29. März 2019 1 Likes

„Inception“ meets „True Detective“

Eine zweite Leseprobe aus Thomas Carl Sweterlitschs neuem Roman „Am Ende der Zeit“

Lesezeit: 24 min.

Der New Yorker bezeichnete Thomas Carls Sweterlitschs Roman „Am Ende der Zeit“ (im Shop) als eine „… geniale Mischung aus Inception und True Detective“, und Bestsellerautor Blake Crouch pries ihn gar als „… einen der besten Romane der letzten Jahre.“ Allen Neugierigen stellen wir hier eine weitere Leseprobe des spektakulären Science-Fiction-Thrillers zur Verfügung.

 

ERSTER TEIL

1997

 

1

 

»Hallo?«

»Special Agent Shannon Moss?«

Die Stimme des Mannes war ihr fremd, nur die gedehnten Vokale erkannte sie. Er war hier in der Gegend aufgewachsen. In West Virginia oder Pennsylvania – auf dem Land.

»Am Apparat.«

»Es geht um einen Mordfall. Eine Familie.« Die Stimme bebte leicht. »Notruf beim Dienst von Washington County kurz nach Mitternacht. Ein Mädchen wird vermisst.«

Zwei Uhr morgens, die Nachricht wirkte wie ein Eisbad. Mit einem Schlag war sie hellwach. »Mit wem spreche ich?«

»Special Agent Philip Nestor, FBI.«

Sie schaltete die Nachttischlampe ein. Eine cremefarbene Tapete mit Ranken und kornblumenblauen Rosen bedeckte ihre Schlafzimmerwände. Ihr Blick folgte den Linien, als sie nachdachte. »Warum wenden Sie sich an mich?«

»Soviel ich weiß, hat unser Special Agent in Charge mit der Zentrale gesprochen und wurde von dort angewiesen, Sie einzuschalten «, antwortete Nestor. »Sie wollen Hilfe vom NCIS. Unser Hauptverdächtiger ist ein Navy-Soldat, ein SEAL.«

»Wo ist der Tatort?«

»In Canonsburg, die Straße heißt Cricketwood Court, in der Nähe vom Hunter’s Creek.«

»Hunting Creek.« Sie kannte den Bach und auch die Straße.

Ihre beste Freundin früher, Courtney Gimm, hatte am Cricketwood Court gelebt. Wie Eis, das durch die Wasseroberfläche bricht, tauchte Courtneys Gesicht aus Moss’ Gedächtnis nach oben. »Um wie viele Opfer handelt es sich?«

»Dreifachmord«, antwortete Nestor. »Ziemlich schlimm. Im ganzen Leben habe ich noch nie …« Er verstummte.

»Ganz langsam.«

»Ich habe mal Kinder gesehen, die vom Zug überrollt wurden, aber das ist kein Vergleich.«

»Verstehe. Die Meldung kam also um Mitternacht rein?«

»Kurz danach. Eine Nachbarin hat einen Tumult gehört und schließlich die Polizei gerufen …«

»Haben Sie jemanden hingeschickt, damit er mit ihr redet?«

»Einer von unseren Leuten ist gerade bei ihr.«

»Ich fahre gleich rüber«, versprach Moss. »Bin in einer guten Stunde da.«

Sie konzentrierte sich auf ihr Gleichgewicht, bevor sie sich erhob. Rechts hatte sie immer noch das sehnige, muskulöse Bein einer Athletin, doch das linke endete auf halber Schenkelhöhe in einem Stumpf, dessen Muskel- und Gewebeende umgeschlagen war wie bei einer gefalteten Pastete. Sie hatte das Bein vor mehreren Jahren verloren, nach ihrer Kreuzigung im tiefen Winter des Terminus. Die Navy-Chirurgen hatten den von Wundbrand befallenen Teil amputieren müssen. Schließlich stand sie wie ein langbeiniger Watvogel auf ihrem einen Fuß und balancierte auf Ballen und Zehen. Ihre Lofstrand-Krücken steckten wie immer in Reichweite in dem Spalt zwischen Bett und Nachttisch. Sie ließ die Unterarme durch die Manschetten gleiten und packte die Griffe, um sich einen Weg durch ihr Schlafzimmer zu bahnen, in dem wild verstreut Kleider und Zeitschriften, CDs und leere CD-Hüllen herumlagen – alles Rutschgefahren, vor denen ihr Ergotherapeut sie gewarnt hatte.

Cricketwood Court …

Bei dem Gedanken, dorthin zurückzukehren, überlief Moss ein Schauer. Sie und Courtney waren im ersten Jahr an der Highschool eng befreundet gewesen, enger als Schwestern, unzertrennlich. Moss’ Erinnerungen an Courtney waren eine Essenz schöner Kindheitssommer – endlose Tage am Pool, Achterbahnfahrten im Kennywood Park, geteilte Zigaretten am Chartiers Creek. Courtney war im zweiten Jahr gestorben, auf einem Parkplatz ermordet für ein paar Dollar in ihrer Handtasche.

