8. Juni 2020 4 Likes

Wer entscheidet?

Über die Vor- und Nachteile selbstfahrender Autos

Lesezeit: 3 min.

Tristan da Cunha ist die abgelegenste bewohnte Insel der Welt, eine von nur 297 Menschen bevölkerte Spitze eines unterseeischen Vulkans, mehr als 2800 Kilometer von der südafrikanischen Küste entfernt. Auf Tristan da Cunha, das überhaupt nur durch eine sechstägige Schiffsreise erreichbar ist, sucht man Flughäfen, Hotels oder Bars vergebens. Und doch hat man auf der Insel Internet. Es gibt also praktisch keinen Ort auf der Welt, an dem man der Technologie entkommen kann.

Schriftstellern wie mir, die spekulativ über Technik schreiben, sind nur durch ihre Vorstellungskraft Grenzen gesetzt. Und das ist das Faszinierende daran: das unendliche Potenzial.

Über selbstfahrende Autos allerdings müssen wir nicht länger groß spekulieren, denn sie werden kommen – so oder so, ob uns das nun gefällt oder nicht. Irgendwann innerhalb der nächsten zehn Jahre werden wir auf den Fahrersitzen unserer Autos Platz nehmen und weder Lenkrad noch Gas- oder Bremspedal vor uns haben. Wir werden einem Betriebssystem ausgeliefert sein, das wir nicht berühren oder sehen können, das aber für uns Entscheidungen über Leben und Tod trifft. Was, wenn diese künstliche Intelligenz beeinflussbar ist? Was, wenn sie gehackt wird? Was, wenn etwas – oder jemand – anderes als das Betriebssystem über unser Wohl und Wehe entscheidet?

Genau darum geht es in meinem Roman „The Passengers“. Eines Morgens werden acht Personen in ihren selbstfahrenden Autos eingeschlossen und darüber in Kenntnis gesetzt, dass ihnen nur noch zweieinhalb Stunden bleiben, bevor ihre Fahrzeuge mit großer Geschwindigkeit zusammenstoßen. Nur einer wird überleben. Wer der oder die Glückliche ist, wird von einer sorgfältig ausgesuchten Jury bestimmt – und von denjenigen, die weltweit über die sozialen Medien zuschauen.

Wenn es um autonome Fahrzeuge geht, ist Deutschland weltweit Spitzenreiter. Es war 2016 das erste Land überhaupt, das Fahrzeuge mit hoch- und vollautomatisierter Funktion auf den Straßen erlaubte. Im darauffolgenden Jahr wurde durch eine Änderung der Straßenverkehrsordnung geregelt, dass der Fahrer die Kontrolle unter bestimmten Umständen an automatisierte Systeme abgeben darf. 2019 wurde im Berliner Raum ein Versuch mit selbstfahrenden Bussen gestartet. Bis 2040 könnten bereits 12,4 Millionen autonome Privatfahrzeuge und noch einmal 2,4 Millionen autonome Taxis auf deutschen Straßen unterwegs sein. Bis 2030, so die Prognose, könnte der Markt für autonome Fahrzeuge in Deutschland ein Volumen von unglaublichen 28 Milliarden Dollar erreichen.

Die Idee für „The Passengers“ kam mir bei einem Gespräch mit meinem Lektor über diese Technologie – und darüber, dass diese Art der Fortbewegung noch zu unseren Lebzeiten alltäglich sein wird. Busse, Züge, Taxis, Autos, Motorräder – all diese Fahrzeuge werden uns ohne unser Zutun durch die Gegend kutschieren. Eine faszinierende Vorstellung, die gleichzeitig viele Fragen aufwirft. Wer entscheidet, wer bei einem potenziell tödlichen Unfall lebt oder stirbt? Ist mein Auto, das ja kein moralisches Bezugssystem und kein menschliches Einfühlungsvermögen besitzt, überhaupt zu so einer Entscheidung fähig? Und wenn man jeden Computer hacken kann – gilt das dann nicht auch für mein Auto?

Besagte Passagiere in meinem Buch sind acht zufällig ausgewählte Personen, wie sie verschiedener nicht sein könnten: ein gealtertes Starlet, eine schwangere junge Lehrerin, ein lebensmüder Mann, ein Ehepaar, eine Immigrantin, ein Kriegsveteran und eine Asylbewerberin. Sie alle müssen vor der Jury und in den sozialen Medien eine gute Figur machen und uns auf ihre Seite ziehen. Aber nach und nach wird klar, dass diese Passagiere nicht zufällig ausgewählt wurden. Sie alle haben Geheimnisse, die, sollten sie ans Licht kommen, über Leben und Tod entscheiden könnten.

In „The Passengers“ geht es um die Verrohung durch die sozialen Medien, Rassismus, Sexismus, ethnische Säuberungen, den technischen Fortschritt und die zunehmende Korrumpierbarkeit der Regierungen. Meine Testleser haben das Buch als eine Mischung aus Speed, Die Tribute von Panem und Running Man beschrieben. Vergleiche, mit denen ich sehr gut leben kann.

 

John Marrs arbeitete über zwanzig Jahre als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Mit seinem Roman „The One“ (im Shop) gelang ihm der Durchbruch als Schriftsteller. Eine Verfilmung des Buches durch Netflix ist in Vorbereitung. John Marrs lebt und arbeitet in London. Sein neuer Roman „The Passengers“ (im Shop) erscheint am 9. Juni auf Deutsch.

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