18. Juli 2023

Jeff Lemires Mythenangebot, Disneys Bilderkosmos und Putins Krieg

Phantastik-Comic-Neuheiten im Juli

Lesezeit: 4 min.

Jeff Lemire und Andrea Sorrentino arbeiten an einem weiteren Horror-Komplex, Alexis Nesme wandelt in einem neuen Disney-Hommage-Band auf Jules Vernes Spuren und die neue Ausgabe des Gratismagazins „Moga Mobo“ wird von 22 ukrainischen Comiczeichner*innen bestritten.

 

Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Die Passage

Ihr mindestens visuelles Bravourstück haben Jeff Lemire und Andrea Sorrentino mit der mehrfach Eisner-prämierten Kleinstadt-Zeitreise-Horrorserie „Gideon Falls“ bereits abgeliefert (hierzulande in sechs Bänden beim Splitter Verlag erschienen). Aber im Horrorgebälk gibt es für beide anscheinend noch einiges zu restaurieren; das Spiel mit dem unheimlich Uneindeutigen und der verschachtelten Erzählweise wird fortgesetzt, diesmal in Gestalt des sogenannten „Bone Orchard Mythos“. Klingt pompös, meint aber zunächst erst mal nur eine Reihe motivisch und thematisch verknüpfter Mini-Serien aka Graphic Novels, die sowohl einzeln als auch im Verbund erzählerisch funktionieren sollen. „Die Passage“ ist der Auftakt zum besagten Mythos, eine allegorisch aufgeladene Kurzgeschichte mit „Twilight Zone“- und Lovecraft-Vibes um einen jungen Geologen, der zu einer kleinen Insel beordert wird, um einen rätselhaften Schacht im Felsmassiv zu untersuchen, ein Loch ohne Boden. Er wird im örtlichen Leuchtturm einquartiert, von der alten Leuchtturmwärterin, der einzigen Inselbewohnerin, betreut und mit Informationen versorgt. Das klappt bei Tage recht reibungslos, aber in den Nächten häufen sich bizarre Ereignisse, die die Story in die Linie des zeitgenössischen Arthouse-Horror Marke Ari Aster und Robert Eggers versetzen.

Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Die Passage • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 96 Seiten • Hardcover • € 19,80

 

Jérôme Le Gris, Nicolas Siner: Lord Gravestone Band 1 - Der rote Kuss

So unübersehbar der Ansatz in Lemires und Sorrentinos „Passage“, das Horror-Genre als Quell abgründiger Bild-Raffinesse zu nutzen, so klassisch frankobelgisch kommt der Vampir-Reißer „Lord Gravestone“ vom französischen Künstlerduo Jérôme Le Gris und Nicolas Siner daher. Der erste Band der Trilogie implementiert das Traditionsbewusstsein ins Sujet: Zwischen Stokers „Dracula“ und Le Fanus „Carmilla“ changierend, geht es um eine typische Rachegeschichte zweier Getriebener, dem titelgebenden Vampirjäger Lord Gravestone und der Vampirin Camilla, die sich beim Dezimieren der Freunde und Liebsten ihres jeweiligen Gegners zum finalen Duell vorarbeiten. Das ist überhaupt nicht originell, aber die Zeichnungen und der kompakte Plot blicken mit glasigen Augen auf das Erbe der Gothic Novels und tauchen ganz vernarrt in den Vampir-Mythos ein, dass man diesem anachronistischen Trotz auch einige Sympathie abgewinnen kann. Woher allerdings die Manie rührt, bis heute auch nicht einen französischen Mainstream-Genre-Comic ohne zwei, drei Seiten Weichzeichner-Erotik in Altherren-Busenblitzer-Ästhetik aufs Publikum loszulassen, muss dringend untersucht werden. Wird das in Verlegerköpfen mental durchgewunken wie der Tod eines alten Nachbarn, den man immer flüchtig auf der Straße gegrüßt hat: nicht schön, aber das Leben ist eben eine Daumenschraube?