Beim Anziehen Nachrichten am Schlafzimmerfernseher. Sie rieb sich den Stumpf mit schweißhemmendem Gel ein und rollte den Polyurethan-Liner bis zur Hüfte hinauf wie einen Nylonstrumpf. Sorgfältig glättete sie den gummiartigen Schlauch, damit sich an der Haut keine Luftblasen bildeten. Die Prothese war der Prototyp eines C-Legs von Ottobock – computergesteuert und ursprünglich für verletzte Soldaten konzipiert. Moss ließ den Schenkel in den Schaft gleiten und stand auf, damit sein Volumen die Luft aus der Carbonmanschette presste und für die Vakuumversiegelung sorgte. Mit dem C-Leg fühlte sie sich, als wäre ihr Skelett nackt: ein Stahlknochen statt einem Schienbein. Sie schlüpfte in ihre taillierte Wildlederjacke. Ein letzter Blick auf den Fernseher: die doppelte Dolly in ihrem strohbestreuten Pferch, Clinton, der das kürzlich unterzeichnete Klonverbot bei Menschen anpries, Werbung für NBA auf NBC, Jordan gegen Ewing.

 

Cricketwood Court war eine Sackgasse, und über den Reihenhäusern und Rasen flackerten Warnlichter. Viertel nach drei, inzwischen war den Nachbarn bestimmt klar, dass etwas passiert war, wenn sie auch noch nichts Genaueres wussten. Der Blick durch die Fenster zeigte ihnen eine Ansammlung von Einsatzfahrzeugen, Wagen vom Sheriff-Department, der örtlichen Polizei und Staatsbehörden, ein einziges Zuständigkeitswirrwarr, bis schließlich die Bundesbeamten eintrafen. Moss’ Fälle drehten sich meistens um Soldaten des Naval Space Command auf Urlaub aus den Tiefen, den Geheimmissionen in den Tiefenraum und die Tiefenzeit. Kneipenschlägereien, häusliche Gewalt, Drogenvergehen, Tötungsdelikte. Sie hatte an Fällen gearbeitet, in denen NSC-Soldaten durchgedreht waren und ihre Frauen oder Freundinnen totgeprügelt hatten – tragische Ereignisse als Folge der Begegnung mit den Schrecken des Terminus oder dem Licht fremder Sonnen. Sie fragte sich, was hier auf sie wartete. Das Auto des County-Rechtsmediziners parkte ganz in der Nähe. Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge tuckerten im Leerlauf. Das mobile Kriminallabor des FBI hatte über den Absatz zurückgestoßen auf den Rasen vor dem Haus ihrer alten Freundin.

»O Gott.«

Das Bild, das Moss seit der Kindheit treu geblieben war, überlagerte das reale Gebäude von heute – zwei gleichzeitig ablaufende Filme, eine Erinnerung und ein Tatort. Courtneys Familie war längst weggezogen, und Moss hätte nie gedacht, dass sie jemals wieder einen Fuß in das Heim ihrer Jugendfreundin setzen würde, ganz zu schweigen von diesen Umständen. Ein zweistöckiges Eckhaus am Ende einer Zeile, deren Einheiten aufgereiht waren wie Spiegelbilder, jeweils mit einer Auffahrt, einer winzigen Garage, einem einzelnen Licht über dem Eingang, die identischen Fassaden aus Ziegel mit weißem PVC-Belag. Als Heranwachsende hatte Moss hier mehr Zeit verbracht als zu Hause – zumindest kam es ihr so vor. Sogar die Telefonnummer der Gimms von damals hatte sie noch im Kopf. Sie hatte das Gefühl, eine Realität würde in die andere einsickern, ölig wie Eigelb, das durch eine zerbrochene Schale rann. Sie nahm einen Schluck Kaffee aus ihrer Thermoskanne und rieb sich die Augen, als müsste sie aufwachen und sich zu der Erkenntnis zwingen, dass dieses Zusammentreffen real war und sie nicht träumte. Ein Zufall, sagte sie sich. Der Hartriegel, der hier früher im Garten geblüht hatte, war abgeholzt worden.

Moss bremste ihren Pick-up vor einer Sheriff-Absperrung, und ein Deputy näherte sich ihrem Fenster. Er hatte einen altersbedingten Bauch und ein Chaplin-Bärtchen, dessen komische Wirkung von der müden Schwere in seinen Augen unterlaufen wurde. Mit Handzeichen versuchte er, sie zum Umdrehen zu bewegen, bis sie ihr Fenster herunterließ und ihm ihren Ausweis zeigte.

»Was ist das?«, fragte er.

