30. April 2023 2 Likes

Die in die „Kälte“ kamen

Tom Rob Smiths packendes Science-Fiction-Debüt

Lesezeit: 3 min.

August 2023. In Lissabon genießt die junge Medizin-Studentin Liza den Urlaub mit ihrer Familie. Nach einem nicht sehr romantischen Treffen mit dem einheimischen Touristenführer Atto, steht die Welt plötzlich Kopf: Eine Armada von Alien-Raumschiffen erscheint am Horizont. Und die Außerirdischen kommen nicht in friedlicher Absicht. Sie setzen den Erdlingen ein Ultimatum: Innerhalb von 30 Tagen sollen sie die Antarktis erreichen. Was mit denen passiert, die es nicht schaffen? Unklar. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und die Mitmenschen.

Ein Millionenpublikum begeistern? Das kann Tom Rob Smith (im Shop). Allein sein 2015 verfilmter Debütroman „Kind 44“ (im Shop) hat sich über zwei Millionen Mal verkauft und wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Die Nachfolgeromane „Kolyma“ (im Shop) und „Agent 6“ (im Shop) vervollständigen die Trilogie um den sowjetischen Staatssicherheitsagenten Leo Demidow und seiner Familie. Im Anschluss hat Drehbuchautor Smith („London Spy“, „American Crime Story“) „Ohne jeden Zweifel“ (im Shop) vorgelegt, einen Psycho-Thriller, der von seiner eigenen Familiengeschichte inspiriert ist. Apropos Geschichte: Die spielt auch in seinem neuesten Streich eine kleinere Rolle. Dennoch wagt sich der Brite mit Kälte“ (im Shop) in neue Genregefilde: postapokalyptische Science-Fiction mit einer Prise feinsten Horrors.

Die eingangs geschilderte Flucht mit ihren Höhen und Tiefen verdeutlicht bereits das Grauen der Apokalypse. Und dafür braucht es nicht einmal die Außerirdischen. Die zeigen sich nämlich überhaupt nicht. Für das Chaos und die Toten auf den Straßen hat es nur ihr Ultimatum gebraucht, den Rest erledigt die ausbrechende Panik. Mit dem Zusammenbruch jeglicher Ordnung stellt sich zudem eine wichtige Frage: Wen nimmt man mit an den Südpol, wen nicht?

Es ist nicht das einzige moralische Dilemma in diesem Roman. An einem unwirtlichen, lebensfeindlichen Ort zählt nicht nur das Überleben jedes Einzelnen, sondern das einer gesamten Spezies. Bereits kurz nach Ende des Ultimatums arbeiten Forscher:innen daher am „Kältemenschen“-Projekt. Es soll eine neue Generation genetisch optimierter Menschen hervorbringen, die perfekt an die Lebensbedingungen im Eis angepasst sind. Nach mehreren Fehlgeburten melden sich auch Liza und Atto freiwillig für das Programm. Ihre Tochter Echo ist zwar nicht ihr leibliches Kind, wird aber von ihnen wie ein solches behandelt und geliebt.


Tom Rob Smith. Foto © James Hopkirk

Echo und die übrigen eisadaptierten Kinder sind zwar anders als die Normalgeborenen, aber immer noch menschlich oder zumindest humanoid. Ein anderer Zweig des „Kältemenschen“-Projekts verfolgt einen weitaus radikaleren Ansatz und schafft Wesen, die nur in der Antarktis überleben können. Um sie kümmert sich der ehemalige israelische Soldat Yotam. Einer seiner Schützlinge ist Eitan. Ohne zu viel an dieser Stelle verraten zu wollen: Seiner Faszination kann man sich nur schwer entziehen. Doch es gibt mehr als nur einen Grund, warum Eitan und seine Geschwister tief im Untergrund vor den Blicken der übrigen Südpol-Bewohner:innen verborgen bleiben.

Kleiner Spoiler: Jemanden gegen seinen Willen einzusperren war noch nie eine gute Idee. Und natürlich endet irgendwann auch diese Gefangenschaft. Aus der Utopie wird nach und nach ein wahr gewordener Albtraum. Im Kern von „Kälte“ geht es aber nicht – oder nicht nur – um Genetik, um das wissenschaftlich im Roman Machbare und dessen moralische Implikation. Vielmehr stehen Familie und Wahlfamilie im Vordergrund: Während Liza und Atto erst mit Echo richtig glücklich sind, kann Echo mit den romantischen Gefühlen ihres Kumpels Tetu wenig anfangen. Der homosexuelle Yotam hadert wiederum mit seinem Single-Dasein, weswegen er sich umso aufopferungsvoller um Eitan kümmert. Mit dieser zugegebenen nicht neuen Thematik lotet Smith auf seine Art aus, was den Menschen zum Menschen und zu einem mitfühlenden Wesen macht.

Eine Leseprobe gibt es hier.

Tom Rob Smiths „Kälte“ punktet nicht nur mit vielen sympathischen und faszinierenden Figuren, sondern auch mit einem eher ungewöhnlichen, postapokalyptischen Setting. Als hätte jemand Dan Simmons „Terror“ (im Shop) mit Mary Shelleys „Frankenstein“ (im Shop) gekreuzt, um H. G. Wells „Die Insel des Dr. Moreau“ (im Shop) neu zu interpretieren. Klingt nach einer verrückten Mischung? Ist es auch aber eine sehr gut geschriebene. Einziger Kritikpunkt? Das Ende mit der ein oder anderen offenen Frage. Hoffentlich muss niemand für eine mögliche Fortsetzung binnen eines Monats in die Antarktis trampen…

Tom Rob Smith: Kälte • Roman • Aus dem Englischen von Michael PfingstlHeyne, München 2023464 Seiten • Erhältlich als Hardcover und eBook • Preis des Hardcovers: 22,00im Shop

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.