Neonschilder im Regen, einsame Ermittler im Großstadtdschungel, virtuelle Realitäten, die ausgefuchsten Hackern alles an Talent abverlangen, und schier allmächtige KIs, die im Hintergrund die Fäden ziehen – Sie haben es erkannt, es geht um Cyberpunk. In den Achtzigerjahren populär geworden, sind viele dieser Romane bis heute prägend für unsere Wahrnehmung der Welt, und das vielleicht mehr, als wir ahnen. Da zehn Romane auszuwählen, die man gelesen haben muss, fällt schwer. Hier der Versuch einer hoffnungslos unvollständigen Liste: 

10
Richard Morgan Das Unsterblichkeitsprogramm Cyberpunk hat diesen Noir-Touch, und Richard Morgen treibt ihn in seinen Romanen um den Ermittler Takeshi Kovacs, die mit "Das Unsterblichkeitsprogramm" einsetzen, ins (blutige) Extrem. Im 25. Jahrhundert muss niemand mehr für immer sterben. Es ist möglich, sein Bewusstsein in den Cyberspace hochzuladen und es dann in einen neuen Körper zu transferieren, aber nur die Reichen können es sich leisten, das mehr als einmal während einer natürlichen Lebensspanne zu machen. Einer dieser Superreichen ist Laurens Bancroft, dessen Körper tot aufgefunden wird – Suizid. Als Bancroft wenige Stunden später in einem jungen neuen Körper zurückkehrt, erinnert er sich an nichts mehr. Er vermutet aber, dass er ermordet wurde, und beauftragt Kovacs mit den Nachforschungen. Doch was der Ermittler aufdeckt, ist weit mehr als nur ein simpler Mord … Eine Mischung aus "Blade Runner" und Raymond Chandler, für die man einen starken Magen braucht!
9
Cory Doctorow Backup Viele Cyberpunk-Romane zeigen eine eher dystopische, von Firmenkonsortien beherrschte Welt, in der alles knapp ist. Bei Cory Doctorow sieht es ein wenig anders aus: in "Backup" wurde die Ressourcenknappheit lange überwunden. Die virtuelle Revolution hat ein Utopia ohne Krankheit, Hunger und Tod geschaffen, denn nach dem Ableben kann man sein Bewusstsein in einen neuen Körper übertragen. Diese Backups müssen jedoch auf dem neusten Stand sein, sonst verliert man Teile seiner Erinnerungen. Jules, gerade einmal hundert Jahre alt, hat sich seinen Lebenstraum erfüllt und ist an den großartigsten Ort der Welt, nach Disney World, gezogen. Zusammen mit Gleichgesinnten sorgt er dafür, dass die veralteten Low-Tech-Attraktionen gewartet werden und weiterhin laufen. Die Enthusiasten werden von einer kriminellen Organisation angegriffen, die Jules offenbar schon einmal getötet hat, was ihn ziemlich sauer macht. Dumm nur, dass sein Backup nicht aktualisiert war und er somit alles vergessen hat… Cyberpunk in Disneyworld? Funktioniert bei Doctorow hervorragend!
8
Charles Stross Accelerando Romane, die sich mit der technologischen Singularität befassen, haben im Grunde nur zwei mögliche Plots: Entweder wird die Menschheit wie in "Terminator" oder "Matrix" von den Maschinen zum Frühstück verspeist, oder die KIs sind uns, wie in "Aliens", wohlgesonnen und freundlich. Charles Stross verfolgt in "Accelerando" einen ganz anderen Ansatz. Um uns die Tragweite der Singularität zu demonstrieren, erzählt er die Geschichte dreier Generationen der Familie Macx, beginnend mit Manfred, der geniale Hightech-Ideen entwickelt und verkauft. Über seine Datenbrille ist er ständig auf dem neusten Stand, doch es wird zunehmend schwer, zwischen der realen und der virtuellen Welt zu unterscheiden. KIs werden immer intelligenter, lernen immer schneller – und als sie uns überholt haben, finden Manfreds Nachkommen sich plötzlich in einer Welt wieder, in der die einzige Existenz, die noch erstrebenswert scheint, die rein digitale ist … "Accelerando" gewann – völlig zurecht – 2006 den Locus Award als bester Roman (und den Estnischen SF-Preis für die beste Übersetzung, was sicher auch cool ist).
