14. Februar 2022 1 Likes

Dequalifizierung und Demokratisierung

Science-Fiction ist die Literatur der Maschinenstürmer

Lesezeit: 5 min.

Von 1811 bis 1816 war in England eine Geheimgesellschaft aktiv, deren Mitglieder sich als „Ludditen“ bezeichneten und die Maschinen in englischen Textilfabriken zerstörten. Heute wird der Begriff Luddit meist in abfälliger Weise für Anhänger rückständiger, technologiefeindlicher und reaktionärer Ansichten gebraucht. Was wieder einmal beweist, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird.

Denn tatsächlich ging es den Ludditen nicht um die Vernichtung moderner Technologie – genauso wenig wie die Boston Tea Party dem Teekonsum oder Al-Quaida dem internationalen Flugverkehr ein Ende setzen wollten. Die Sabotage der Webereien und Spinnereien war die Strategie, aber nicht das Ziel der Ludditen. Sie stellten nicht die Technologie an sich infrage, sondern ihre sozialen Auswirkungen. Und darin ist der Luddismus der Science-Fiction nicht unähnlich.

Luddismus und Science-Fiction beschäftigen sich mit denselben Fragen: Es geht nicht darum, was eine bestimmte Technologie bewirkt, sondern wer davon profitiert und wer von ihren Auswirkungen betroffen ist. Die Ludditen waren Textilarbeiter, hochspezialisierte Fachkräfte, die von dem durch die Produkte ihrer Arbeitskraft erwirtschafteten Geld gut leben konnten. Um Stoffe herzustellen, war eine Menge Arbeitskraft nötig, deshalb waren Textilien unglaublich teuer. Dies änderte sich schlagartig mit der maschinellen Textilherstellung. Zum einen konnte man mit derselben Arbeitskraft wesentlich mehr Stoff produzieren, zum anderen entstand eine bisher ungekannte Nachfrage nach Wolle (was zur Massenenteignung der Kleinbauern führte, um Platz für die Schafherden zu machen) sowie Baumwolle (was eine massive Zunahme des internationalen Sklavenhandels zur Folge hatte).

Die Massenproduktion führte natürlich auch dazu, dass Textilien billiger und oft qualitativ hochwertiger wurden. Der Zugang zu Bekleidung war nicht länger ein Luxus der Oberschicht, sondern wurde zunehmend auch für die Arbeiterklasse zur Selbstverständlichkeit.

Diese ganze Geschichte klingt wie Science-Fiction pur: Jemand erfindet ein paar Maschinen, woraufhin sich die ganze Welt verändert. Die komplette materielle Kultur eines Landes macht eine tiefgreifende Veränderung durch, was zu Guerillataktiken wie der Zerstörung von Maschinen und Fabriken führt. Schließlich werden die Widerständler gefangengenommen und öffentlich hingerichtet. Das Blut fließt in Strömen.

Dabei hatten die Ludditen gar nichts gegen Serienproduktion und die massenhafte Verbreitung billiger Textilien. Über ihre Haltung zur Not der Kleinbauern im eigenen oder der der Sklaven in fremden Ländern ist so gut wie nichts überliefert. Aber wofür kämpften sie dann? Sie kämpften um ihr Mitbestimmungsrecht bei den sozialen Veränderungen, die die neuen Maschinen mit sich brachten. Die Maschinen hätten es den bisher in der Textilindustrie Beschäftigten theoretisch ermöglicht, viel schneller als bisher viel mehr Stoff herzustellen, ohne Lohnkürzungen in Kauf nehmen zu müssen (der niedrigere Verkaufspreis wird durch die kürzere Produktionszeit und die höhere Produktionsmenge kompensiert). Aber praktisch stellten die Fabrikeigentümer – deren Vermögen auf der Leistung der Textilarbeiter gründete – einfach weniger Arbeiter ein, ließen diese für einen geringeren Lohn genauso lang arbeiten wie zuvor und steckten das eingesparte Geld in die eigene Tasche.

Das ist weiß Gott keine natürliche Konsequenz. Hätte ein Marsbewohner die Industrielle Revolution durch ein Teleskop verfolgt, er hätte unmöglich erklären können, warum die Fabrikbesitzer weitaus stärker von den durch die Maschinen erzielten Gewinnen profitierten als die Fabrikarbeiter.

