10. Januar 2023

„Terra Nova“ – die Leseprobe

Ein Blick in Marion Herzogs Fortsetzung zu „Algorytmica“

Lesezeit: 10 min.

Mit ihrem dystopischen Roman „Algorytmica“ hat Marion Herzog einen düsteren Blick auf die Zukunft der Menschheit vorgelegt. Jetzt führt sie mit „Terra Nova“ (im Shop) die Geschichte um Kaja und die Dark Surfer zu ihrem Höhepunkt.

Marion Herzog: Terra NovaKurz nachdem sie aus der unterirdischen Bunkeranlage Hope of Tomorrow entkommen sind, stellen Kaja und ihre Mitstreiter fest, dass sie vom Ältestenrat belogen wurden: Es gab immer Menschen an der Erdoberfläche. In riesigen Siedlungsanlagen leben die Bewohner in Wohlstand und Sicherheit. Doch wie die Archianer bezahlen auch sie einen hohen Preis dafür. Kaja ist innerlich zerrissen, denn einerseits möchte sie für die gerechte Sache kämpfen, und andererseits will sie unbedingt Liam retten. Denn ihre große Liebe sitzt noch immer in der Hope im Gefängnis …
 

*

Kaja rannte durch den langen, engen Stollen. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie zu spät zum Treffpunkt kommen. Sie war müde und bekam nur schwer Luft. Ihre Lunge kämpfte wie der Rest ihres Körpers immer noch mit der Anpassung an das Leben hier oben. Trotzdem versuchte sie, schneller zu laufen. Morgen würden ihre Muskeln von der Anstrengung schmerzen, aber hier und jetzt erfüllten sie zuverlässig ihren Dienst. Selbst nach sechs Monaten in Freiheit war sie fasziniert, wie schnell ihr Körper gelernt hatte, genau das zu tun, wofür er gemacht war. Das Muskelgedächtnis funktionierte, ohne auch nur eine Erinnerung an Bewegung, auf die es hätte zugreifen können. Der Preis aber waren schlimme Muskelkater und unzählige blaue Flecken vom ständigen Stolpern und Hinfallen. Doch sie lebte, sie konnte tatsächlich essen und trinken, hören, riechen und sehen, sie konnte schlafen und träumen, in einer realen Welt. Der neue Rhythmus von Tag und Nacht war vermutlich die größte Umstellung gewesen. Ihr analoger Körper brauchte deutlich mehr Ruhephasen als der Avatar im Holovit der Hope of Tomorrow. Acht bis zehn Stunden musste sie täglich schlafen, um etwa die gleiche Zeit wach verbringen zu können. Im Holovit hatte eine Stunde Charching für etwa vierzig Stunden Aktivitätsphase ausgereicht. Die ersten realen Tage hatte Kaja beinahe panisch auf diese biologischen Blackouts ihres Körpers reagiert. Schweißgebadet war sie mitten in der Nacht aufgewacht. Träume, die sie nicht kontrollieren konnte, hatten sie immer wieder zurück in die Arche gebracht. Meist waren es Erinnerungen aus ihrer Kindheit, an ihre Eltern, Agnes und Björn Andersson, und an ihre Freundin Lora, die ihr Unterbewusstsein nach oben gespült hatte. Oft aber brachte der Schlaf auch Bilder einer vermeintlichen Gegenwart: Lora, die im Parentes Paradisum auf Rache sann, ihre Mutter, die vor Kummer und Enttäuschung verrückt geworden war, wie Marie Bonnet in einem früheren Leben. Es gab keine ELSA mehr in ihrem Kopf, die solche Visionen hätte verhindern können, keine Shots, die ihre Angst eindämmten. Dafür aber gab es Liam, dessen warme Arme um ihren Körper eine völlig andere Wirkung hatten.

