7. Oktober 2014 1 Likes

Per Ardua Ad Astra

Stephen Baxters Roman „Proxima“

Lesezeit: 4 min.

Die rätselhafte Kernel-Technologie, die im Merkur-Gestein gefunden wurde, ermöglicht es in gut einhundert Jahren den Menschen, die das Sonnensystem kolonisiert haben, den Aufbruch zu den Sternen. Genauer: Menschen aus den von der UN regierten westlichen Ländern, nicht jedoch den Chinesen, denen der Zugang zu dieser Technologie strikt verwehrt wird, weil sie bei der Kolonisierung des Systems wesentlich erfolgreicher waren als die Westler. Das führt nun zu einem neuen Kalten Krieg, der zunehmend wärmer wird. Doch was die mysteriösen Kernels eigentlich sind, weiß nicht einmal die führende Expertin, Doktor Stephanie Kalinski. Eines ist sicher: Sie sind eine ungeheure Energiequelle, die einen leistungsstarken Antrieb für interstellare Raumschiffe abgeben. Eines davon, die Ad Astra, ist unterwegs zum roten Zwergstern Proxima c, der von einem bewohnbaren Planeten umkreist wird. Sie bringt Kolonisten, darunter Yuri Eden, dorthin – und kommt damit den Chinesen zuvor, indem sie der UN Siedlungsgebiete außerhalb unseres Sonnensystems sichert. Doch die Kolonisten sind andere als friedliche Siedler, sondern Strafgefangene, die hier bequem weit weg von der Zivilisation abgeschoben werden sollen. Bei der Ankunft werden die Menschen in Gruppen geteilt und einfach ausgesetzt, lediglich Roboter, die in der Lage sind, Mutterboden herzustellen, Pflanzen anzubauen und die Umgebung zu analysieren, stehen ihnen zur Seite. Kurz vor der Landung kommt es zu einem Aufstand an Bord, der einige der „Kolonisten“ das Leben kostet. Um die Gruppenstärke aufrecht zu erhalten, wird kurzerhand Mardina Jones vom Flugpersonal ebenfalls zurückgelassen.

Proxima c, von seinen neuen Bewohnern Per Ardua genannt, ist jedoch nicht unbelebt. Genießbar sind weder die „Tiere“ noch die „Pflanzen“, weil ihre mikrobiologische Struktur sich fundamental von der menschlichen unterscheidet. Außerdem nimmt das Leben auf Per Ardua einen ganz anderen Lauf als auf der Erde: Einen richtigen Unterschied zwischen Flora und Fauna gibt es im herkömmlichen Sinne nicht; alles Leben hier beginnt mehr oder weniger gleich, um sich dann zu spezialisieren. Baxter veranschaulicht hier, wie Leben aussehen könnte, das keineswegs auf die vier berühmten Basenpaare angewiesen ist, die die Grundbausteine des irdischen Lebens bilden.

„Proxima“ (im Shop) geht also keiner geringeren Frage nach als der, woher Leben überhaupt kommt und ob es möglich wäre, dass es sich auf einem anderen Planeten auch ganz anders entwickelt. Dazu lässt er sich und seinen Figuren jede Menge Zeit: die Handlung, geteilt in zwei Stränge um Yuri und Stephanie, erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Dabei bleibt „Proxima“ angenehm vielschichtig, wirkt aber niemals überfrachtet, was vor allem daher rührt, dass Baxter diese Frage langsam in dem Erzählstrang um Yuri Eden und die Kolonisten aufrollt, die schlicht nicht über hochtechnisierte Labore verfügen, sondern nur einen Analyse-Roboter, der gleichzeitig Erntehelfer, Wasseraufbereitungsanlage und Arzt ist. Daher kommen die Erkenntnisse über Leben und Evolution auf Per Ardua nur bruchstückhaft und aus einer Quelle, die zwar neugierig, aber alles andere als gerüstet für die Aufgabe ist. Sie sind nicht unbedingt streng wissenschaftlich unterfüttert, was einen Kontrast zu den teilweise sehr kopflastigen Passagen um Stephanie Kalinski bildet, bleibt aber in sich schlüssig und glaubhaft.

Dr. Kalinskis Geschichte ist zunächst geprägt von den politischen Verwicklungen zwischen der UN und den Chinesen, die das Sonnensystem zwischen sich aufgeteilt haben: Während die UN die inneren Gesteinsplaneten kontrolliert, herrschen die Chinesen über große Teile des Mars, den Asteroidengürtel sowie die äußeren Gasriesen respektive deren Monde. Dass sich im Kalten Krieg der Zukunft die „Westmächte“ in bekannter Besetzung und ein asiatisch dominierter Ostblock gegenüberstehen, ist zwar keine neue Idee, wird von Baxter aber gut umgesetzt. Die Pattsituation, sowohl wirtschaftlich als auch technisch, heizt sich immer weiter auf, und die Konsequenzen, die sich schließlich daraus ergeben, sind ebenso erschreckend wie atemberaubend.

Vollkommen rätselhaft wird „Proxima“, als Stephanie Kalinski auf dem Merkur und Yuri Eden auf Per Ardua metallische Luken finden, die es eigentlich nicht geben dürfte. Baxter wirft im Zusammenhang mit den Kernels und den Luken jedenfalls Frage auf, die „Proxima“ alleine nicht beantwortet – zum Glück wird der Nachfolgeband „Ultima“ im Sommer 2015 erscheinen.

Der größte Schwachpunkt des Romans ist, dass Baxter über den großen Fragen der Existenz, die er sich stellt, ein wenig die Figuren aus den Augen verliert: Die analytische Wissenschaftlerin Stephanie eignet sich nicht wirklich als Identifikationsfigur, und die Sympathien, die man für Yuri empfindet, entstehen primär, weil wir viel Zeit mit ihm auf Per Ardua verbringen und mit ihm sowohl ungläubiges Staunen als auch tiefste Depressionen unter einer fremden Sonne erleben. Yuri selbst taut nicht genug auf, als dass er ein echter Sympathieträger sein könnte. Diese Probleme treten allerdings angesichts der spannenden Handlung in den Hintergrund: „Proxima“ ist genau die Sorte von Roman, zu der man greift, wenn einem nach intelligent konstruierter und solide ausgeführter, spannender Unterhaltung zumute ist. Keine unnötigen Längen, aber auch keine rasante Action, sondern ein spannendes Puzzlespiel auf zwei Ebenen, die sich unweigerlich einander annähern. Am Schluss erwartet den Leser ein Cliffhanger, wie er steiler nicht sein könnte – vielleicht sollten Sie lieber erst zu „Proxima“ greifen, wenn „Ultima“ erschienen ist?

Stephen Baxter: Proxima • Roman • Aus dem Englischen von Peter Robert • Wilhelm Heyne Verlag, München 2014 • 672 Seiten • € 9,49 (im Shop)

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