20. Juni 2023

Fracking, Überschwemmungen, Flucht ins All

Phantastik-Comic-Neuheiten im Juni

Lesezeit: 4 min.

Kate Beaton dokumentiert in ihrer autobiographischen Arbeit „Ducks“ den Raubbau der Ölindustrie, Neil Gaiman lässt Sir Galahads Gralsuche an einer britischen Dame scheitern und Émile Bravo ist weiterhin ein Garant für fantastische phantastische Jugendcomics.

 

Émile Bravo: Julius‘ fantastische Abenteuer Band 1

Im Bereich des Jugendcomics gibt der französische Zeichner Émile Bravo den Ton an. Augenscheinlich am Stil Franquins geschult, stechen seine Werke aus dem Gros der zeitgenössischen Veröffentlichungen des boomenden Kinder- und Jugend-Segments wie Perlen auf dem Meeresgrund hervor. Schnurrige Dialoge, ein argwöhnischer Blick auf die Erwachsenen und tiefes Misstrauen gegenüber Autoritäten sind die tragenden Säulen seiner bei Reprodukt erneut startenden Reihe „Julius fantastische Abenteuer“, die zwischen 2014 und 2016 zuerst sechsbändig bei Carlsen erschien und damals noch „Pauls fantastische Abenteuer“ hieß. Nun ist der Titel näher am Original, die Präsentation weitaus liebevoller und aus Softcover wurde Hardcover. Der Auftakt ist ein vorzügliches Weltraumabenteuer. Julius wird in seinem Elternhaus von zwei Männern der Weltraumbehörde rekrutiert, und bevor sich überhaupt die Frage klärt, wieso die Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen ist, sitzt er auch schon mit einer mehr oder minder kompetenten Crew im Raumschiff Richtung Alpha Centauri. Schon bald suchen Außerirdische Kontakt zu den Expeditionsreisenden, und wie sich von diesen Kommunikationsversuchen zur ersten Begegnung vorgearbeitet wird, hat man selten so lustig im Comic gelesen.

Émile Bravo: Julius‘ fantastische Abenteuer. Band 1: Sprung in die Zukunft Reprodukt, Berlin 2023 56 Seiten • Hardcover • € 18,00

 

Benjamin Flao: Auf dem Wasser Band 1

Präapokalyptische Bilder mahnen in immer kürzeren Abständen, dass der Klimawandel die Zukunft bereits im Griff hält, und das erfüllt auch die postapokalyptischen Erzählungen mit einer neuen Dringlichkeit. Der in Frankreich lebende Comiczeichner Benjamin Flao wählt für seine neue Serie „Auf dem Wasser“ einen ähnlichen Topos wie sein italienischer Kollege Gipi in „Die Welt der Söhne“: die steigenden Meeresspiegel. Wo Gipi allerdings materialistisch die menschliche Brutalität im Auge des Weltuntergangs beschreibt, reichert Flao sein Setting um phantastische Elemente an, indem er seinen Protagonist*innen – die sich auf Hausbooten buchstäblich über Wasser halten, gleichwohl auch staatlich verordnete Wohngebiete zu Land existieren – einen telepathisch begabten Hund zur Seite stellt, der ab und an metaphysisch herumfirlefanzt und dem Szenario einiges von dem Schrecken nimmt, den die schmutzigen Zeichnungen so mühselig aufgebaut haben. Aber die Reise hat ja erst begonnen, es bleibt noch genügend Raum für Kohärenz.

Benjamin Flao: Auf dem Wasser. Erster Teil • Schreiber & Leser, Hamburg 2023 • 160 Seiten • Hardcover • € 29,80

 

Kate Beaton: Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden

Von den postapokalyptischen Bildern, die „Auf dem Wasser“ auffährt, setzt „Ducks“ nur einen Schritt zurück zu den heutigen Ursachen, die zu diesen Bildern führen werden. Die kanadische Comickünstlerin Kate Beaton hat in ihren Webcomics bislang dem Humor gefrönt, „Obacht! Lumpenpack“ und „Zur Seite, Kerl!“ (beide bei Zwerchfell) sind zwei herausragende Sammlungen ihrer spöttischen Betrachtungen der mitunter putativen Heroen der Literatur- und Zeitgeschichte. „Duck“ betritt völlig neues Terrain, Beaton geht zurück ins Jahr 2005, als sie mit 21 zum Abstottern ihres Studiumkredits zwei Jahre lang auf den Ölsandfeldern Westkanadas in der Werkzeugausgabe mehrerer Camps arbeitete. Das 450 Seiten starke Meisterstück, dessen Qualitäten selbst Obama auf seinen Social-Media-Kanälen überschwänglich lobte, gleichwohl er – trau, schau, wem – noch 2013 die USA zum weltgrößten Energielieferanten ausbauen lassen wollte, massiv das Fracking propagierte und alle Warnungen der Klimaforschung ignorierend zahlreiche Ölfelder und Bohrinseln genehmigte, ist eine radikale Abrechnung mit der Ölindustrie. Raubbau an der Natur und am Körper der Arbeiter*innen, Diskriminierung und der brutale Umgang auch untereinander, Machtausübung und Hierachien im Arbeitsverhältnis und die Gefahren und Folgen des Frackings – Beaton führt durch diesen vor der Öffentlichkeit abgeschotteten Kosmos der Ressourcenvernichtung mit präzisem Sensor fürs Detail. Dass dabei sogar Humor ein konstitutives Erzählelement bildet und die Kritik an manchen Stellen ohne geringste Dissonanzen akzentuiert, ist eine stilistische Finesse, wie sie nur selten so elegant beherrscht wird.

Kate Beaton: Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden • Reprodukt/Zwerchfell, Berlin/Stuttgart 2023 • 448 Seiten • Hardcover • € 39,80

 

Neil Gaiman, Colleen Doran: Ohne Furcht und Tadel

Dass Neil Gaiman und die US-amerikanische Comiczeichnerin Colleen Doran künstlerisch hervorragend miteinander harmonieren, haben sie bereits mehrfach bewiesen: Die Schneewittchen-Groteske „Snow Glass Apples“ liegt in deutscher Übersetzung vor, „Die Trollbrücke“ wird im September folgen. In „Ohne Furcht und Tadel“ aquarelliert sie eine komödiantische Kurzgeschichte Gaimans aufs Papier, in der Sir Galahads ewige Suche nach dem Heiligen Gral endlich ein Ende zu nehmen scheint. Der befindet sich allerdings im Besitz der rüstigen britischen Dame Mrs. Whitaker, die ihn zufällig in einem Oxfam-Shop entdeckt und auf ihrem Kaminsims platziert hat. Da soll er auch bleiben, es hilft kein Betteln und kein Flehen, und auch das Schwert Balmung, das Galahad zutiefst ergriffen überreichen will, lässt die Witwe kalt. Für Galahad heißt es darum erst mal: Gartenarbeit, Einkäufe reintragen, den Müll rausbringen. Care-Arbeit statt Schlachten schlagen, eine herrlich prosaische Devise um der Artussage mit all ihrem Schwulst die Flausen auszutreiben. Im ausführlichen Anhang findet sich auch ein Nachwort von Colleen Doran, dem sich eindrücklich entnehmen lässt, wie viel Arbeit in dem vermeintlich kompakten Werk steckt und welch mühsame Folgen eine zu frühe ästhetische Entscheidung im Entstehungsprozess zeitigen kann.

Neil Gaiman, Colleen Doran: Ohne Furcht und Tadel • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,80

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