»Naval Criminal Investigative Service.« Sie war es gewohnt, die Initialen ihrer Behörde zu erklären. »Special Agent. Wir gehen einem möglichen Zusammenhang zur Navy nach. Wie schlimm ist es?«

»Mein Kumpel war vorhin drinnen, und er meint, so was Schreckliches ist ihm noch nie untergekommen. Einfach nur schrecklich.« Sein Atem roch nach schalem Kaffee. »Anscheinend ist nicht viel übrig von ihnen.«

»Sind die Reporter schon da?«

»Bis jetzt noch nicht. Es heißt, mehrere Nachrichtenwagen aus Pittsburgh sind unterwegs. Bestimmt haben sie keine Ahnung, was sie hier erwartet. Ansonsten ist alles ruhig. Kommen Sie durch.«

Ein Polizeiband, das sich von einem Laternenpfahl bis zum schmiedeeisernen Geländer vor dem Eingang erstreckte, sperrte den Rasen und die Einfahrt ab. Vor der Garage drängten sich ein paar Forensiker zu einer Zigarettenpause. Ganz ohne den beiläufigen Chauvinismus und das unverhohlene Starren, denen sie manchmal an Tatorten ausgesetzt war, beobachteten sie, wie Moss sich näherte. Die Augen der Männer wirkten beklommen und schielten in Moss’ Richtung, als hätten sie Mitleid mit ihr wegen des Anblicks, der sie erwartete.

Die Tür war mit einer Plastikplane verhängt, und sobald sie hindurchgeschlüpft war, brandeten die erstickenden Gerüche von Blut, Fäulnis und Scheiße heran, vermischt mit den chemischen Dämpfen der Präparate und Lösungen, die die Forensiker benutzten. Die Aromen drangen in sie ein, und vom metallischen Hauch des Bluts bekam ihr Speichel sofort einen kupferigen Geschmack, als hätte sie Geldmünzen gelutscht. Im Flur wuselten Kriminaltechniker in Schutzkleidung herum, die Spuren sammelten und fotografierten. In den Momenten vor dem ersten Blick auf einen Tatort stieg in Moss immer eine nervöse Vorahnung auf, die erst, wenn sie um die Ecke kam und sah, womit sie es zu tun hatte, von ihr abfiel und verdrängt wurde von dem schmerzhaften Bedürfnis, die zerbrochenen Teile so schnell wie möglich wieder zusammenzusetzen.

Auf dem Boden lagen ein Junge und eine Frau, die Gesichter verwischt zu einem Brei aus Gehirn, Blut und Knochenfetzen. Der Junge in einer Flanellhose und einem Pulli als Schlafanzug – zehn oder elf Jahre alt, schätzte Moss. Das Nachthemd der Frau war blutverschmiert, die nackten Beine stellenweise pflaumenblau verfärbt. Beide hatten ihren Darm entleert, und der Boden war so durchweicht, dass die Scheiße und das Blut in den ungleichmäßigen Rillen des Teppichbodens stand. Kurz musste sie von dem Geruch würgen. Der Jauchegestank und die Gestaltlosigkeit entwürdigten den Jungen und seine Mutter, raubten ihnen die Menschlichkeit.

Schon lange beherrschte Moss die dissoziative Technik, Leichen durch andere Linsen zu betrachten als Lebende und die Verstümmelungen der Opfer möglichst von ihrer früheren Persönlichkeit zu trennen. Den Kollegen um sie herum galt weiter ihr menschliches Mitgefühl, die Toten hingegen inspizierte sie durch die Brille der Forensik. Auch diesmal verdinglichte Moss die Leichen. Die Frau war durch einen von zwei Schlägen auf die linke Kopfseite getötet worden; einer hatte das Jochbein und der andere das Scheitelbein getroffen. Ihre linke Pupille hatte sich zu einer großen, schwarzen Scheibe erweitert. Moss bemerkte, dass der Junge keine Fingernägel mehr hatte – sie waren alle entfernt worden. Auch die Zehennägel, wie es aussah. Sie überprüfte die Frau und stellte fest, dass ihre Nägel ebenfalls fehlten. Jemand – zweifellos ein Mann – hatte diese Menschen getötet und sich dann in das Blut gekauert, um ihnen die Nägel auszureißen. Oder hatte er es getan, bevor er sie umbrachte? Und wozu überhaupt? Ein Techniker zog Fäden von den Blutspritzern an der Decke und den Wänden und stellte allmählich ein Netz her, das einen Konvergenzbereich umriss. Anscheinend hatten die Opfer im Moment des tödlichen Hiebs gekniet: eine Hinrichtung. Die Einrichtung des Zimmers, in dem sie gestorben waren, war nichtssagend, geschmacklos – nicht zu vergleichen mit Moss’ Erinnerung an den gemütlichen Gemeinschaftsraum, den die Familie ihrer besten Freundin hier gehabt hatte. Jetzt gab es hier hellbeige Töne und Schienenbeleuchtung. Nichts an den Wänden, keine Kunstwerke, keine Fotos. Der Raum wirkte nicht bewohnt, sondern wie vorbereitet für den Weiterverkauf.

