2. Februar 2024

„Green Border“ – Flüchtlingsdrama, das tief unter die Haut geht

Nachdenken über die Zukunft

Lesezeit: 4 min.

Na nu? Was hat denn ein Flüchtlingsdrama auf diezukunft.de zu suchen? Die Antwort: Das Thema Migration wird in Zukunft vor allem im Zusammenhang mit der Klimakrise noch zu einem weitaus größeren Thema werden, als ohnehin schon (man rechnet mit bis zu 143 Millionen Flüchtlingen bis zum Jahr 2050) und „Green Border“ von Agnieszka Holland fordert mit seinen direkten, harten, äußerst eindringlichen Bildern auf, über die unvermeidliche, in großen Schritten auf uns zukommende Zukunft nachzudenken, nach echten Lösungen zu suchen, Druck zu machen.

Denn eine immer menschenverachtender, brutaler werdende Migrationpolitik (siehe die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die Flüchtlinge praktisch völlig entrechtet) ist definitiv der falsche Weg. Ansonsten drohen uns bald im großen Maßstab die dystopischen Verhältnisse, von denen Hollands Film mit seinen nahezu außerweltlichen, erschütternden Szenen von der grünen Grenze, am Białowieża-Urwald in Ostpolen, schon mal einen durch Mark und Bein gehenden Vorgeschmack gibt.

Auf kleinerem Level gedacht hämmert Hollands Film seinen Zuschauern auch einfach gnadenlos in die Augäpfel, von wem da eigentlich die Rede ist, in den oft sehr abstrakt gehaltenen Nachrichtensendungen oder wenn Politiker in Talkshows, flankiert von überfordert- wie völlig überbezahlten Moderationskartenablesern mal wieder großspurig, fast sabbernd allerhand Drangsalierungs- und Vetreibungsphantasien debattieren. Natürlich muss man sich überlegen, wie man mit dem Thema Migration umgeht, aber es sollte niemals vergessen werden: Es geht hier um Menschen.

Angelockt von den Versprechungen des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko bucht im Oktober 2021 eine syrische Familie, die aus Bashier, Amina, drei Kindern und dem Großvater besteht, wie viele andere Flüchtlinge zu dieser Zeit, einen Flug nach Minsk, um von dort aus über die grüne Grenze nach Polen zu kommen, von wo man weiter will zu Verwandten nach Schweden. Unter den Mitreisenden befindet sich zudem Leïla, eine Englischlehrerin aus Afghanistan. Doch in Minsk merken die Angekommenen, dass sie betrogen wurden. Ähnlich wie Tausende andere stecken die Familie und Leïla im morastigen Niemandsland zwischen Polen und Belarus fest und werden von den Grenzschützern beider Länder innerhalb eines streng abgeschirmten, rechtsfreien Sperrgebiets, in dem so was wie Menschlichkeit nicht existiert, weder Alte, Kinder, Schwangere noch Verletzte oder sogar Tote geschont werden, hin- und her getrieben. Asyl oder überhaupt irgendeine Form von Hilfe wird konsequent verweigert.

In der Nähe des Białowieża-Gebiets lebt auch der junge Grenzschützer Janek, der zunehmend in Gewissenkonflikte kommt, als er den Menschen, die laut seinem Vorgesetzten „Waffen im Dienst der hybriden Kriegsführung Putins und Lukaschenkos“ sind, gegenübersteht. Des Weiteren wird von Julia erzählt, einer jungen Psychologin, die sich in der Abgeschiedenheit des Grenzgebiets nach einem familiären Schicksalsschlag eigentlich wieder sammeln wollte, aber unversehens Teil einer Gruppe Aktivisten wird, die trotz staatlichen Verbots die in den Wäldern festsitzenden Menschen mit dem Nötigsten versorgen will …

In Polen sorgte die polnisch-tschechisch-französisch-belgische Produktion für eine Staatsaffäre, die halbe Regierung drosch auf die Regisseurin ein (kann man hier, auf Englisch, en detail nachlesen), außerhalb Polens gab es deutlich mehr Lob, aber auch deutliche Kritik. Die Vorwürfe, die Holland gemacht wurden, dass der Film das Thema auf zu unkünstlerische Weise verarbeitet, zu wenig intellektualisiert, zu sehr auf Drastik setzt (sogar von Misery Porn war bereits die Rede) sprechen Bände. Natürlich ist das kein subtiler Film, es ist ein stinkwütender Film, der die absolut hässlichste Seite der Menschheit zeigt. Es gibt Szenen, die man eigentlich gar nicht so recht glauben möchte, nicht so recht glauben will, aber doch unserer Realität entstammen, sich quasi vor unserer Haustüre abspielen. Vor allem aber Szenen, die es einem unmöglich machen, sich hinter einer künstlerischen oder intellektuellen Trennwand zu verkriechen.

Doch Holland pinselt nicht nur phasenweise in Finsternis nahezu ertrinkende Schwarzweiß-Höllenszenarien auf die Leinwand, sondern gibt sich ebenso – milde – positiv und so darf Janek dann eine Wandlung durchmachen, wobei jeder Anflug von Heroisierung vermieden wird – im Gegenteil: Der Film vermeidet weitgehend echte Charakterisierungen, die Figuren stehen vielmehr für einzelne Gruppen, die sich in einem Ausnahmezustand und einem menschlichen Chaos wieder finden, das von politischen Entscheidungsträgern herbeigeführt wurde, die von den Auswirkungen ihrer Entscheidungen wohl in den wenigsten Fällen tatsächlich was mitbekommen. Das „Green Border“ dennoch eine ungeheuer emotionale Wucht entfaltet, liegt an der perfekt umgesetzten semi-dokumentarischen Gestaltung, die den Ereignissen eine ungeheuer intensive Authentizität verleiht.

Es ist kein Film, der den Kopf anpeilt, es ist ein Film, der mitten ins Herz zielt, dafür sehr gute Gründe hat und hoffentlich so oft wie möglich trifft.

Green Border • Polen/Tschechien/Frankreich/Belgien 2023 • Regie: Agnieszka Holland • Darsteller: Jalal Altawil, Behi Djanati Atai, Tomasz Wlosok, Dalia Naous • seit 1. Februar im Kino

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