11. Mai 2020 2 Likes

Nimm Pears-Seife

Beeinflussung, Anpassung und das Wettrüsten um Ihre Aufmerksamkeit im Internet

Lesezeit: 7 min.

Wie wir alle wissen, muss ein Zeitreisender bei einem Besuch in der Vergangenheit große Vorsicht walten lassen. Er könnte etwa Krankheitserreger mitschleppen, mit denen sein hochentwickeltes Immunsystem locker fertig wird, denen die Menschen früherer Zeiten jedoch schutzlos ausgeliefert sind. Ein unbedachter Gang zur Toilette, ein unglückliches Husten, ein paar vergossene Blutstropfen, und schon könnten ganze Zivilisationen einer Pandemie anheimfallen (wir wissen inzwischen, wovon wir reden).

Wer die Zukunft erleben will, muss zunächst die Risiken der Vergangenheit gemeistert haben. Vieles, was unseren Vorfahren große Probleme bereitet hat, stellt keine Gefahr mehr für uns dar, und doch ist das Leben heute nicht leichter als früher. Denn nicht nur wir haben uns angepasst, sondern auch die Raubtiere und Parasiten. Der Jäger formt seine Beute – und umgekehrt formt die Beute den Jäger. Die Schutzmaßnahmen unserer Vorfahren sind nach heutigen Maßstäben geradezu lächerlich. Man sehe sich nur die verblasste, in geschwungener Serifenschrift gehaltene Reklame auf alten Backsteingebäuden an: NIMM PEARS-SEIFE FÜR HAUT & TEINT. NUR 5 CENT.

Nimm Pears-Seife. Vor langer Zeit strömten wohl tatsächlich Heerscharen von Kunden in die Tante-Emma-Läden, um sich damit einzudecken. Heutzutage wird Seife so verkauft: AXE-DEOSPRAY, UND KEINE FRAU MIT DEM KÖRPER EINES FITNESSMODELS UND DEM GESICHT EINES ENGELS KANN DIR WIDERSTEHEN. OHNE AXE-DEOSPRAY WIRST DU ALS JUNGFRAU STERBEN. SPRÜH DICH DAMIT EIN, DU SAFTSACK! NEIN, WEITER. MEHR. IMMER WEITER. MEHR, HAB ICH GESAGT!

Heute scheint es unmöglich, mit einem Spruch wie „Nimm Pears-Seife“ auch nur einen müden Dollar zu verdienen, doch früher hat es wohl funktioniert. Immerhin ist die Geschichte der Reklame voll von solchen Slogans, ob in drei Meter hohen Buchstaben auf alten Gebäuden oder in hübsch gestalteten Anzeigen in historischen Ausgaben von Collier’s oder der Saturday Evening Post. Im Laufe der Zeit und durch ständige Wiederholung, Enttäuschung und Erfahrung haben wir gelernt, Slogans wie „Nimm Pears-Seife“ keine Beachtung mehr zu schenken. Wir wurden immun. Wir haben uns angepasst.

Erinnern Sie sich an Farmville? Eines Tages war es plötzlich da, und Ihre Freunde wollten auf einmal, dass Sie ihren Kühen Wasser geben und ihnen bei der Hühnervermehrung helfen. Ihre Kinder, sogar Ihre Ehepartner gaben tatsächlich Geld für dieses Spiel aus, gefangen in einem (scheinbar) unentrinnbaren, das limbische System stimulierenden, die Dopamin-Ausschüttung anregenden Kreislauf. Und dann war Farmville auch schon wieder verschwunden. Es gibt zwar noch einen harten Kern treuer Fans, die es weiter spielen, aber als soziales Phänomen ist es ebenso tot wie Zaubertrollpuppen oder Pokemon Go. Der Wert der Zynga-Aktie rauschte 2012 in den Keller und wird sich wohl nicht wieder erholen.