»Shannon Moss?«

Einer der Männer in Schutzkleidung hatte seine Arbeit unterbrochen. Die Augen waren blutunterlaufen, fast rot, die dunkle Haut aschfahl. Zwei Schmierstreifen VapoRub unter den Nasenlöchern.

»Special Agent, NCIS«, antwortete sie.

Er durchquerte das Wohnzimmer auf Edelstahlstufen, die die Ermittler als Trittsteine über das Blut verwendeten. Er kaute auf einem Kaugummi. »William Brock, Special Agent in Charge. Wir müssen uns unterhalten.«

Brock führte sie durch die enge Küche, in der sich ein paar weitere Männer versammelt hatten. Sie hatten ihre Schutzkleidung abgelegt, ihre Hemden und Krawatten waren nach stundenlanger Arbeit zerknittert, die Gesichter bleich und übernächtigt. Brock hingegen schien unermüdlich, angriffslustig wie ein Bulle, darauf fixiert, den Mörder zur Strecke zu bringen. Mürrisch, fast wütend schritt er voran, als hätte ihn das Geschehen hier persönlich beleidigt.

Er war ziemlich groß, und sein Bariton übertönte die gedämpften Stimmen der anderen. »Hier entlang, in das kleine Arbeitszimmer.« Er schob die leichte Falttür zu einem Nebenraum auf.

Der Rest des Hauses war im Lauf der Jahre auf seelenlose Weise modernisiert worden, bloß das Arbeitszimmer war anscheinend seit Moss’ letztem Besuch hier unverändert geblieben. Das war beunruhigend, als wäre die Zeit ringsherum weiter verstrichen und nur hier an diesem Fleck stehen geblieben. Die Verkleidung aus Kunstholz, ein protziger Leuchtkörper, der alles in Bernstein tauchte. Sogar der Furnierschreibtisch und die Aktenschränke aus Metall waren ähnlich, wenn nicht sogar die von damals. In einem dieser Schränke hatte Courtney einmal ein Bündel Briefe entdeckt, die sich ihre Eltern während ihrer Scheidung geschrieben hatten. Die Mädchen hatten sich auf die Eingangsterrasse gesetzt und einander alles laut vorgelesen. Moss war verblüfft gewesen, wie kindisch ernst die Briefe eines erwachsenen Mannes an seine Frau klingen konnten, nicht anders als die Trennungsschreiben Jugendlicher an der Highschool. Nichts änderte sich. Das menschliche Herz alterte nicht.

»Gibt es Bilder der Opfer?«, fragte Moss. »Was Neues vielleicht? Man kann überhaupt nicht erkennen, wie sie ausgesehen haben.«

»Wir haben ein paar Alben«, antwortete Brock. »Fotomat-Belege und Negative. Damit können wir uns befassen, sobald die Sachen entwickelt sind. Waren Sie schon überall? Auch oben?«

»Nein, oben noch nicht.«

Brock zog die Falttür zu. »Ich muss mit Ihnen reden, ein paar Dinge klären.« Er setzte sich hinter den Furnierschreibtisch. »Der stellvertretende FBI-Direktor hat mich mitten in der Nacht angerufen und mich aus dem Bett gescheucht. Anrufe von ihm sind sonst eher selten. Er hat mir erklärt, dass es in Canonsburg einen Tatort gibt, den wir abriegeln müssen.«

»Aber das war noch nicht alles«, soufflierte Moss.

Brock bleckte die Zähne – offenbar war das als beruhigendes Lächeln gemeint, wirkte jedoch eher gequält. Er drückte seinen Kaugummi in ein Silberpapier und schob sich eine frische Stange zwischen die Zähne. Aus seinem Mund waberte ein Lakritzhauch. Moss bemerkte Zahnabdrücke an seinem Bleistift – vielleicht hatte er zu rauchen aufgehört oder versuchte es. Anfang oder Mitte vierzig, muskulös – bestimmt ging er regelmäßig ins Studio. Sie stellte ihn sich beim Boxen vor. Beim Herunterspulen der Kilometer auf dem Laufband in einem leeren Fitnessraum.

»Ich versuche zu begreifen, was mir der stellvertretende Direktor erzählt hat«, fuhr Brock schließlich fort. »Damit ich die Sache hier besser einordnen kann. Er hat mich über ein Geheimprogramm mit dem Namen Tiefen unterrichtet.« Brock sprach das Wort wie eine Beschwörung aus, und in seinen Augen flackerte ein Schatten von Angst auf. »Ein Navy-Programm – ein verdecktes Projekt. Er hat mir erklärt, dass unser Hauptverdächtiger Patrick Mursult mit diesem Programm in Verbindung steht. Er gehört zur Eliteeinheit SEALs und untersteht dem Befehl des Naval Space Command. Der Direktor hat mich gebeten, Shannon Moss in die Ermittlungen einzubinden.«

Vor wenigen Stunden hatte sich für diesen Mann plötzlich der Umfang der möglichen Welt erweitert. Moss entging nicht, dass er mit dem Unglaublichen rang. Er war in das Geheimnis der Tiefen eingeweiht worden – doch wie viel hatte man ihm anvertraut? Moss erinnerte sich noch gut an ihren ersten traumartigen Eindruck von den Schiffen der NSC-Raumflotte, die im Sonnenlicht blitzten wie verstreute Diamanten auf schwarzem Samt – ein erhabener Anblick, der nur den Wenigsten vergönnt war. Sie malte sich aus, wie Brock zu Hause den Anruf entgegennahm und auf der Bettkante sitzend zuhörte, als ihm sein Vorgesetzter von Dingen berichtete, die für ihn wie Wunder klingen mussten.

