2. November 2021

„Chernobylite“: Postnuklearer Ausnahmezustand

Ein kantiger Shooter-Mix mit Tschernobyl-Setting

Lesezeit: 5 min.

Schon seit längerem ist der jüngste Titel von The Farm 51 (bekannt für ihr Horrorerlebnis Get Even) zunächst als Early Access für PC erhältlich gewesen, ehe Ende Juli der Start der digitalen Vollversion sowie Umsetzungen für Konsolen erfolgte (jeweils zum Preis von rund 30 Euro). Ähnlich wie das offensichtliche Vorbild Stalker von 2007 sind wir auch in Chernobylite in den atomverseuchten Gebieten der ukrainischen Region Tschernobyl unterwegs und spielen dort einen durch und durch postapokalyptischen, in seiner Vielfalt fast schon wilden Mix aus Shooter, RPG, Survival und Horror. Motiviert von vielen positiven Reviews auf der Plattform Steam, stieg auch bei uns die Vorfreude auf die finale Version, die wir nun auf PS4 in Augenschein genommen haben.

In Chernobylite wagen wir uns als Einzelkämpfer Igor, seines Zeichens Physiker und ehemaliger Mitarbeiter in der Atomanlage Tschernobyls, Jahrzehnte später an unsere frühere Wirkungsstädte, um nach unserer Verlobten Tatyana zu suchen, die während des Unglücks einfach wie vom Erdboden verschluckt verschwand und die Igor noch in der Nähe des Reaktors vermutet. Schnell erreichen wir nach einem sehr spannenden Infiltrationsprolog inklusive gut bewaffneter Soldaten Reaktor 4, den Ausgangspunkt des Unglücks, wo sich das titelgebende Chernobylite befindet – eine riesige kristaline Materialstruktur, die dank extremer Energiedichte ungewöhnliche Kräfte in sich birgt. Die kommen auch sofort zum Einsatz, denn Igor erhält plötzlich ungebetenen Besuch von einem Stalker. So werden die düsteren Söldner bezeichnet, die in der Sperrzone rund um das marodierte Kraftwerk unterwegs sind. Mit einem Stück Chernobylite reißt Igor ein Tor in das Raum-Zeit-Kontinuum und entkommt so aus der zunächst ausweglosen Situation. Doch die Suche nach Tatyana steht nun natürlich erst an ihrem Anfang.

Die Story der gut 15-18 Stunden dauernden Kampagne wird von Missionen vorangetrieben, die Igor fortwährend von den teils sehr gut geskripteten NPCs erhält und die es gut zu planen gilt. Denn unser Held, den wir aus der Egosicht navigieren, findet sich zu Beginn eines Tages zunächst in seinem Basislager wieder, von wo er in die einzelnen Areale der Anlage aufbrechen kann. Chernobylite ist also keine richtige Open World, wie man vielleicht vermuten könnte, obwohl die fünf einzelnen Gebiete zumindest einen noch ordentlichen Umfang anbieten und man sich in ihnen nicht verläuft oder zu viel Zeit mit unnötiger Erkundung verliert.

Die Autoren haben es gut verstanden, unsere Begegnungen mit Charakteren wie dem Schamanen Tarakan oder dem sehr cholerischen Drogenjunkie Mikhail trotz eher steifer Grafik sehr lebendig und abwechslungsreich zu gestalten. Nicht nur, dass die Missionen wie die Rettung von Informanten oder die Suche nach bestimmten Gegenständen durchaus motivierend ausfällt. Es sind vor allem die markanten Dialoge, in denen sowohl die Intentionen unserer Gesprächspartner als auch Igors eigene Sicht auf die Dinge immer wieder zur Disposition stehen.

Hinzu kommen einige knackige Entscheidungen über Leben und Tod, die unser Verhältnis zu den Figuren prägen und Auswirkungen auf den weiteren Verlauf haben. Um unser Hauptziel, nämlich die Infiltration des Kraftwerks, erfolgreich zu gestalten, benötigen wir möglichst alle unsere Mitstreiter mit ihren speziellen Fähigkeiten. Fehlen uns einige, gestaltet sich unser Unterfangen in der Schlussmission der umso anspruchsvoller. Eine gute Idee, welche zusätzlich Atmosphäre schafft und der Handlung bis zu diesem Punkt noch mehr Gewicht verleiht.