7
John Brunner Der Schockwellenreiter John Brunners "Der Schockwellenreiter" gilt als einer der Cyberpunk-Vorreiter, aber zu Beginn sieht Brunners Zukunft geradezu erstrebenswert aus: Zwar ist Kalifornien bei einem Erdbeben untergegangen, aber die Menschheit wurde mit der Katastrophe fertig und hat die meisten Flüchtlinge integriert. Durch das Ausbeuten der Rohstoffe auf anderen Planeten lebt es sich relativ sorgenfrei, zumal weltweit die Nuklearwaffen abgerüstet wurden. Doch mit dem technologischen Fortschritt und der weltweiten Vernetzung kam die totale Überwachung. Tranquilizer und Therapien sorgen dafür, dass keiner gegen das System aufbegehrt. Nick Haflinger war Teil eines Geheimprojekts der Regierung, die Genies künstlich erzeugen wollte. Ihm gelingt die Flucht, und dank seiner überdurchschnittlichen Intelligenz und seiner technologischen Fertigkeiten kann er sich lange unter verschiedenen Identitäten verbergen. Der Schockwellenreiter setzt jedoch mit einem nackten Nick Haflinger in einer Gefängniszelle ein – man kann sich also sicher sein, dass ihn seine Vergangenheit eines Tages einholen wird. Vor allem Nicks Beteiligung an einer Geheimorganisation, die Informationen außerhalb des Netzes sammelt, interessiert seine Gefängniswärter brennend … Ein internetähnliches weltweites Datennetz, Begriffe wie „Wurm“, die Macht der Informationen, die immer enger werdenden Maschen der digitalen Überwachung, der sich der Durchschnittsbürger kaum entziehen kann – liest man Brunners "Schockwellenreiter" heute, muss man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass er von 1975 ist.
6
Philip K. Dick Blade Runner/Ubik/Marsianischer Zeitsturz Der zweite große Cyberpunk-Vorläufer, der immer wieder erwähnt wird, ist Philip K. Dicks "Blade Runner" – und zwar Roman (1968) und Verfilmung (1982). Während der Film bis heute die Cyberpunk-Ästhetik definiert, gab der Roman, der sehr viel komplexer ist als Ridley Scotts Adaption, den Ton vor. Nach dem letzten Atomkrieg gehören unberührte Natur und die meisten Tiere der Vergangenheit an. Ein Haustier zu besitzen, und sei es eine Spinne, ist ein Statussymbol. Künstliche Tiere sehen inzwischen lebensecht aus – wie künstliche Menschen ebenfalls. Rick Deckards Job ist es, Androiden, die sich als Menschen ausgeben, aufzuspüren und zu zerstören. Er verfolgt sechs Nexus-Modelle der neusten Generation, die sich auf der Erde verstecken. John Isidore, der nicht die hellste Lampe im Raum ist, aber ein gutes Herz hat, hilft ihnen. Deckard selbst ist alles andere als sicher, dass er seinen Auftrag beenden kann: Seine depressive Frau macht ihm zu schaffen, und die Begegnung mit Rachel, die zu schön ist, um wirklich ein Mensch sein zu können, wirft ihn ordentlich aus der Bahn. Wir sind noch nicht ganz da, wo Philip K. Dick uns gesehen hat – aber einige der Haltungen und Ideen aus "Blade Runner" klingen doch erstaunlich vertraut. Wenn die technischen Simulakren irgendwann nicht mehr von echten Menschen zu unterscheiden sind, was bleibt dann noch von uns Menschen übrig? Sind wir denn überhaupt so einzigartig, wie wir immer behaupten?