»Mursult war … eine Art Astronaut.« Brocks Kiefer bearbeitete den Lakritzkaugummi. »Tiefenraum – das verstehe ich. Mir ist klar, dass wir weiter in das Sonnensystem vorgedrungen sind, als man uns berichtet hat. Bloß das Wie begreife ich nicht. Quantenschaum …«

Offenbar hatte man ihm vom Tiefenraum erzählt, jedoch nicht von der Tiefenzeit. Das Naval Space Command hatte ein öffentliches Gesicht und unter Reagan am Krieg der Sterne mitgewirkt, neben der Air Force Space Division und der NASA mit einem eigenen Posten im Etat des Verteidigungsministeriums. Aber der größte Teil seiner Operationen bestand in streng gehüteten Geheimnissen. Moss war in den Tiefenraum und auch in die Tiefenzeit gereist, sie hatte verschiedene Versionen der Zukunft aufgesucht, nicht nur um den Terminus zu erforschen, sondern auch um ihre Kriminalermittlungen voranzutreiben. Eine derartige Zukunft hieß IFV – ausgesprochen wie »If« –, kurz für Irregulärer Futurverlauf. Irregulär, weil die Zukunft unstet war – die vom NSC bereisten Versionen waren nur Möglichkeiten, die aus den Bedingungen der Gegenwart herrührten. Sie durfte keine in einer solchen Zukunft gesammelten Beweise für eine Strafverfolgung in der Gegenwart verwenden, weil der von ihr erlebte Verlauf vielleicht niemals eintrat.

»Ich stehe Ihnen als Hilfe zur Verfügung«, sagte Moss. »Deshalb bin ich hier, deshalb hat man Sie aufgefordert, mich hinzuzuziehen. Meine Abteilung innerhalb des NCIS untersucht Verbrechen im Zusammenhang mit dem Programm Tiefen

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Brock kaute angestrengt. »Von Patrick Mursult, von einem verdeckten Raumfahrtprogramm – das klingt alles so … Ich habe keine Ahnung, ob mein Verständnis weit genug reicht.«

»Konzentrieren wir uns auf die Vermisste. Sie ist unsere Priorität.«

Ihre Mahnung riss ihn aus seiner Unentschlossenheit, nun hatte er wieder das Gefühl, etwas ausrichten zu können. »Marian Mursult. Siebzehn …«

»Marian. Wir werden sie finden. Fangen wir mit den Ereignissen hier an.«

»Die Jungs von der örtlichen Polizei waren als Erste hier.« Brocks Verwirrung war wie weggeblasen. »Sie haben Patrick Mursault sofort als Verdächtigen ausgemacht – als Mörder seiner Familie. Sobald die Kollegen aus Canonsburg auf Unterlagen stießen, dass Mursult ein Marinesoldat war, haben sie die Navy verständigt. Dort wurde er identifiziert – hat in Vietnam gedient, muss damals noch ganz jung gewesen sein.«

»Was haben Sie sonst noch rausgefunden?«

»Ihr Vorgesetzter hat mir ein Fax über Mursult vom National Personnel Records Center in St. Louis weitergeleitet. Eine Darstellung in groben Zügen, geschwärzte Passagen. Ende der Siebziger ein Navy SEAL. Seit Anfang der Achtziger Dienst beim Naval Space Command als Petty Officer First Class. 1983 brechen die Aufzeichnungen über ihn ab. Anscheinend war der Typ nirgends angemeldet, alles lief unter dem Namen seiner Frau. Offiziell gilt er als vermisst.«

Ein Marinesoldat im Untergrund, dachte Moss. Ein vermisstes NSC-Mitglied. Ein in den Tiefen verschollener Soldat war eine Tragödie; wenn sich allerdings erwies, dass er absichtlich untergetaucht war, stellte er ein nationales Sicherheitsrisiko dar. »Wir müssen ihn so schnell wie möglich dingfest machen.«

»Können wir vielleicht Genaueres über den Mann erfahren?«, fragte Brock.