Liam. Ihr schlechtes Gewissen hätte sie um ein Haar umkehren lassen. Wenn Liam wüsste, wohin sie unterwegs war und wen sie hier mitten in der Nacht treffen würde, dann wären seine Umarmungen erst mal Vergangenheit. Hoffentlich würde er nicht aufwachen und ihre Abwesenheit bemerken. Sollte sie vielleicht doch lieber umkehren? Aber es stand zu viel auf dem Spiel. Die Gefahr, in der sie sich befanden, in die sie sich erneut begeben würden, war zu groß. Dafür Liams Zorn auf sich zu ziehen war ein Risiko, das sie bewusst einging. Für einen Moment war sie dermaßen in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht mehr auf die vielen verzweigten Biegungen und Gänge geachtet hatte. Erschrocken hielt sie an und sah sich um. In der Dunkelheit war es noch schwieriger als sonst, sich in dem Tunnelsystem der Outlaws zurechtzufinden. Wie konnten sich diese Menschen ohne eine ELSA hier unten orientieren?

Kaja bezweifelte, dass es ihr in diesem Leben noch gelingen würde, sich den Irrgarten aus Stollen und Gängen einzuprägen. In regelmäßigen Abständen verirrte sie sich und musste dann peinlich berührt darauf warten, dass irgendjemand sie fand und ihr den Weg zu einem der Meetingpoints zeigte. Die meisten Outlaws waren den Neuen, wie man die Archianer selbst ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft immer noch nannte, freundlich und hilfsbereit gesinnt. Aber es gab auch Menschen, die weniger erfreut über ihre Ankunft und die Konsequenzen daraus gewesen waren. Die Ereignisse der jüngsten Zeit hatten die Fronten zusätzlich verhärtet. Nicht jeder in diesem Stollen wollte eine verloren gegangene Archianerin wohlbehalten nach Hause bringen. Und selbst der besondere Schutz, unter dem Kaja und ihre Freunde standen, würde ihr dann nicht mehr helfen.

Sie konnte ihr Herz rasen hören, während sie sich ratlos um die eigene Achse drehte. Links, rechts, wieder links? Oder war sie an der Abbiegung, die zum Ostteil der Anlage führte, schon vorbeigelaufen? Sollte sie nochmals ein paar Minuten in die Richtung laufen, aus der sie gerade gekommen war? Dann würde sie aber in jedem Fall zu spät kommen. Es konnte nicht mehr weit sein. Unsicher machte sie ein paar Schritte in den nächsten dunklen Tunnel hinein. Winzige Dioden leuchteten auf dem Boden und verhinderten gerade so, dass man gegen eine Wand rannte, mehr aber auch nicht. Eine kleine Taschenlampe hatte Kaja für den Notfall eingesteckt, doch bis jetzt hatte sie es nicht gewagt, sie zu benutzen. Sie würde dann zwar besser sehen, aber auch gesehen werden, und mit dieser Kostbarkeit durfte sie sich auf keinen Fall erwischen lassen. Es war streng verboten, nachts in den Stollen unterwegs zu sein. Ebenso verboten war es, sich eigenmächtig aus dem Techniklager zu bedienen. Zum wiederholten Male fragte sie sich, warum sie sich auf dieses Treffen eingelassen hatte.

»Kaja«, zischte plötzlich eine leise Stimme aus der Dunkelheit. »Kaja, ich bin hier.«

Eine warme Hand legte sich fest um ihren Oberarm und zog sie aus dem Tunnel, den sie eben betreten hatte. »Kannst du mir bitte sagen, wo um Himmels willen du hinwillst?«

Kaja spürte, wie sie rot anlief. Ein Vorteil der ewigen Dunkelheit: Ihr Körper konnte sie nicht so einfach verraten.

»Ich …« Sie hatte keine Antwort auf seine Frage, es lag klar auf der Hand, dass sie wieder einmal kurz davor gewesen war, sich heillos zu verlaufen. Im Zwielicht konnte sie Nathaniels weiße Zähne sehen, der Schalk blitzte in seinen Augen. Trotz der hundert Regeln, die sie gerade brachen, schien er sich köstlich zu amüsieren.