Farmville ist ein von keiner Behörde reguliertes Kasinospiel mit geringer Rendite. Kasinospiele basieren auf kognitiven Reizen, denen sich zunächst niemand entziehen kann und gegen die manche Menschen niemals Resistenzen entwickeln. Wer zum ersten Mal ein paar Münzen in einen Geldspielautomaten steckt, verspürt höchstwahrscheinlich eine merkwürdige Anziehungskraft; ein paar verlorene Dollar oder Euro später kommt einem der Automat höchstwahrscheinlich stinklangweilig vor. Aber das geht nicht jedem so: Glücksspielsüchtige in fortgeschrittenem Stadium besorgen sich Windeln und Handschuhe, nehmen Hypotheken auf ihre Häuser auf, plündern das Sparschwein ihrer Kinder und versetzen den Ehering ihrer Mutter, nur um weiter pausenlos die Automaten füttern zu können.

Spielautomaten sind ausgesprochen rentabel. Die Branche lebt gut davon, die Schwäche einer winzigen Minderheit der Bevölkerung auszubeuten. Es gibt relativ wenige Spieler, aber diese stecken so viel Geld in die Automaten, dass es statistisch gesehen nichts ausmacht, wenn der Rest der Welt dem Lockruf des einarmigen Banditen gegenüber immun wird. Allerdings unterliegen Spielautomaten einer gewissen behördlichen Regulierung, was kognitive Anreize, Einsätze und Ausschüttungen angeht.

Dagegen sind Spielen wie Farmville bei der Wahl ihrer schmutzigen Tricks keine Grenzen gesetzt. Es handelt sich schließlich um ein „Computerspiel“ und kein „Glücksspiel“. Andererseits sind sie nicht besonders rentabel. Zynga mag zwar die ganze Bandbreite süchtig machender Mechanismen zum Einsatz bringen und damit erreichen, dass einige wenige Spieler Windeln tragen, um den Computer nicht verlassen zu müssen (oder zumindest dafür sorgen, dass immer eine leere Flasche in Reichweite steht), aber die überwältigende Mehrheit entwickelt früher oder später eine so dicke Hornhaut, dass man sie nicht mehr an den aufmerksamkeitserregenden Stellen kitzeln kann. Irgendwann wird Zynga die Entwickler, die es braucht, um neue menschliche Schwächen ausfindig zu machen und auszubeuten, nicht mehr bezahlen können, sodass die Spieler (sofern diesen nicht vorher das Geld ausgeht) entweder Resistenzen entwickeln, von attraktiveren Konkurrenten abgeworben werden oder zusammen mit der sterbenden Firma untergehen (ich würde Ihnen dringend empfehlen, Ihre Zynga-Aktien so schnell wie möglich abzustoßen).

Sobald eine neue Schwachstelle entdeckt wird, kann sich die Welt über Nacht verändern. Eine Zeit lang sharen, tweeten und posten wir alle fleißig Inhalte mit Überschriften wie „Dieses Video kann wehtun. Zum Glück erklärt es Ihnen auch, wieso“ oder „Die meisten Leute in diesem Video tun das Richtige, aber diese Typen am Ende? Ich möchte sie am liebsten anschreien“. So etwas hat am Anfang funktioniert, dann wurde es redundant und dümmlich, dann war es nur noch nervig. Jetzt kann man es bestenfalls als ironisch bezeichnen. Manche Leute fallen wohl immer noch auf „Die wohl inspirierendste, aber auch traurigste, lustigste, aber auch schrecklichste Abschlussrede aller Zeiten“ herein. Wir anderen jedoch haben uns angepasst, sodass solche Überschriften an uns abprallen wie Bakterien aus der Vor-Penizillin-Ära an unseren 21.-Jahrhundert-Immunsystemen.

Um unsere Aufmerksamkeit tobt ein Krieg, und wie in jedem Konflikt arbeiten beide Seiten an neuen Gegenmaßnahmen und neuen Taktiken gegen diese Gegenmaßnahmen. Der Jäger formt die Beute – die Beute formt den Jäger. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sehr sich diese Kunst seit Farmville weiterentwickelt hat, spielen Sie mal das kostenlose, von Frank Lantz entwickelte Browserspiel Universal Paperclips. Ihre Aufgabe besteht darin, durch geschicktes Timing, Ressourcenbeschaffung und -verteilung Büroklammern herzustellen, die Büroklammerherstellung zu verbessern und das Marketing zu perfektionieren, bis man irgendwann eine Künstliche Intelligenz entwickelt hat, die das gesamte Universum in Büroklammern verwandelt und dabei alles Leben auslöscht.