Jérôme Le Gris, Nicolas Siner: Lord Gravestone Band 1: Der rote Kuss • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 56 Seiten • Hardcover • € 16,00

 

Alexis Nesme: Fantastische Fahrten mit Micky Maus: Terror Island

Auch im frankobelgischen Sprachraum hat es sich längst durchgesetzt, große Marken, deren Kern man nicht antasten will, durch Nebenreihen, in denen sich externe Künstler*innen ein wenig freier am Gegenstand austoben dürfen, zu revitalisieren. Vortrefflich klappt das beispielsweise bei Spirou und Fantasio, Lucky Luke, Valerian und Veronique und den Schlümpfen. Manch altem Recken hingegen, etwa Rick Master und Bob Morane, ist einfach nicht mehr zu helfen. Mit 16 Bänden sehr umfangreich und qualitativ wechselhaft sind mittlerweile die Disney-Hommage-Bände des französischen Glénat-Verlags geraten, die in deutscher Übersetzung bei Egmont erscheinen. Das raffinierteste Szenario stammt von Lewis Trondheim, der uns in „Donald’s Happiest Adventures“ buchstäblich in einem fiktiven verschollen geglaubten uralten Disney-Heft blättern lässt: Besonders haarsträubenden dramaturgischen Engpässen im Plot entgeht er darin einfach dadurch, dass er manche Seiten als unauffindbar deklariert und die Story unvermittelt an anderer Stelle fortsetzt.

Trondheims zweiter Beitrag, die Gruselgeschichte „Horrifikland“, war eine Gemeinschaftsarbeit mit dem französischen Zeichner Alexis Nesme, in dem Micky Maus, Donald Duck und Goofy eine Detektei gründen und ihren ersten Fall auf nebelverhangenen Friedhöfen lösen müssen. Daran knüpft Nesme, diesmal im künstlerischen Alleingang, in seinem zweiten Hommage-Album „Terror Island“ an. Diesmal schickt er die drei auf eine geheimnisvolle Insel irgendwo zwischen der Karibik und den Kapverden, voller Fallen und gefährlicher Flora und Fauna, um den verschwundenen Gatten von Lady Peppermint zu finden. Der Tonfall ist dezent wie aus Zeiten früher Disney-Cartoons und der Weg gestreut mit Zitaten nicht nur aus Disneys Popkulturwelten: King Kong, Indiana Jones, Jules Verne, Ray Harryhausen, hier sollen nicht nur die Figuren forschen.

Alexis Nesme: Fantastische Fahrten mit Micky Maus: Terror Island • Egmont Comic Collection, Berlin 2023 • 56 Seiten • Hardcover • € 29,80

 

Moga Mobo #117: Im Osten nichts Neues

Die täglichen Katastrophenmeldungen infolge des Klimawandels, der Flirt des Kapitalismus mit autokratischen Regierungsmodellen, der scheinbar zementierte Abgrund zwischen Arm und Reich mit all den Privilegien und Extravaganzen, die dies letzteren ermöglicht, der globale Marsch durch die Institutionen vonseiten rechter Parteien und Schreihälse und nicht zuletzt Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, der von Putin im faschistischen Jargon und mit faschistischen Methoden vorangetrieben wird und all diese Entwicklungen nochmals beschleunigt, haben den gesellschaftspolitischen Krisenmodus zum Alltag werden lassen. Die Gegenwart hat die Schreckensbilder von der Zukunft, die uns die Science Fiction verlässlich lieferte und weiterhin liefert, in Teilen eingeholt, weshalb im Umkehrschluss mehr denn je eine der Aufgaben der kritischen Science Fiction darin bestehen wird, diese Gegenwart zu kommentieren, zu analysieren, zu evaluieren, sich an ihr abzuarbeiten, will sie sich nicht in Eskapismus und Franchise-Liebe selbst abschaffen. In diesem Sinne empfehle ich die soeben erschienene 117. (!) Ausgabe des Berliner „Moga Mobo“-Magazins, in dem 22 ukrainische Comiczeichner*innen Bilder für (nicht nur) den Ukrainekrieg finden und eine Gegenwart beschreiben, die vor wenigen Jahren noch als bedrückende Flaschenpost der Science Fiction gegolten hätten. Man findet das Heft gratis (!!) in vielen Comicshops oder kann es für einen geringen Unkostenbeitrag unter diesem Link bestellen.

Abb. ganz oben: Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Die Passage; Splitter Verlag

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