»Wir dürften gar nicht hier sein«, fuhr sie ihn erbost an. Er grinste unverändert weiter. »Und doch sind wir es.«

»Weil du mich dazu überredet hast.«

»Überredet, nicht gezwungen. Du hättest nicht kommen müssen, Kaja, aber du bist hier.«

Den Triumph in seinem Gesicht konnte sie sogar in der Dunkelheit des Stollens erkennen. Für einen Moment wünschte sie, sie wäre nicht zu diesem Treffen erschienen, dann aber fiel ihr ein, warum sie sich hatte überreden lassen.

»Du hast gesagt, unser Leben hängt davon ab, dass ich dich heute hier treffe.«

»Und das hat dir vor mir noch kein Typ erzählt?« Sein Schmunzeln war nicht zu überhören.

»Nathaniel!«

»So nennt mich nur meine Mutter. Und nur, wenn ich was ausgefressen habe.«

»Na, dann hast du diesen Namen sicher öfter gehört, als die Sonne aufgegangen ist. Was willst du, Nate? Was ist so wichtig, dass du uns beide in Gefahr bringst?«

Plötzlich war seine Stimme ernst. »Ich würde dich nie in Gefahr bringen, Kaja, das schwöre ich. Ich würde mein Leben dafür geben, dich zu schützen … im Gegensatz zu anderen.«

»Nate, ich bitte dich, fang nicht wieder damit an. Liam würde mich niemals absichtlich in Gefahr bringen, das weißt du so gut wie ich.«

»Nein, das weiß ich nicht. Ganz im Gegenteil, Kaja. Was ich weiß, ist, dass euer Vorhaben reiner Selbstmord ist. Es wird niemals gut gehen. Ihr werdet alle sterben, und das bedeutet, früher oder später auch wir.«

»Nate …«

»Nein, Kaja, du verstehst nicht. Ihr habt die Armee der Citizens nicht gesehen, ihr wisst nicht, wozu sie in der Lage sind. Ich schon …« Für einen Moment war aller Schalk, aller Leichtsinn aus seiner Stimme verschwunden. Sein Gesicht wurde hart, der Griff an Kajas Arm fester.

»Nate, du tust mir weh.« Sofort ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.

»Wir sind hierhergekommen, um ein neues Leben zu beginnen, Kaja, ebenso wie ihr. Was ihr jetzt plant, zerstört jede Hoffnung auf eine Zukunft, für uns alle. Selbst wenn ihr davonkommt und es zurückschafft, was dann? Glaubt ihr tatsächlich, ihr habt eine Chance gegen die Townships und alle Archen zusammen?«

»Wir, wir zusammen haben eine Chance«, erwiderte sie mit fester Stimme.

Nate lachte nur höhnisch als Antwort. »Wir? Das ist doch nicht dein Ernst, Kaja, weißt du, was du redest? Das Wir von dem du sprichst, sind ein paar Tausend Menschen, verstreut über den Kontinent, die seit Jahren unter der Erde vegetieren. Sieh uns doch an. Wir haben kaum genug zu essen, keine Waffen, keine Technik. Wie sollen wir es mit den Soldaten eurer Präsidentin und den Truppen der Townships aufnehmen? Du weißt so gut wie ich, dass sie uns einfach abschlachten werden.«

»Nicht, wenn wir vorher die Archianer befreien.«

»Ha, die Archianer, dass ich nicht lache. Du bist eine Archianerin, Kaja, wie lange hast du gebraucht, um länger als dreißig Minuten auf den Beinen zu stehen, zu laufen, zu essen und zu trinken? Du bist heute noch blinder als ein Maulwurf, allein würdest du dich hier unten niemals zurechtfinden. Glaubst du wirklich, wir öffnen einfach die Tore, und die Zombies steigen aus ihren Särgen und eilen uns mit Waffen in den Händen zu Hilfe? Ich hätte dich für intelligenter gehalten.«

Kaja kaute auf ihrer Unterlippe. Sie wusste, dass Nate nicht unrecht hatte, sie wusste aber ebenfalls, dass sie wenige Möglichkeiten hatten, wenn sie am Leben bleiben wollten.

