14. November 2023 2 Likes

„Anime Through the Looking Glass“ – Viel mehr als Miyazaki

Eine reichbebilderte, sehr informative Einführung in die Geschichte des Animes

Lesezeit: 3 min.

Mit dem Kapitel „Apocalypse Now“ beginnt Nathalie Bittingers Überblick über das japanische Animationskino, ein Zeichen für den deutlich westlich, französischen Blick auf das östliche Filmgenre, aber auch für die inhaltlichen Ursprünge des Animes. Denn tatsächlich war der erste offizielle abendfüllende japanische Animationsfilm ein noch in der Endphase des Zweiten Weltkriegs entstandener Propagandafilm Namens „Momotaro: Sacred Sailors“. Und auch das Werk von zwei der großen japanischen Animationsfilmregisseure wäre ohne den Zweiten Weltkrieg nicht zu denken: Hayao Miyazaki und Isao Takahata, zwei der Mitbegründer des legendären Studi Ghibli, die beide noch während des Krieges geboren wurden und als Namensgeber für ihr Studio das italienische Transport- und Aufklärungsflugzeug Caproni Ca.309 Ghibli aus den 30er Jahren gewählt haben.

Und die in ihren Filmen immer wieder, oft aus Sicht von Kindern, von den Schrecken des Krieges erzählt haben: Takahata etwa in seinem Meisterwerk „Die letzten Glühwürmchen“, Miyazaki auf phantastischere Weise in Filmen wie „Porco Rosso“ oder „Das wandelnde Schloss“, realistischer wohl in seinem erst vor wenigen Wochen in Japan gestarteten und bald auch in Deutschland zu sehendem „The Boy and the Heron.“

Dieser Film findet in dem reich bebilderten Band Anime Through the Looking Glass“ (engl. Text; im Shop) natürlich keine Erwähnung, doch bis Mamoru Hosodas „Belle“ von 2021 reicht der Blick, den Bittinger auf das japanische Animationskino wirft. In kurzen, kundigen Kapiteln wirft die Expertin für asiatisches Kino, die zuvor schon Bücher über etwa Wong Kar-wais „2046“ verfasst hatte, einen Blick auf die Entwicklung des Animes. Alle Klassiker des Genres, die den Anime auch im Westen populär gemacht haben, finden Erwähnung, von „Akira“ bis „Ghost in the Shell“, aber auch viele weniger bekannte Beispiele für futuristische Dystopien, Variationen des Cyberpunks wie etwa „Mobile Suit Gundam“ von Yoshiyuki Tomino oder „Attack on Titan: Crimson Bow and Arrow“ von Tetsuro Araki finden Erwähnung und laden zu Neuentdeckungen ein.

Um zu zeigen, wie einflussreich das Animationskino in den letzten Jahren auf das westliche, vor allem das Hollywood-Kino war, fügt Bittinger immer wieder kurze Kapitel ein, in denen die oft frappierenden stilistischen Kopien oder Hommagen gezeigt werden: Die Mecha-Konstruktionen aus James Camerons „Aliens“ etwa, die später auch in „Avatar“ variiert wurden oder ganze Passagen aus der „Matrix“-Reihe, Filme die ohne östlichen Einfluss nicht denkbar gewesen wären.

Weniger glücklich gestalteten sich Versuche Hollywoods, direkte Remakes von japanischen Filmen oder Serien zu drehen, sowohl Robert Rodriguez „Alita Battle Angel“ als auch Rupert Sanders „Ghost in the Shell“ konnten an die Qualität der Vorlagen nicht heranreichen. Gelungener war da schon Guillermo del Toros „Pacific Rim“ oder – verklausulierter – Christopher Nolans „Inception“, der sich mehr als deutlich bei „Paprika“, einem der Meisterwerke des leider viel zu jung verstorbenen Satoshi Kon, bedient.

Dass die Verbindungen nicht nur in die eine Richtung gehen, lässt sich vor allem am Werk Miyazakis ablesen, der bekanntermaßen seine Anfänge bei der „Heidi“-Serie machte und später immer wieder westliche Romane als Grundlage für seine Filme nahm. Ebenso wie etwa die TV-Serie „Cowboy Bebop“, der das ur-amerikanische Western-Genre mit japanischer Ästhetik vermischte.

Angesichts dieser interkulturellen Verbindungen macht es um so mehr Sinn, dass Bittinger in ihrem Text nicht mit Verweisen an Größen der französischen Kultur spart, von Andre Gide bis Michel Foucault zitiert und damit das japanische Animationskino, das von Unwissenden oft mit Kinderfilmen gleichgesetzt wird, in den Rang einer bemerkenswerten und vielschichtigen Kunstform hebt.

Nathalie Bittinger: Anime Through the Looking Glass • Sachbuch (engl. Text) • Prestel, München 2023 • 192 Seiten • Erhältlich als Hardcover • € 38,00 • im Shop

 

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