Gegen Universal Paperclips macht Farmville ungefähr so süchtig wie Mensch ärgere dich nicht. Buchstäblich vom ersten Klick an umgarnt Universal Paperclips Ihr limbisches System, sorgt für wohldosierte Dopamin-Schübe, und bevor Sie es sich versehen, hängen sie am Haken. Dieses Spiel fesselt einen nicht nur, es harpuniert einen richtiggehend. Ich habe einen halben Tag damit verbracht – doch dann war sein Zauber plötzlich verflogen. Ich hatte eine Hornhaut gebildet, sodass meine Schwachstellen gegen Lantz’ Machbarkeitsstudie gefeit waren.

Der Aufmerksamkeitskrieg hat Auswirkungen auf unseren Alltag. Fake News, Facebook-Werbung und Twitter-Bots sind nur Scharmützel in einer größeren Auseinandersetzung mit globalen, geopolitischen und möglicherweise auch thermonuklearen Auswirkungen. Heute wird Aufmerksamkeit als Waffe benutzt, morgen sind es die sogenannten Ghost Ads, also genau auf den Konsumenten zugeschnittene Werbebotschaften. Cambridge Analytica, jene auf Manipulation und Beeinflussung spezialisierte Firma, zu deren Hauptinvestoren der Milliardär und Trump-Unterstützer Robert Mercer zählt, behauptet, dass sie durch individuelle Werbung sowohl den Brexit als auch die Wahl Trumps zum Präsidenten ermöglicht hätte. Die meisten Menschen nehmen das für bare Münze.

Cambridge Analytica regt mich weniger auf als die meisten meiner Freunde. Zum einen, weil ich Werbebotschaften generell mit einer gesunden Portion Skepsis gegenüberstehe. Wenn Robert Mercer – der Geld dafür bekommt, große Bevölkerungsteile zu manipulieren – ohne Belege behauptet, dass ein gewaltiger öffentlicher Meinungsumschwung auf sein Produkt zurückzuführen sei, dann ist das eine Werbebotschaft. Die Aussage mag vielleicht stimmen, sie ist aber etwa so wertneutral wie Werbung für Axe-Deodorant.

Und selbst wenn Mercers Behauptung stimmt, wissen wir nicht, wie lange das noch so sein wird. Cambridge Analytica hat einen wunden Punkt getroffen und unsere Aufmerksamkeit erregt, aber warum sollte dieses Phänomen länger anhalten als Farmville? Wahrscheinlich bleibt ein harter Kern an Wählern übrig, die auf Mercer und seine Manipulationsstrategien hereinfallen, doch mit einem harten Kern gewinnt man keine Wahlen. Mercers Entwicklungsabteilung ist mit Sicherheit gerade dabei, sich schärfere Spitzen für ihre Aufmerksamkeitsharpunen auszudenken, mit denen man auch die Hornhaut durchbohren kann, die uns gerade wächst. Und wenn nicht sie, dann jemand anderes, denn demjenigen, der – für wie kurz auch immer – unsere Aufmerksamkeit erregt, winkt eine hübsche Stange Geld.

Aber die Geschichte ist voll mit scheinbar unbesiegbaren Aufmerksamkeitskriegern, die mit der Evolution ihrer Beute nicht mithalten konnten und an den Gegenmaßnahmen gescheitert sind, die sich als Folge wiederholter Konfrontation mit einst unbezwingbaren Strategien gebildet haben. Ich will hier nicht der Apathie das Wort reden, sondern ein paar Dinge relativieren. Selbstverständlich wird es auch nach Robert Mercer noch niederträchtige Milliardäre geben, die Gänse davon überzeugen wollen, für Weihnachten zu stimmen, und ich habe keine Ahnung, mit welchen Strategien sie als nächstes versuchen werden, unsere Verteidigungsmechanismen zu durchbrechen. Aber ich weiß, dass es diese Mechanismen geben wird – und dass die Superwaffe von heute die Steinaxt von morgen sein wird.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Sein Roman „Walkaway“ ist im Shop erhältlich. Zuletzt erschien bei Heyne seine Novelle „Wie man einen Toaster überlistet“ (im Shop).

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.