4. Januar 2024 1 Likes

„Der Junge und der Reiher“ – Reise ins Miyazaki-Land

In seinem vielleicht letzten Film erfindet sich Hayao Miyazaki nicht neu, aber das macht nichts

Lesezeit: 3 min.

Vor zehn Jahren drehte der große japanische Regisseur Hayao Miyazaki „Wie der Wind sich hebt“, der sein letzter sein sollte. Wenn Miyazaki nun, mit über 80 Jahren doch noch einen Film vorlegt, der auch noch lose autobiographische Züge trägt, steigen die Erwartungen natürlich sprunghaft. Man sollte sie jedoch zügeln, man sollte „Der Junge und der Reiher“ weniger als großes künstlerischen Statement verstehen, sondern als Pastiche, als Spiel mit den typischen Themen, Motiven und Figuren, die Miyazaki zu einem der einflussreichsten Regisseure der letzten Jahrzehnte gemacht haben.

Der Junge des Titels heißt Mahito, ist 12 Jahre alt und wächst während des Zweiten Weltkriegs in Tokio auf. So wie Miyazaki selbst, der 1941 geboren wurde, erlebt auch Mahito einen der Luftangriffe auf die japanische Hauptstadt, einen Feuersturm, bei dem Mahitos Mutter stirbt, während die von Miyazaki den Krieg überlebte. Mahitos Vater, ein Flugzeugingenieur (so wie auch Miyazakis Vater), lernt bald eine neue Frau kennen, die bald schwanger ist und Mahitos Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Bald zieht die Familie aufs Land, in ein großes, leicht verwunschen wirkendes Haus, von einem ausladenden Garten umgeben, in dem alte Frauen mit knorrigen Gesichtern nach dem Rechten sehen. Nicht nur mit dem Verlust seiner Mutter hadert Mahito, auch in der Schule ist er Außenseiter, wird gemobbt und gehänselt.

Rettung aus seiner seelischen Not kommt nicht aus der realen Welt, sondern aus der Welt der Phantasie, in Gestalt des titelgebenden Reihers. Eine typische miyazakihafte anthropomorphe Figur, ein Wesen, in dessen Schnabel eine menschliche Gestalt zu Hausen scheint, eine ambivalente Figur, deren Absichten lange unklar bleiben. Der Reiher führt Mahito in eine Parallelwelt, in der der Film nach einem etwas behäbigen Beginn Rasanz aufnimmt und fast überbordend wird. Eine magische Bibliothek betritt Mahito, auf einem verwunschenen Schiff begegnet er seltsamen Wesen namens Warawara, die auf dem Weg in die Realität sind und dort zu Menschen werden, so sie auf dem Weg nicht von Pelikanen gefressen werden. Vor allem aber trifft Mahito hier auf eine Frau, die Mahitos Mutter sein könnte – sich aber auf einer Chaiselongue räkelt, als wäre sie eine Gestalt aus der griechischen Mythologie.

Je besser man sich in Miyazakis Filmen, in Miyazakis Phantasie, auskennt, um so mehr Bekanntes wird man entdecken: Die Faszination für westliche Erzählungen, für Mythen und Märchen, die Begeisterung für Flugzeuge, die Beschäftigung mit Verlust und Traumata, seltsame Wesen, die mal skurril, mal grotesk erscheinen, ein kaum merkliches Verwischen von Realität und magischen Welten. Altbekannt mag das sein, aber in seiner klaren Bildsprache, die sich immer wieder zu atemberaubenden, überbordenden, surrealen Bilderwelten aufschwingt, auch unverwechselbar.

Ein so großer, spektakulär Wurf wie „Mein Nachbar Totoro“ oder „Chihiros Reise ins Zauberland“ ist „Der Junge und der Reiher“ nicht geworden, statt dessen ein klassisches Alterswerk, in dem ein großer Regisseur Rückblick auf sein Œuvre hält, Motive und Themen variiert und noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, dazu einlädt, zwei Stunden in der phantastischen Welt von Hayao Miyazaki zu verbringen.

Der Junge und der Reiher • Japan 2023 • Regie: Hayao Miyazaki • Kinostart: 4.1.2024

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