5
Rudy Rucker Software Rudy Rucker gehört zu den ambitioniertesten Cyberpunk-Autoren, und das merkt man auf jeder Seite von "Software". Cobb Anderson hatte die ersten Roboter gebaut, die über ein eigenes Bewusstsein verfügten, und freute sich, als sie revoltierten und auf dem Mond ihre eigene Gesellschaft errichteten. Dafür wollen sie sich nun bei ihrem Schöpfer revanchieren: Sie versprechen ihm Unsterblichkeit – für einen siebzigjährigen Anarchisten nach einer Herztransplantation ein verlockendes Angebot. Die Roboter haben Cobb allerdings darüber im Unklaren gelassen, was sie unter „Unsterblichkeit“ verstehen. Für sie zählt nur die Software, die persönlichen Erinnerungen, die Art des Denkens, das Ich-Bewusstsein. Das alles wird für die Ewigkeit in die elektronischen Speicher eingehen und sorgsam bewahrt werden. Schließlich ist es vollkommen unlogisch, dass jemand – und sei er noch so alt – an diesem hinfälligen, ständig defekten, schrottreifen Anhängsel aus kohlenstoffhaltigen Verbindungen hängt. Rudy Rucker greift nicht nur die üblichen philosophischen Fragen auf, die man erwartet – ist Robo-Cobb denn noch Cobb? Gibt es eine Seele, die irgendwie übertragen werden kann? Wann hört ein Mensch auf, ein Mensch zu sein? –, sondern zeigt uns auch KIs, die nach ganz anderen Gesetzen funktionieren als die meisten ihrer Artgenossen. Faszinierend!
4
Greg Egan Diaspora "Diaspora" greift ganz weit voraus: Der Roman spielt im Jahr 2975, und die Menschheit hat sich in drei verschiedene Unterarten aufgeteilt: die Körperlichen, rein biologischen Menschen ohne „Upgrades“, die Transformers, die im Grunde softwarebasierte Individuen in künstlichen Körpern sind, und die Bürger, die gar keine physische Existenz mehr haben, sondern in einem virtuellen Datennetz leben. Bei einer Supernova-Explosion werden Gammastrahlen freigesetzt, die jetzt drohen, die Erde unbewohnbar zu machen und die Körperlichen zu vernichten. Die Bürger einer Datenpolis erzeugen daraufhin Yatima, ein Waisenkind, das gezielt bestimmte Eigenschaften, die wir als menschlich empfinden, wie Neugierde oder eine gewisse kindliche Unvoreingenommenheit, verliehen bekommt. Diese KI entwickelt im ersten Teil des Romans ein Bewusstsein, und wir Leser schauen gewissermaßen bei einer langen Geburt zu. Im zweiten Teil muss Yatima dann versuchen, die Menschheit zu retten. "Diaspora" ist die vielleicht schwerste Kost aller hier vorgestellten Romane. Da die Natur hier als einziger Antagonist eingesetzt wird, ist die Bedrohung zwar existenziell, aber eben auch kaum greifbar und gefühlt sehr weit entfernt. Egan schildert hier das Ende der Welt, wie wir sie nicht kennen, und das macht Diaspora so kompliziert und spannend zugleich. Wer einen etwas leichteren Einstieg sucht, sollte es vielleicht lieber mit Egans "Cyber-City" versuchen.
3
Bruce Sterling Schismatrix Wer Cyberpunk sagt, kommt an zwei Namen nicht vorbei: William Gibson und Bruce Sterling, die beide als Begründer des Genres bezeichnet werden, und Sterlings Roman "Schismatrix" war auf seine Art so wegweisend wie Gibsons "Neuromancer". Die Menschheit hat sich über das Sonnensystem ausgebreitet und führt, weil Menschen eben Menschen sind, einen Krieg gegen sich selbst, wenn auch einen kalten. Die Former lassen ihre Gene gezielt manipulieren, die Mechs rüsten durch Implantate auf, und bisher konnte nicht entschieden werden, welche Methode die bessere ist. Abélard Lindsay, ein Mech, der bei den Formern ein diplomatisches Training absolviert hat, lehnt sich gegen die Dogmen beider Gesellschaften auf und wird auf dem Mond ins Exil geschickt. Dort lebt er in einer Kolonie mit all denen, die sich nicht anpassen (lassen) wollen. Durch seine Ausbildung fällt es ihm nicht schwer, sich in eine günstige Position zu bringen – doch eine emotionale Entscheidung lässt ihn alles über Bord werfen und ins All aufbrechen, wo sich das Schicksal der Menschheit entscheiden wird … "Schismatrix" gehört zu den Romanen, die so viel Plot haben, dass jede Zusammenfassung scheitern muss. Abélards Weg, der ihn an die äußersten Grenzen des Sonnensystems führen wird, ist episch, gefährlich und sehr, sehr politisch – und darum absolut lesenswert!