»Ich kann mich erkundigen, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass der NCIS eine zivile Behörde ist. Auch wenn ich die Sicherheitsfreigabe der höchsten Stufe habe, bekomme ich Informationen über die Tiefen nur nach Bedarf, scheibchenweise. Wir müssen mit dem arbeiten, was uns die Navy sagt.«

Wieder spuckte Brock seinen Kaugummi in ein Papier und schnippte den Klumpen in den Papierkorb. »Gehen wir erst mal von dem aus, was wir wissen. Der Täter hat die Opfer geweckt und sie ins Wohnzimmer gebracht, bevor er sie angegriffen hat.«

»Womit?«

»Mit einer Axt.«

Sie stellte sich die Frau und den Jungen vor, kniend, das feuchte Platschen, das Herausreißen der Axt und den nächsten Schlag. Die Vernichtung einer Familie, so einfach wie Holzhacken.

»Gibt es Gründe, an Mursults Täterschaft zu zweifeln?«, fragte sie.

»Nein«, erwiderte Brock. »Allerdings hatte er vielleicht jemanden dabei. Die Nachbarin, die den Notruf abgesetzt hat, erwähnte einen Freund von ihm, einen Typen, der einen roten Pick-up mit einem Kennzeichen aus West Virginia fährt. Wir konzentrieren uns auf den Wagen, damit wir diese Person aufspüren. Sie hat ihn als Nervensäge beschrieben, er hat oft ihre Einfahrt zugeparkt. Der Pick-up ist voller Aufkleber. Am besten werfen wir mal einen Blick ins obere Stockwerk.«

Moss folgte Brock aus dem Arbeitszimmer. Er tauchte unter dem Absperrband durch und führte sie hoch. Diesen Weg hatte sie zahllose Male mit Courtney zurückgelegt, deren Zimmer das erste am Gang rechts war. Das gebogene Metallgeländer schien sich in ihrer Hand zu drehen, ein vertrautes Gefühl. Befangen stieg sie die Treppe hinauf, die motorisierten Bewegungen ihrer Prothese leicht ruckartig. Brock wartete auf der obersten Stufe und beobachtete Moss, fast als wäre er auf dem Sprung, ihr zu helfen, falls sie ins Straucheln geriet oder stürzte. Moss hatte diese peinlichen Momente satt, wenn die Leute zum ersten Mal bemerkten, dass sie mit einer Amputierten zusammenarbeiteten, und fieberhaft überlegten, wie sie sie behandeln sollten.

»Was ist hier oben passiert?«, erkundigte sie sich.

»Die siebenjährige Tochter Jessica ist beim ersten Angriff geflohen und hier reingerannt.«

Courtneys Zimmer. Brock legte die Hand auf den Türknauf. »Ich habe selbst zwei Töchter. Zwei wunderschöne Mädchen …«

Er öffnete die Tür und ließ Moss durch. Die Rückkehr in dieses Zimmer fühlte sich an, als würde sie sich in einen Kokon einrollen. Sie erinnerte sich, wie sie im Sommer der neunten Klasse die Wände hier in einer Farbe namens Bubblegum gestrichen hatten, wie die Walze vom Gitter schwappte und Courtney kreischte, wenn es von der Decke pink in ihre schwarzen Locken tropfte. Sie erinnerte sich, wie sie in der Gluthitze Zigarettenrauch durch das Fenstergitter geblasen hatten, mit Powerage von AC/DC auf dem Plattenteller, bis die LP völlig zerkratzt war und nicht mehr über die ersten Sekunden von »What’s Next to the Moon« hinauskam. Jetzt war der Raum lavendelfarben mit einer weißen Kommode und einem Stockbett – anscheinend hatten die zwei Töchter hier gewohnt. Statt Led Zeppelin und Van Halen hing Romeo und Julia von DiCaprio an der Wand, trotzdem fühlte es sich an wie früher. Jessica Mursults Leiche lag in der Ecke, wo früher Courtneys Bett gestanden hatte. Das Nachthemd des Mädchens war zerfetzt, und zwischen ihren Schulterblättern klaffte eine tiefe Wunde, deren Ränder nach oben ragten wie ein gähnender Mund.

Arme Kleine, arme Kleine …

»Alles in Ordnung?«, fragte Brock.

»Wo sind die Nägel?« Obwohl ihr Blick verschwamm, fiel ihr auf, dass auch das Mädchen keine Finger- und Zehennägel mehr hatte.

»Sie sind ganz blass. Möchten Sie sich setzen?«

»Mir geht’s gut …« Sie wankte, und Brock legte ihr stützend eine Hand in den Rücken. »Danke.« Sie fühlte sich immer noch unsicher. Dann wurde ihr heiß vor Verlegenheit. Reiß dich zusammen. »Ich … Keine Ahnung, was mit mir los ist. Entschuldigung.«

Brock lotste sie aus dem Zimmer hinaus auf den Gang. »Hören Sie.« Er zog die Tür zu. »So einen Anblick steckt niemand so leicht weg, schon gar nicht, wenn man es nicht gewohnt ist. Es ist in Ordnung, wenn Sie weiche Knie bekommen.«

»Ich muss Ihnen was gestehen. Das hier …« Sie zögerte. »Ich hab wirklich Schwierigkeiten heute, es ist unheimlich. Ich kenne das Haus.«

»Sprechen Sie weiter.«

»Ich bin in der Gegend aufgewachsen. Und als Kind habe ich

praktisch in diesem Haus gelebt. Meine beste Freundin hat hier gewohnt. Courtney. Sie hieß Courtney Gimm. Das war ihr Zimmer. Ich habe dort viel Zeit verbracht. Ihr Bett stand gleich da drüben.«

»Nicht zu fassen«, murmelte Brock.