Die Ludditen taten dasselbe wie jeder Science-Fiction-Autor auch: Sie stellten sich verschiedene Arten vor, auf die man eine bestimmte Technologie zur Anwendung bringen kann – wem sie nutzen könnte, wem sie schaden könnte. Sie forderten sozusagen die Schaffung eines Paralleluniversums, in dem die Menschheit an diesem historischen Scheideweg den linken statt den rechten Pfad einschlägt. Egal, was man von einer solchen Forderung halten mag – als technophob kann man sie wohl kaum bezeichnen.

Heute befinden wir uns an einem ähnlichen Scheideweg wie die Ludditen. Viele Menschen stellen die sozialen Auswirkungen unserer Technologien zunehmend infrage: Ist es wirklich sinnvoll, weiterhin Agrarkonzerne zu subventionieren? Müssen unsere Städte auch in Zukunft um den Autoverkehr herum gebaut werden? Sollten wir die großen Technologiekonzerne daran hindern, kleinere Mitbewerber oder sich gegenseitig zu schlucken, damit das Internet nicht nur, um Tom Eastman zu zitieren, „aus fünf Webseiten besteht, auf denen Screenshots der anderen vier zu sehen sind“? Der Widerstand gegen die gegenwärtigen Zustände findet auf der Straße, an der Wahlurne, aber auch in Vorstandsetagen und bei so bedeutenden Treffen wie der UN-Klimakonferenz in Glasgow statt. Frei nach William Gibson könnte man sagen: Die Straße beharrt auf ihrem Recht, bestimmte Dinge nach ihren eigenen Vorstellungen zu benutzen.

Der Luddismus ist der Schlüssel zur Lösung einiger unserer drängendsten sozialen und technologischen Fragen. Die Wirtschaftswissenschaft beispielsweise hat die Automatisierung lange Zeit als einen Faktor der Dequalifikation bezeichnet, also der Reduktion fachmännischer Tätigkeiten auf einfache Handgriffe, wodurch der Arbeitgeber weniger Fachkräfte einstellen muss, was deren Position empfindlich schwächt. Allerdings muss Automatisierung nicht automatisch zu Machtverlust führen. Dank automatisierter Prozesse wie etwa der CNC-Steuerung ist maschinelle Feinbearbeitung auch jemandem ohne entsprechende Ausbildung oder Unterstützung durch eine Fachkraft möglich. Die Demokratisierung der Produktionsmittel muss nicht unbedingt ein Nachteil für den Arbeiter sein; sie wird es erst, wenn die durch die Automatisierung erzielten Profite nicht den Arbeitern, sondern dem kleinen Kreis von Kapitaleignern zugutekommen.

In der Science-Fiction gibt es jede Menge Geschichten über Menschen, die sich Produktionsmittel aneignen. Beim klassischen Problemlösungsthema der Science-Fiction – der Protagonist muss herausfinden, wie man eine Maschine oder System auf eine Weise einsetzt, die nicht dem vorgesehenen Zweck entspricht – geht es im Prinzip um technologische Selbstermächtigung: Die Person, die die Maschine benutzt, spielt die Hauptrolle – nicht die, die sie entwickelt oder gekauft hat.

Eine solche Philosophie findet man nicht erst im Cyberpunk: Wenn eine Figur wie Kip Russell in Robert A. Heinleins „Raumjäger“ seine Freunde auf der Mondoberfläche mit Klebeband und Einfallsreichtum rettet, ist es eine Frage von Leben und Tod, den sozialen Kontext der Technologe, von der sie abhängig ist, zu ändern. Kip Russell ist Luddit, da er der Überzeugung ist, dass sein eigenes Wohlergehen mehr zählt als die Absichten und Entscheidungen der Firma, die seinen Raumanzug hergestellt hat. Der Unterschied zwischen Dequalifizierung und Demokratisierung lässt sich nicht an dem Zweck eines Produkts ablesen – der springende Punkt ist, wem es dient und wem es schadet. Es gehört zum Handwerkszeug der Science-Fiction, sich alternative Beziehungen zwischen diesen Faktoren vorzustellen.

Die Ludditen waren übrigens ebenfalls ziemlich fantasiebegabt: Sie leiteten ihren Namen von einem gewissen König Ludd ab. Dieser wird gelegentlich als mythologischer Riese dargestellt, der drohend über den Fabriken aufragt, die zum Ziel der Zerstörungswut wurden.

Eine Geheimgesellschaft, die das Verhältnis von Mensch und Technik neu ordnen will und von einem mythologischen Riesen angeführt wird? Das ist doch ein Science-Fiction/Fantasy-Crossover der guten alten Schule – und allerfeinstes Bestsellermaterial, wenn Sie mich fragen!

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Seine Romane sind im Shop erhältlich.

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