2
Ian McDonald Cyberabad August 2047: Indien feiert hundert Jahre Unabhängigkeit. Doch an allen Ecken und Enden schwelen die Feuer: der Monsun ist mehrere Jahre hintereinander ausgefallen, die Ganga, der Fluss der Götter, beinahe vertrocknet. Am illegal errichteten Staudamm in Kunda Khadar droht deshalb ein Krieg zwischen Indien und Awadh. Politische, ökologische und soziale Katastrophen dräuen am Himmel wie die dunklen Wolken, die endlich den ersehnten Regen bringen sollen. Das ist nicht etwa die Handlung von Ian McDonalds "Cyberabad", sondern der Hintergrund, vor dem er Plot sich entfaltet, der sich zu einem großen Teil in der heiligen Stadt Varanasi abspielt. Es gibt zehn Protagonisten, deren Lebenswege sich kreuzen, als ein Asteroid im Gravitationsfeld der Erde eingefangen wird. Er enthält eine KI, die älter ist als das Sonnensystem und eine Botschaft birgt, die nur von drei Menschen entschlüsselt werden kann. Praktischerweise sendet die KI Bilder dieser Menschen, nach denen nun gesucht wird, während die durstigen Massen gewaltsam aufstehen, Armeen entsandt werden, Geschäftsleute Deals abschließen, Seifenopern laufen, Liebhaber sich heimlich treffen und Politiker Fäden ziehen. "Cyberabad" ist eines der ambitioniertesten Bücher, die ich in den letzten Jahren lesen durfte. McDonalds Indien ist detailreich, sofort aus der geopolitischen Situation des heutigen Indiens wiedererkennbar und dennoch ständig überraschend. Im Hintergrund brüllt einem stets das weiße Rauschen dieser chaotischen Zukunft entgegen wie Bollywoodsongs. Mutig, brillant und wundervoll!
1
William Gibson Die Neuromancer-Trilogie Den Roman, der einem ganzen Genre seinen Namen gab, nicht auf Platz eins dieser Liste zu setzen, fühlte sich irgendwie falsch an, deswegen führt William Gibsons "Neuromancer" vollkommen unüberraschend das Feld an. Er inspirierte Schriftsteller, Computerwissenschaftler, Ingenieure und Philosophen gleichermaßen und gewann als erster Roman überhaupt den Hugo, den Nebula und den Philip K. Dick Award im selben Jahr. Henry Dorsett Case war ein Hacker, aber nachdem sein Arbeitgeber herausgefunden hatte, dass er Daten geklaut hatte, verabreichte er ihm neu Neurotoxin, die es Case jetzt unmöglich macht, den Cyberspace zu betreten. Als ein mysteriöser Auftraggeber namens Armitage Case anheuert und ihm als Belohnung ein Gegenmittel verspricht, nimmt der Ex-Hacker sofort an. Doch etwas ist faul an der ganzen Geschichte. Armitage erpresst Case, der im Gegenzug mit Molly Millions, einer Straßenkämpferin mit einer ganzen Reihe nützlicher Upgrades, nun anfängt, in Armitages Vergangenheit herumzustochern. Und was er dort findet, ist schier unglaublich … William Gibson schrieb die ersten zwei Drittel von "Neuromancer" mehrfach um, weil er Angst hatte, seine Leser könnten meinen, er habe beim "Blade Runner"-Film geklaut, der zwei Jahre zuvor erschienen war. "Blade Runner" und "Neuromancer" geben dem Cyberpunk diesen High-Tech-Noir-Anstrich, der das Genre so einzigartig macht – und deswegen steht Gibson zurecht bis heute auf Platz eins nahezu jeder Liste dieser Art. Für Bücher wie dieses wurde die Science-Fiction erfunden!

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