Dazu gesellt sich die Suche nach Nahrung und ähnlichen typischen Ressourcen, die wir für uns und unsere Verbündeten benötigen, um nicht Kampfgeist oder Lebensenergie zu verlieren. Das Craftingsystem des Spiels erschöpft sich darin allerdings nicht, denn wir müssen Mitstreiter ebenfalls während unserer Abwesenheit bei Tag in Gebiete entsenden, damit sie ihren Teil für die Gruppe leisten. Ein gewisses Maß an strategischem Management ist also erforderlich, wobei uns die Macher mit diesem Spielelement nicht wirklich überfordern. Mit gefundenen Ressourcen wie Schrott basteln wir an unseren Waffen herum, erweitern unsere Basis, stellen wertvolle Medi-Kits her oder verringern sogar die radioaktive Kontamination in unserem Umkreis.

Sind wir dann erstmal selbst (stets allein) unterwegs, steht Anschleichen, Kämpfen und Erkunden auf der To-do-Liste. In den meist unwirtlich dunklen Gebieten begegnen wir schwer bewaffneten Soldaten, Stalkern oder seltsam surrealen Gestalten, denen wir, falls uns eine Schleichattacke nicht gelingt, nur mit unserem Feuerwaffeninventar beikommen. Hier offenbart das Gameplay eine seiner größten Schwächen, denn die Gegner-KI agiert fast immer dermaßen dämlich, dass Gefechte entweder zu leicht (bei Stealth) oder einfach nur lächerlich chaotisch bis unfair (Feuergefecht) ausfallen. Speziell Waffenhandling, Trefferfeedback oder die Sichtbarkeit der Gegner lassen allesamt zu wünschen übrig und sorgen dafür, dass Gefechte zu einer unrunden Angelegenheit verkommen.

Aufgrund der missionsbasierten Struktur des Titels, die uns nicht zwingend eine komplett feste Reihenfolge vorgibt, kann es gut sein, dass wir mehrfach direkt hintereinander im selben Gebiet unterwegs sind. Die Gegner sind dann auch wieder genauso unterwegs wie zuvor, was die eigentlich gute, gerade mit einigen klasse eingesetzten Psychosequenzen unterfütterte Atmosphäre leider auf Dauer abschwächt. Immer wieder wird Igor von alptraumhaften Visionen gequält, die den Spielverlauf auflockern und uns in die spannende Story zurückholen.

Gerade der etwas überladene Mix aus Crafting, Erkundung, Story, Nebenmissionen und weiteren Elementen sorgt dafür, dass sich Feinde oder Sequenzen somit spürbar abnutzen und auch die Gebiete mit der ewig gleichen Ressourcensucherei kaum noch bei der Stange halten. Verteilte Händler oder klischeehafte Abstecher in abgewrackte Hospitäler inklusive schauderhaftem Puppengelächter schaffen hier leider nicht genug Abhilfe.

Neben den verkorksten Kämpfen und der sich abnutzenden Atmosphäre ist es aber vor allem die noch ziemlich verbuggte Technik, die für Abzüge beim Spielspaß sorgt. Auf der PS4 krankt das Geschehen an ständigen Rucklern, sehr matschigen Texturen oder nervigen Soundfehlern, die das Team unbedingt nachbessern sollte.

Wer allerdings noch etwas wartet, bis die Technik stimmt, lieber schleicht anstatt zu ballern und sich gerade für die wirklich gelungenen Elemente wie die zwar leicht konfuse, aber sehr stimmungsstarke Handlung, das Crafting sowie die Interaktion mit den NPCs begeistern kann, sollte diesem atomaren Trip mit all seinen (Missions-)Geheimnissen eine Chance geben.

Fazit

Dichtes Setting, packende Story und einige gute Spielelemente treffen auf maue (KI-)Technik, viel Wiederholung und schlechte Kampfbalance.

Chernobylite • The Farm 51 • Survival/Shooter • PS4/Xbox One/PC

Abb. © The Farm 51

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