9. August 2021 3 Likes

Geheimnisse

Einige Gedanken beim Betrachten des sommerlichen Sternenhimmels

Lesezeit: 5 min.

In den zurückliegenden Corona-Monaten, in denen man reichlich Zeit hatte, die eigene Wohnung neu kennenzulernen, habe ich eine schöne Entdeckung gemacht: ein Teleskop. Vor vielen Jahren war es auf Umwegen in meinen Besitz gelangt und stand seither unbeachtet und ungenutzt im hintersten Eck einer dunklen Abstellkammer. Das tat mir leid, und so habe ich, gleichsam als Wiedergutmachung, das Teleskop dieses Jahr mit in den Urlaub genommen, um bei klarer Luft und fern vom lästigen Licht der Häuser, Autos und Straßenlaternen den Sternenhimmel im August zu betrachten.

Leider kam ich nicht mehr dazu, mich vorher mit all den komplizierten Vorrichtungen und Feinheiten meines Teleskops zu befassen (für die Experten unter Ihnen: es ist ein „Skywatcher Explorer“); ich habe dem Teleskop versprochen, das baldmöglichst nachzuholen. Aber was mich betrifft, reicht glücklicherweise schon ein laienhafter Blick durch ein Teleskop, um jenes Gefühl hervorzurufen, das mich vor langer Zeit für die Science-Fiction sensibilisiert hat: das Gefühl, einem gigantischen Geheimnis gegenüberzustehen.

In die Sterne zu blicken, ist, als würde man einem grandiosen Konzert beiwohnen, ohne das Orchester zu sehen. Von unserem lebensfreundlichen Felsplaneten in einem der äußeren Spiralarme der Milchstraße aus können wir Strukturen beobachten – Galaxien, lokale Gruppen, Supercluster –, deren Größe, Entfernung und Anzahl unser Vorstellungsvermögen sprengt und die doch nur der sichtbare Teil eines noch viel komplexeren und rätselhafteren Zusammenhangs sind. Es ist wahrlich kein Wunder, dass der Weltraum eine der großen Obsessionen der Menschheit ist.

Diese Menschheitsobsession hat gerade wieder einmal Konjunktur, und wie so oft werden dabei allerlei Science-Fiction-Assoziationen mit hineingemischt. So spekuliert der Astronomie-Professor Avi Loeb öffentlichkeitswirksam darüber, ob ein im Oktober 2017 beobachteter Asteroid, dessen langgezogene Form an Arthur C. Clarkes „Rendezvous mit Rama“ erinnert, ein außerirdischer Späher gewesen sein könnte, der unserem Sonnensystem einen Kurzbesuch abstattete. Von der US-Regierung freigegebene Dokumente, die darauf hindeuten, dass es im Luftraum über der Erde Fluggeräte gibt, von denen niemand weiß, was sie sind und woher sie kommen, scheinen jenen SF-Fantasien recht zu geben, die davon ausgehen, dass „sie“ schon längst hier sind. Und dann sind da auch noch die drei weltraumfanatischen Milliardäre Richard Branson, Jeff Bezos und Elon Musk, die sich in einer travestieartigen Kopie libertärer Eroberungsträume eines Robert A. Heinlein ein Rennen in den nahen Orbit liefern.

Gerade das letztgenannte Beispiel zeigt allerdings, dass die Vermischung von Science-Fiction und Realität mitunter ein ziemlich unangenehmes Gebräu ergibt. Denn abgesehen davon, dass hinter der hypermaskulinen Gung-Ho-Attitüde der Milliardäre ordinäre Geschäftsinteressen stecken – hier entstehen die Firmenstrukturen, die in einigen Jahrzehnten aus der Weltraumfahrt touristischen Alltag machen werden –, hat das Ganze noch einen ideologischen, wahnhaften Aspekt: Die drei sind der Überzeugung, dass die Erde mehr oder weniger kaputt ist und sie mit ihrer Flucht ins All, ob zum Mars oder sonstwohin, „die Menschheit“ retten werden. Es geht darum, den Planeten zu verlassen, ganz ernsthaft.

