherheit erforderten sie nicht zu viel Körperkraft. Nur ein paar Worte, ein paar Bewegungen. Treggis erkannte plötzlich, wie lästig sein Beruf als Bankangestellter war. In jedem Fall war es eine sinnlose Verschwendung von acht wertvollen Stunden eines jeden Tages. Um wie viel interessanter erschien es da, als Tierhalter für die Pflege eines Greifen verantwortlich zu sein. Während der Mauser spezielle dafür vorgesehene Salben zu benutzen, Fragen zur Greifologie zu beantworten, für die Fütterung verantwortlich zu sein. »Die alleinige Nahrung …«

»Ja, ja, ja, ja«, murmelte Treggis schnell und lief dabei in seinem kleinen Zimmer auf und ab. »Vermutlich nur ein Scherz – aber ich könnte die Anweisungen ja einmal ausprobieren. Nur so zum Spaß.«

Er lachte unsicher.

 

Es gab keinen blendend hellen Blitz, kein Donnergetöse, aber Treggis wurde augenblicklich, wie es schien, an einen anderen Ort versetzt. Er taumelte einen Moment, gewann dann sein Gleichgewicht wieder und öffnete die Augen. Die Sonne blendete ihn. Als er sich umsah, erkannte er, dass jemand die Aufgabe Die Nachbildung des natürlichen Habitats für den Greifen ausgezeichnet gelöst hatte.

Treggis setzte sich in Bewegung und hielt sich dabei recht gut, obwohl er am ganzen Leib zitterte und sein Magen sich zusammenzog.

Dann sah er den Greifen.

Und im selben Augenblick sah der Greif ihn.

Zuerst langsam, dann mit ständig wachsender Geschwindigkeit, kam der Greif auf ihn zu. Er breitete die riesigen Adlerschwingen aus, fuhr die Klauen aus und taumelte oder vielmehr segelte in großen, grotesk anmutenden Sprüngen vorwärts.

Unkontrolliert zitternd, versuchte Treggis ihm auszuweichen. Doch schon war der Greif über ihm, gewaltig und golden im Sonnenlicht, und Treggis schrie außer sich: »Nein, nein! Die alleinige Nahrung des Greifen besteht aus Jung …«

Das volle Ausmaß der Bedeutung dieses Satzes erkannte Treggis erst, als die Klauen sich um ihn schlossen und ihn hochhoben – und da schrie er noch einmal.

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In dem Sammelband Der widerspenstige Planet (im Shop) sind die folgenden Stories und Romane enthalten, die auch einzeln im E-Book lieferbar sind:

Fütterungszeit (im Shop)
Das siebte Opfer (im Shop)
Spezialist (im Shop)
Und führet mich zu stillen Wassern (im Shop)
Formfragen (im Shop)
Pfadfinderspiele (im Shop)
Ein Irrtum der Regierung (im Shop)
Der widerspenstige Planet (im Shop)
Utopia mit kleinen Fehlern (im Shop)
Pilgerfahrt zur Erde (im Shop)
Das Millionenspiel (im Shop)
Die Jenseits-Corporation (im Shop)
Das geteilte Ich (im Shop)
Pas de Trois (im Shop)
Ein erster Kontakt (im Shop)
Endstation Zukunft (im Shop)

 

Robert Sheckley, 1928 in New York geboren, studierte Englisch und Philosophie an der New York University. Bereits während des Studiums begann er erste Kurzgeschichten zu veröffentlichen, und in kürzester Zeit machte er sich einen Namen als einer der intelligentesten und humorvollsten Science-Fiction-Autoren. Parallel zu seiner Schreibtätigkeit arbeitete er als Literaturredakteur und hatte Gastdozenturen an verschiedenen Universitäten. Sheckley starb im Dezember 2005. Seine Stories und Romane finden Sie in unserem Shop.

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