»Du hast die Soldaten der Townships gesehen, du hast geliebte Menschen an sie verloren, du weißt, wozu sie in der Lage sind und dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Und keine Alternative. Selbst deine Mutter hat sich für den Einbruch ausgesprochen«, antwortete sie zögernd.

»Meine Mutter würde sich für alles aussprechen, was Liam Turner vorhat«, antwortete Nate bitter. »Sie würde ihm sehenden Auges in den sicheren Tod folgen. Genau wie du.«

»Nate …« Kaja streckte den Arm nach ihm aus und berührte vorsichtig seine Schulter.

Er zuckte unter ihrer Hand zusammen, als hätte sie ihm einen Stromschlag versetzt.

»Ist es nicht so?«

Er lachte, doch diesmal fehlte jede Spur der üblichen Leichtigkeit, und Kajas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie schwieg und senkte den Kopf. Ihr Verhältnis zu Nathaniel hätte nicht komplizierter sein können. Sie wollte ihm mindestens ebenso häufig den Hals umdrehen, wie er sie zum Lachen brachte. Sie würde ihn niemals in Gefahr bringen, aber würde sie ihr Leben für ihn geben? Sie hoffte, diese Frage niemals beantworten zu müssen. Liam aber … ihm würde sie in den Tod folgen, wieder und wieder.

»Kaja, ich habe kapiert, dass du ihn liebst. Wenn ich es auch nicht verstehe, denn der Typ ist ein arroganter Besserwisser, der dich nicht verdient hat. Trotzdem, sein Plan ist Wahnsinn, und er wird damit scheitern. Und du solltest für einen Moment deine Gefühle zur Seite schieben und an den Rest von uns denken. Wenn Kayne Cole den Weg nach Beartooth findet, sind wir verloren.«

Kaja verdrängte die Bilder, die Nates Worte in ihrem Kopf hervorriefen: Frauen, Kinder, alte Menschen, ein blutiges Massaker unter der Erde. »Wir werden nicht scheitern«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Wir werden es schaffen, Nate, vertrau mir, bitte.« Ihre Worte hatten einen wunden Punkt getroffen. Sie konnte spüren, wie er sie in der Dunkelheit beobachtete, und dass er mit seinen eigenen Gefühlen rang.

»Kaja, du weißt nicht, was du von mir verlangst.«

»Doch, das weiß ich. Nate, du sagst, du würdest mich nie in Gefahr bringen, du würdest dein Leben für mich geben. Dann beweis es mir.« Sie schluckte. Die Ungerechtigkeit dieses Schachzugs war ihr mehr als bewusst, aber sie hatte keine Wahl, sie brauchten Nate auf ihrer Seite. »Wenn du wirklich mein Freund bist, wenn du meinst, was du sagst, dann vertrau mir. Nicht Liam, sondern mir. Dann sei an meiner Seite und hilf mir, uns alle zu retten. Das ist es, was ich von dir verlange. Beweis mir, dass das alles nicht nur leere Worte sind. Vergiss Liam, tu es für mich!«

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte durch den leeren Tunnel davon. Weg von Nathaniel und der ausweglosen Situation, in die sie ihn gebracht hatte. Übelkeit stieg in ihr hoch, und sie konnte die Tränen der Scham nur mit Mühe unterdrücken. Sie hatte getan, was sie tun musste. Nun war es an Liam, dafür zu sorgen, dass ihr aller Einsatz nicht umsonst war. Er würde den Einbruch in die Townships verantworten, auf seinen Schultern lag die Verantwortung für alles, was jetzt geschehen würde.

*
 

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Marion Herzog: Terra Nova · Roman · Wilhelm Heyne Verlag · 432 Seiten · Paperback: 16,00 Euro (im Shop)

 

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