28. November 2016

Europa wird zur Dyson-Sphäre

Wie unser Kontinent versucht, mehrere Probleme auf einen Schlag zu lösen

Lesezeit: 5 min.

Zwei Dinge werden der EU nie ausgehen: die Angst vor Fremden und der Hunger nach Energie. Darum erkannte die Brüsseler Kommission im Jahr 2019 genialerweise, wie sich beides durch ein ehrgeiziges Projekt gewinnbringend verbinden lässt.

Hierzu griff sie eine in Science-Fiction-Kreisen schon lange bekannte Idee auf, die der Physiker Freeman Dyson im Juni 1960 in der Zeitschrift Science veröffentlicht hatte, nachdem er von Olaf Stapledons Roman Star Maker (1937) dazu inspiriert worden war. Kurz gesagt geht es dabei darum, die abstrahlende Energie unseres Heimatsterns – der Sonne – nicht mehr ungenutzt in den Weltraum entweichen zu lassen, sondern mit einem gigantischen Schwarm von ihn kugelförmig umgebenden Solarkollektoren einzufangen. Die Schwarmelemente könnten auch bewohnbar sein und so der Menschheit erlauben, sich auf sichere Weise außerhalb der Erde auszubreiten und dabei direkt an der Energiequelle zu sitzen.

So weit zu gehen, scheiterte allerdings am Einspruch der europäischen Finanzminister, weshalb das Projekt um eine Nummer kleiner geplant wurde: eine acht Kilometer hohe Halbkugel, die in leicht unwuchtiger Form die EU von Westfrankreich bis Ostpolen und von Dänemark bis an die afrikanische Nordküste umschloss. So konnte das einstige Vereinigte Königreich bequem ausgeschlossen und auch Russland sowie die Türkei außen vor gehalten werden. Lediglich für die iberische Halbinsel und Skandinavien wurden angeschlossene kleinere Halbkugeln gebaut. Irland bekam Sonderzugangsrechte per Schiff, die Schweiz wurde stillschweigend (und gegen jährliche Beitragszahlungen) geduldet, für Norwegen und die Ukraine hielt man Andockstellen offen.

Genau betrachtet sah die Oberfläche der EU-Sphäre nicht wie eine glatte Halbkugel aus, denn ihre bionische Architektur nutzte die weitaus robustere Form des Seeigelskeletts. Ermöglicht wurde die Grundkonstruktion durch einen neuartigen, hochstabilen und gleichzeitig leichten Verbundstoff aus Karbonfasern und nanoporösem Metallschaum. Daraus gefertigte Verstrebungen konnten flexibel an die unterschiedlichen Geländeformationen des Erd- und Meeresbodens angepasst und auf Erdbebenstöße abfedernden Stützen gelagert werden. Die fünf- und sechseckigen Flächen dazwischen wurden mit Perlmuttglas ausgefüllt, das seine extreme Festigkeit einem Gemisch aus Kalziumkarbonat und eingebetteten Proteinschichten verdankt. Da das Protein gentechnisch so modifiziert wurde, dass es Photosynthese betreibt, schützt das Glas nicht nur vor Flüchtlingen und Angriffen, sondern fängt auch Sonnenlicht ein und leitet dessen Energie entlang der Streben zu Verteilerzentren weiter. Zukünftig soll eine Heerschar von Nanorobotern, die rund um die Uhr inner- und außerhalb der Verstrebung herumklettern, die Kuppel bei Beschädigungen durch Meteoriten oder Raketen selbsttätig innerhalb von Minuten reparieren.

Als dieses größte Bauwerk der Welt im Frühling 2032 fertiggestellt wurde, mussten sich die EU-Bürger erst einmal an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnen. Tagsüber wurde das durch die Glasscheiben gedämpfte Sonnenlicht durch Billionen LED-Leuchten verstärkt, die von einem französischen Hightech-Unternehmen so gesteuert wurden, dass sie den täglichen Sonnenverlauf simulierten. Nachts verloschen sie dann allmählich und bildeten Sternformationen nach, deren Originale am Himmel kaum noch zu erkennen waren. Auch die von außen angesaugte und durch Filterklappen gesäuberte Luft schmeckte in den ersten Monaten noch etwas synthetisch und nach Gummi – etwa so als entließe man sie aus einem Wasserball. Nach einem Jahr jedoch wusste kaum noch jemand, wie die natürliche Luft gewesen war. Zudem hatte die Notwendigkeit, Autoabgase und rauchende Kamine aus der EU-Sphäre zu verbannen, den positiven Nebeneffekt, dass Fahrzeuge und Geräte innerhalb kürzester Zeit nur noch von Elektromotoren und Solarenergie-Empfängern betrieben wurden. Zudem vermittelte die undurchdringliche Kuppel den EU-Bürgern endlich eine allumfassende Sicherheit vor den Unbilden der Welt. Alles in allem ein gigantischer Erfolg menschlicher Baukunst und Entschlossenheit. Dideldum, dideldei.