»Das hat mich ein bisschen aus der Fassung gebracht, ansonsten geht’s mir gut. Als Nestor angerufen und gesagt hat, dass der Tatort am Cricketwood Court ist …« Sie lehnte sich an die Wand. Bei der Berührung hatte sie das Gefühl, als könnte sie die gegenwärtige Welt einfach abschälen, um dahinter ihre Freundin zu sehen und wieder bei ihr zu sein, als wäre seit damals keine Zeit vergangen, als bräuchte sie nur in das alte Zimmer treten, hinein in die versunkene Welt. Snap-Armbänder und Jelly-Schuhe, bunte Gummis in Courtneys Zahnspangen.

»Wir haben uns immer im Wald hinter den Häusern rumgetrieben «, fuhr sie fort, »und gemeinsam Zigaretten geraucht.« Sonnenbaden auf Gartenstühlen, dazu eine gemeinsame Dose High Life. Courtneys Dad arbeitete oft nachts, und ihre Mom lebte in Pittsburgh bei ihrem Freund, also hatten sie das ganze Haus für sich. An manchen Abenden rauchten sie Gras, wenn Courtney was besorgen konnte, doch meistens blieben sie einfach bloß zu lange auf und guckten fern – am nächsten Tag saßen sie mit rot geränderten Augen in der Schule. An manchen Abenden feierten sie mit anderen Mädchen aus dem Leichtathletikteam Partys. Oder mit Jungs aus der Nachbarschaft. Ein paarmal schleppten Courtney und Moss im Einkaufszentrum irgendwelche Jungs ab, dann wurde gekifft und getrunken und gefummelt, während Late Night With David Letterman lief, aber nicht allzu ernst: nur Schmusen, Petting und Handarbeit, und die Nächte endeten spät mit dem Geruch von Handseife und Sperma.

»Mein Gott, in dem Zimmer da hinten habe ich meine Unschuld verloren«, entfuhr es ihr. Courtneys Bruder Davy – sie hatte sein Gesicht noch immer vor sich, als wäre es gestern gewesen. Er im vierten, sie ihm zweiten Jahr an der Highschool, als er sie an den Haaren packte und küsste, als er ihr unters Shirt griff, seine Jeans aufknöpfte und ihre Hände auf sich zog. Das Gefühl, wie er in ihren Fingern hart wurde. Wie sein Gewicht sie niederdrückte und er in sie hineinstieß. »Entschuldigung, das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Gehen wir an die frische Luft«, schlug Brock vor. »Schaffen Sie es die Treppe runter?«

»Sicher. Ich komme gleich nach.«

Die erste Nacht mit Davy Gimm hatte sie in dem kleinen Zimmer am Ende des Gangs verbracht, das eigentlich eher eine Abstellkammer war. Sie erinnerte sich an die Messer, die Davy auf dem Flohmarkt gekauft hatte, an ein Poster von Christie Brinkley aus Sports Illustrated. Das knarrende Bett, seine eifrigen Finger, die unter dem Gummiband ihrer Shorts forschten, sein feuchter Atem schwer an ihrem Hals. Später seine Geräusche beim Schlafen, das Wachliegen, während der Mondschein über das Badeanzug-Model kroch.

Moss wartete, bis sie Brocks Stimme von unten hörte, erst dann öffnete sie die Tür zu Davy Gimms altem Zimmer. Es war wie der Eintritt in einen Kosmos mit Sternenhaufen und Konstellationen, die aus der unendlichen Dunkelheit hervorbrachen. Sie schaltete das Licht ein – vielleicht erwartete ein Teil von ihr das Bikiniposter und die Messersammlung. Stattdessen fand sie das Zimmer eines kleinen Jungen, dessen Wände mit im Dunkeln leuchtenden Aufklebern bedeckt waren. Sie bedauerte ihre alberne Bemerkung gegenüber Brock und begriff, dass es besser gewesen wäre, einfach den Mund zu halten und nichts von ihrer Verbindung zu diesem Haus zu erwähnen. Unprofessionell, ein Moment der Schwäche. Sie sah den Raum als das, was er war: das Zimmer eines toten Kindes.

Kurz darauf stieß sie draußen zu Brock. Die Rasenflächen am Cricketwood Court waren vom Frost berührt, und an den Windschutzscheiben der geparkten Autos blühten Eisblumen. Im ersten Stock eines Nachbarhauses hatte jemand Licht gemacht.