Unter der Überschrift „Aufbruch zu den Sternen“ spielen zahllose Science-Fiction-Geschichten ein solches Szenario durch, aber nicht alle von ihnen erzählen diesen Aufbruch als logische und notwendige Weiterführung des Menschheitsprojekts, wie es Branson, Bezos und Musk sehen. Manche Geschichten erzählen diesen Aufbruch als Irrweg – und dass er tatsächlich ein Irrweg ist, wurde mir klar, als ich in diesem August den Blick auf die Sterne richtete. Denn in Wahrheit geht dieser Blick gar nicht nach außen, sondern weist zurück auf die Welt, in der wir leben. Ja, dieser Blick kann uns lehren, unsere Welt neu zu sehen. Oder sie zum ersten Mal wirklich zu sehen.

Es gibt nämlich keinen Unterschied zwischen „Hier“, wo wir sind, also auf der Erde, und „Dort“, wo alles andere ist: die Planeten, die Sterne, die Galaxien. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Erde und dem Kosmos. Die Erde ist ein Bestandteil des kosmischen Geschehens – ein Bestandteil des gigantischen Geheimnisses. Wie im Kosmos begegnet man auch auf der Erde immer wieder neuen Varianten dieses Geheimnisses: Steinen, Wasser, Luft, Pflanzen, Tieren, Mikroben und so vielem mehr. Während ich durch mein Teleskop blickte, musste ich an Nan Shepherds wunderbares Buch „Der lebende Berg“ denken, in dem die Autorin von ihren Wanderungen durch die schottischen Cairngorm Mountains erzählt. Dort heißt es an einer Stelle: „Ich wusste, als ich eine lange Weile geschaut hatte, dass ich gerade erst begonnen hatte zu sehen. Die Augen sehen, was sie vorher nicht sahen, oder sehen, was sie bereits sahen, auf eine neue Weise.“ Und etwas später schreibt Shepherd: „Je mehr man über das komplexe Zusammenspiel von Erdboden, Höhe, Wetter und dem lebenden Gewebe von Pflanzen und Insekten lernt, desto mehr Tiefe gewinnt das Geheimnis.“

Eine solche Art, die Welt zu sehen, eine solche Art, sich die Welt anzueignen, ohne sie zu erobern oder wie eine Rechenaufgabe lösen zu wollen, ist nicht wissenschafts- oder gar wissensfeindlich, ganz im Gegenteil: Wissen ist das Pendant zu den Geheimnissen, von denen wir umgeben sind. Shepherd formuliert es so: „Einen anderen kennenzulernen, kommt zu keinem Ende. Das, was man kennenlernt, wächst mit der Erkenntnis.“ Wenn wir von der Erde aus in die Sterne blicken, wenn wir ihre Wanderung über den Nachthimmel verfolgen, dann begreifen wir, dass die Schönheit des Universums und von allem, was darin ist, in seinen Geheimnissen liegt. Und wir beginnen, uns an Dinge zu erinnern, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie vergessen haben: dass wir selbst ein Geheimnis sind, und uns dieses Geheimnis erst zu Menschen macht.

Das Geheimnis der Menschheit besteht in ihrer tiefen, unauflösbaren Beziehung zu der Welt, die sie hervorgebracht hat. „Dort“ ist eine schöne Fiktion, „hier“ ist eine Realität, und der Gedanke, die Erde wie ein Objekt zu gebrauchen und dann einfach weiterzuziehen, ist obszön. Die Erde ist kein Objekt, sondern unsere Identität. Wie weit wir auch gehen (und wer weiß, vielleicht werden wir wirklich weit kommen), wir werden immer Teil der irdischen Lebensgemeinschaft sein, wir werden den Planeten nie wirklich verlassen. Das wird einem bewusst, wenn man von der Erde aus in die Sterne blickt, und sollten Sie mir das nicht glauben, dann probieren Sie es doch einfach selbst aus.

Wenn die Luft klar ist und kein lästiges Licht stört, brauchen Sie dafür noch nicht einmal ein Teleskop.

 

Sascha Mamczak ist Autor von „Die Zukunft – Eine Einführung“ und des Jugendsachbuchs „Eine neue Welt“. Zuletzt ist bei Reclam sein Buch „Science-Fiction. 100 Seiten“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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