26. Oktober 2020 1 Likes

„Die Schönheit der Wissenschaft“

In seinem Vorwort zu „Quantenträume“ zeigt Cixin Liu die enge Verbindung der Science-Fiction zur chinesischen Gegenwart auf

Lesezeit: 4 min.

Science-Fiction ist als jüngeres literarisches Genre nichts anderes als Literatur, doch was sie so besonders macht, ist ihr Zusammenspiel mit der Wissenschaft.

Hao Jingfang, Qiufan Chen, Wang Jinkang u.a.: QuantenträumeZunächst malt sich Science-Fiction ihre fantastischen Welten auf der Grundlage der Wissenschaft aus. Anders als in der traditionellen Literatur, die vor allem von zwischenmenschlichen Beziehungen handelt oder von der Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft, ist ihr Thema das Verhältnis zwischen Mensch und Natur beziehungsweise zwischen Mensch, Wissenschaft und Technik. Wissenschaft und Technik besitzen eine profunde, sehr eigene Ästhetik, eine Schönheit, die Science-Fiction mit den Mitteln der Sprache zur Geltung bringt. Durch diese literarische Anverwandlung der Schönheit der Wissenschaften gelingt es ihr, die Leserschaft, vor allem jugendliche Leser, so zu faszinieren, dass sie ihr Interesse an Naturwissenschaften weckt, ihre Fantasie beflügelt, ihren Horizont erweitert und sie, erfüllt von Forschergeist, neugierig und begierig auf die Weiten des Universums macht. Mit einer ausgeprägten Kreativität erschließt Science-Fiction uns die Möglichkeiten zukünftiger und unbekannter Welten, die häufig auch andere kreative Bereiche auf ungeahnte Weise inspirieren und ihnen dienlich sind.

Vom literarischen Blickwinkel aus betrachtet, übersteigt Science-Fiction alles, was man als gegeben annimmt, sie schießt kühn und ungezügelt über die Realität hinaus. Doch dann wiederum ist fantastische Literatur tatsächlich sehr nah an der Wirklichkeit, denn zahlreiche Themen, die uns darin begegnen, wie zum Beispiel der gesellschaftliche Wandel durch wissenschaftlichen Fortschritt, Umweltzerstörung, Erforschung des Weltraums, künstliche Intelligenz oder die Erschließung neuer Energiequellen, sind von zentraler Relevanz für die Wirklichkeit. Wenn man sagt, dass die herkömmliche, wirklichkeitsnahe Literatur die Welt so beschreibt, wie sie ist, dann beschreibt Science-Fiction eine Wirklichkeit, der wir uns in Zukunft gegenübersehen könnten – was sie nicht weniger bedeutsam macht. Beide Arten von Literatur beruhen auf denselben Prinzipien.

Auch ein Science-Fiction-Autor muss tief in das reale Leben eintauchen, denn nur wer ein grundlegendes Verständnis für die Fragen der modernen Gesellschaft entwickelt hat, vermag auch eine literarisch und gedanklich anspruchsvolle Fantasiewelt zu konstruieren. Nur wer ganz in der Gegenwart verankert ist, ist in der Lage, sich die Zukunft auszumalen; nur wer mit beiden Beinen fest auf der Erde steht, vermag in die Tiefen des Weltraums zu blicken. In China steht Science-Fiction in einem engen Zusammenhang mit dem Entwicklungs- und Modernisierungsprozess der Landes. Der rapide Wandel der chinesischen Gesellschaft mit all seinen Chancen und Risiken bringt die Menschen des Landes zunehmend in Kontakt mit unterschiedlichen Kulturen und Dingen, die ihnen bislang fremd waren. Die Zukunft Chinas ließ die Bevölkerung noch nie so sehr an die Zukunft glauben wie heute. Aus diesem Grund fällt Science-Fiction hier zum einen auf besonders fruchtbaren Boden, zum anderen ist deshalb die Nachfrage nach diesem Genre besonders hoch. Für das Schreiben von Science-Fiction-Literatur ist es unabdingbar, am Puls der Zeit zu sein und Trends zu erkennen.

Science-Fiction ist eine Form der Populärliteratur. Die Zahl ihrer Fans ist insbesondere unter jüngeren Lesern in den vergangenen Jahren stark angewachsen, aber auch unter vielen, die im Bereich der Informatik oder in der Raumfahrtindustrie arbeiten. Der literarische Stil dieses Genres ist in der Regel eher massentauglich. Es kommt dabei mehr auf die Inhalte als auf die Form an – es ist wichtiger, was gesagt wird, als wie es gesagt wird. Ich würde sagen, dass sich Science-Fiction nur dann weiterentwickeln kann, wenn sie Populärliteratur bleibt. Gegenwärtig vollzieht die internationale Science-Fiction einen grundlegenden Wandel, es bestehen enorme Unterschiede zwischen den jeweiligen Blickwinkeln, den zentralen Themen und Orten, mit denen sich die Autoren beschäftigen. Auch die chinesische Science-Fiction sollte eine größere Sensibilität für zeitgenössische Themen entwickeln, eine Vielfalt an literarischen Stilen fördern und dabei eine eigenständige chinesische Perspektive in diesem Genre etablieren.

Im Bereich der Literatur nimmt Science-Fiction eine herausragende Stellung ein. Der in China weit verbreitete literarische Realismus, der sich mit den vielen Facetten chinesischer Kultur befasst, hat uns zwar zahlreiche hervorragende Reflexionen zur modernen chinesischen Gesellschaft und Geschichte beschert, doch insgesamt gesehen bleibt die herkömmliche Literatur in dem verhaftet, was ist und war. Der Aufstieg Chinas in den vergangenen Jahrzehnten verlangt aber nach einer zukunftsorientierten Literatur, also nach Science-Fiction. Durch den rasanten Modernisierungsprozess des Landes haben eine gewisse traditionelle Verschlossenheit der Bevölkerung und der Hang zu Wirklichkeitsnähe einen grundlegenden Wandel erfahren, vor allem unter jungen Leuten herrscht wachsendes Interesse an Zukunftsthemen, und von diesem Wandel des Denkens zeugt auch die chinesische Science-Fiction.

Unter allen literarischen Genres legt sie den chinesischen Blick auf die Zukunft am deutlichsten frei und zeugt von unserer Sehnsucht nach den Weiten des Weltalls und dem sich täglich erweiternden Horizont der modernen Gesellschaft. Nicht zuletzt ist die chinesische Science-Fiction ein lebendiger Spiegel für den wachsenden Beitrag Chinas zur menschlichen Zivilisation.

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

 

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Hao Jingfang, Qiufan Chen, Han Song u.a.: „Quantenträume – Erzählungen aus China über Künstliche Intelligenz“· Herausgegeben von Renmin Wenxue – Volksliteratur und Jing Bartz · Aus dem Chinesischen von Marc Hermann, Karin Betz, Johannes Fiederling, Eva Lüdi Kong, Michael Kahn-Ackermann · Originalausgabe · Wilhelm Heyne Verlag · 512 Seiten · E-Book: 12,99 Euro (im Shop)

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