22. Oktober 2012

Karge Welt

„Weit im Norden“ von Marcel Theroux

Lesezeit: 3 min.

Der in Uganda geborene Marcel Theroux erwähnt es zwar angeblich nicht gern, aber er ist tatsächlich der Sohn des berühmten Reiseschriftstellers Paul Theroux. Möglich, dass ihn diese Ausgangsbasis sowohl zum Schreiben als auch zu seiner Arbeit als Gestalter von TV-Dokumentationen in New York und Boston geführt hat. Für das Buch »The Confessions of Mycroft Holmes« erhielt er 2002 den Somerset Maugham Award. Mit »Weit im Norden« (im Shop ansehen)  veröffentlichte er seinen mittlerweile vierten Roman und wird nun auch im deutschen Sprachraum bekannt.

»Jeden Tag gurte ich mir meine Waffen um und gehe auf Pa­trouille durch diese schäbige Stadt.«

So unmittelbar und eindringlich entführt uns Theroux schon mit dem allerersten Satz in eine Dystopie, die zugleich Vergangenheit (Wilder Westen) und Zukunft ist: zahlreiche Klimakatastrophen und Wirtschaftskrisen haben die Zivilisationen der Nord­hemisphäre an den Rand des Abgrunds gebracht. Hier setzt Theroux offenbar an seine TV-Recherchen zum Thema Klimawandel an, was der Authentizität des Romans gut tut. Der vorläufig noch unbekannte Ich-Erzähler lebt (als ehemaliger Einwohner der USA) zurückgezogen im vereisten Sibirien und interessiert sich offenbar nur für zwei Ziele: zu überleben – und auf (freundlich gesinnte) Menschen zu treffen. Die Sprache ist so karg wie das Setting: Geprägt von kalter Erde und trostlosen Tagen beschränkt sich Makepeace, so der Name der Hauptfigur, auf die allerwichtigsten Schilderungen und gibt nur zögerlich etwas von sich preis. Kein Wunder, dass es viele Seiten braucht, bis wir überhaupt erfahren, dass Makepeace eine Frau ist.

Durch die nun allmählich spürbarere weibliche Sichtweise wird der Kontrast zur rauen, männerdominierten Wirklichkeit noch stärker. Wir befinden uns in einer Welt ohne Mitgefühl, ohne Annehmlichkeiten … und ohne große Hoffnungen. In einem lakonischen Stil, der manchmal an den Großmeister Cormac McCarthy erinnert (vor allem, da das Buch nicht lange nach dessen ähnlich dystopischem Meisterwerk »Die Straße« erschienen ist), macht Theroux die kleinen Dinge zu großen Ereignissen: Nahrungssuche, Pferde und Hunde, schließlich ein weiterer Mensch – ein Kind.

Gerade als die Gefahr besteht, dass auch der Plot schon früh »zu Eis gefriert« und Langeweile ausbricht, mehren sich die Zeichen, dass noch weitere Menschen in der Gegend sind. Neugierig und zugleich vorsichtig macht sich Makepeace auf die Suche nach ihnen – und es kommt, wie es kommen muss: Die Fremden sind natürlich keine Wohltäter, sondern Menschenhändler, die billige Arbeitskräfte für ein mysteriöses Projekt suchen. So verändert sich zwangsläufig auch der Schauplatz, als die Protagonistin gegen ihren Willen immer weiter ins Unbekannte mitgenommen wird. Auch die Sprache wird nun farbiger, mitreißender, und wir lernen die archaische (oder besser: mittelalterlich-feudale) Struktur der neuen Gemeinschaften kennen, die marodierend durchs Land ziehen und sich die letzten Rohstoffe und Energieerzeuger unter den Nagel reißen. Theroux ist nicht der erste Erzähler, der diese Vision entwirft, und wahrscheinlich auch nicht der beste (immerhin haben sich bereits Größen wie David Brin, John Brunner, P. D. James und viele andere an diesem Thema versucht), aber seine Story besticht durch Ehrlichkeit, Schnörkellosigkeit und das Vermeiden von Zynismus. Bei aller Düsternis der Handlung blitzen zwischen den Zeilen immer wieder Menschlichkeit und Schönheit auf; gerade weil Makepeace eine derart wortkarge, vertrocknete Persönlichkeit ist, freuen wir uns mit ihr über jede interessante Entdeckung, jedes positive Ereignis – und sei es noch so klein.

Von großen europäisch-russischen Vorbildern scheint Theroux inspiriert worden zu sein, als der endzeitliche Arbeitstrupp schließlich sein Ziel erreicht: Polyn, der verstrahlte Rest einer einstigen Forschungseinrichtung; eine Region unter Verschluss, in der sich seltsame Dinge abspielen und möglicherweise eine unbekannte Energiequelle verborgen liegt. Die Schilderung erinnert stark an die »Zone«, der wir in der Erzählung »Picknick am Wegesrand« der Strugatzki-Brüder begegnet sind (von Andrej Tarkowskij als Stalker verfilmt); und auch der Geist von Stanisław Lem scheint durch die Erzählung zu schweben.

Was von »Weit im Norden« bleibt, ist somit weniger ein besonderes Science-Fiction-Erlebnis oder eine große Erkenntnis als eine sehr klare, genau gesetzte Sprache, die einen ruhigen, nachdenklichen Eindruck hinterlässt. Ein gutes Buch für lange Winterabende.

Marcel Theroux: Weit im Norden • Roman · Aus dem Englischen von Oliver Plaschka · Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 · 431 Seiten · € 10,99 (im Shop ansehen)

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