2034 reichte die erste Baufirma Klage gegen die EU-Kommission wegen unbezahlter Rechnungen ein. Offenbar waren die Kosten des Projekts explodiert. Dann folgte eine Lawine von Untersuchungen wegen vermuteter Korruption bei den Bauvergaben. Technisch funktionierte alles nach wie vor wunderbar, doch wurden durch den nicht mehr möglichen Flugverkehr und die erschwerten Transportverbindungen die Reise- und Handelsmöglichkeiten weitaus stärker eingeschränkt als erwartet. Nachdem man sich am Bauwerk sattgesehen hatte, kamen immer weniger Amerikaner, Asiaten, Australier und Afrikaner zu Besuch nach Europa. Da die Sphäre aus Platz- und Ressourcengründen auf keinen Fall überbevölkert werden durfte, wurden Einreisen für alle „Außenmenschen“ streng reglementiert. Die vormals unsichtbare Mauer der Festung Europa war transparenten, aber undurchdringlichen Scheiben gewichen, und auch wohlhabende Touristen und Wirtschaftstreibende aus Industrieländern erfuhren nun, wie sich Asylsuchende und Arbeitsmigranten fühlten. Sie verweigerten ihrerseits den EU-Bürgern die Einreise.

Dann stimmten zuerst die Schweizer, später die Dänen und gleich darauf die Österreicher und Portugiesen für den Austritt – nicht aus der EU, sondern aus der Kuppel. Dass es sich dabei um eine geophysikalische Unmöglichkeit handelte, wurde von national gestimmten Parteien mit bunten Werbeclips übertönt. So einigte man sich schließlich auf den Bau von riesigen Röhren, die die Austrittsländer umgaben und oben das Sphärenglas durchbrachen: Man war nun gewissermaßen gleichzeitig in- und außerhalb der Kuppel und frohlockte ob der erweiterten wirtschaftlichen und politischen Bündnismöglichkeiten. Einige Röhren wurden bis nach Russland verlängert, andere neigten sich bogenförmig nach London oder in die Türkei und eine – an der noch gebaut wird – stellt eine Art befahrbares Rohrpostsystem bis nach Peking dar.

Heute gleicht die Sphäre einer umgedrehten Teekanne mit zahlreichen Tüllen. Einzelne Segmente der Halbkugel sind je nach innenpolitischer Lage geöffnet oder komplett zugeklebt. Ein Teil der Außenhülle wurde zum Erlebnispark umgebaut, mit Kletterwänden, Skipisten und Speed-Rutschen. Die Hochsicherheitsglasscheiben veralgen allmählich, seit die IT-Gewerkschaft ihre Nanoroboter nur noch zu eingeschränkten Arbeitszeiten werken lässt. Vögel nisten in den Verstrebungen, und durch undichte Stellen dringt Regen ein. Die monatlich EU-weit erhobene „Sphärenstimmung“ schwankt zwischen heiterem Zorn und wütender Gelassenheit, ist also eigentlich gar nicht so schlecht. Kürzlich schlug ein Politiker vor, an der Spitze der Kuppel eine große Landeplattform für internationalen Flugverkehr zu eröffnen, damit wir endlich regelmäßige Kultur- und Handelskontakte mit den umliegenden Ländern aufbauen können.

Super Idee, warum eigentlich nicht?
 

Uwe Neuhold ist Autor, bildender Künstler, Medien- und Museumsgestalter mit Schwerpunkt auf naturwissenschaftlichen Themen. Alle Kolumnen von Uwe Neuhold finden Sie hier.

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