»Wo war Marian während der ganzen Zeit?«, fragte sie. »Hat jemand sie gesehen?«

»Alle Nachbarn kennen sie, sie war nicht hier«, antwortete Brock. »Schon seit Freitag nicht mehr. Wir wecken gerade Freunde und Verwandte, um sie aufzuspüren.«

»Sie haben erwähnt, dass Mursult einen Freund mit einem roten Pick-up hat. Weiß hier wirklich niemand, wer das ist?«

»Nein. Die Nachbarn haben den Wagen nur bemerkt, weil er oft draußen an der Straße geparkt war. Mursult und sein Freund sind für sich geblieben.«

»Ich glaube, wir sollten die Amber-Meldung rausgeben«, erklärte Moss.

»Vielleicht taucht sie ja noch auf. Vielleicht ist sie bloß bei einer Freundin. Wir überprüfen alle Möglichkeiten.«

Das Amber-System war relativ neu, die Menschen waren noch nicht damit vertraut. Trotzdem war Moss davon überzeugt. »Das wird uns weiterhelfen. Womöglich hat jemand sie gesehen.«

Brock schaute auf das erleuchtete Ziffernblatt seiner Uhr. »Moss, Ihr Büro ist doch im CJIS, oder?« Er meinte das Gebäude der Criminal Justice Information Services, das Nervenzentrum des FBI. Eine neue Anlage, die wie ein kurioser Kristallklotz mitten ins Nirgendwo der Hügel außerhalb von Clarksburg, West Virginia, gepflanzt worden war. Eigentlich eine FBI-Einrichtung, doch weil die Navy und das Marine Corps in der Gegend keine Zweigstellen hatten, war dort auch Moss’ NCIS-Büro untergebracht. »Wohnen Sie in dieser Richtung? In der Nähe von Clarksburg?«

»Genau.«

»Meine Frau Rashonda arbeitet im CJIS, im Drucklabor. Vielleicht sind Sie ihr schon mal über den Weg gelaufen.«

»Sie sind der Mann von Rashonda Brock?« In dem Komplex gab es mehrere Tausend Büros, aber Rashonda Brock, die stellvertretende Leiterin der Laborabteilung, war bekannt. Moss’ Büro lag nahe bei der Kindertagesstätte der Einrichtung, daher wurde sie fast jeden Morgen Zeugin, wenn Rashonda ihre Töchter hinbrachte und sich unter vielen Umarmungen und Küssen von ihnen verabschiedete. Persönlich kannte sie sie allerdings nicht. »Ich glaube, ich habe schon Zeichnungen von Ihren Kinder gesehen. Brianna und Jasmine, nicht wahr? Ihre Namensschilder hängen gleich bei mir um die Ecke an einer Pinnwand. Violette Dinosaurier …«

»Barney.« Brock lächelte jetzt. »Alles ist Barney der Dinosaurier – Briannas Zimmer ist voll davon.«

Moss glaubte zu begreifen, wie Rashonda zu Brock passen könnte: eine mollige, große Frau, die immer strahlte und vielleicht warme Zufriedenheit empfand, wenn es ihr gelang, diesem ernsten Mann ein Lachen zu entlocken.

»Sie sind also aus der Gegend von Clarksburg hergefahren? Wie weit liegt das weg von hier? Eine Stunde, eineinhalb?« Er fischte eine Schlüsselkarte aus einem Umschlag in seiner Jacketttasche und hielt ihn Moss hin. »Wir haben in der Nähe mehrere Zimmer gebucht. Fahren Sie heute nicht mehr zurück. Morgen früh brauchen wir Sie wieder hier.«

»Gut, für die eine Nacht.« Sie sann über den Wandel in Brocks Auftreten nach. Seit er ihre Prothese bemerkt und seine Frau erwähnt hatte, wirkte er weicher.

»Die Tiefen.« Er richtete den Blick hinauf zum Himmel, obwohl durch die Wolkendecke keine Sterne zu erkennen waren. »Als Junge habe ich davon geträumt, Astronaut zu werden. Meine Großeltern haben mich mal zu einem Raketenstart in Cape Canaveral mitgenommen. Das war das Schönste, was ich je gesehen habe – bis zur Geburt meiner Töchter.«

Auch Moss hatte die durch die Dämmerung zuckenden Feuerblitze erlebt, wenn Raketen abhoben und im Äther verschwanden. »Es ist immer schön, jedes Mal.«

»Schlafen Sie ein bisschen«, sagte Brock. »Mein Team wird die Nacht durcharbeiten. Zwischenstandsbesprechung um neun für alle Beteiligten und danach die Pressekonferenz.«

 

Als sie den Wagen weg vom Cricketwood Court und vom Hunting Creek lenkte, spürte sie den Wunsch, dieses Haus hinter sich zu lassen, als Kribbeln an den Schultern und am Rückgrat. Das Hotel, das Brock gebucht hatte, war ein Best Western in Richtung Washington, Pennsylvania, doch bevor sie auf die Interstate 79 fuhr, machte sie eine Schleife durch den Parkplatz des Pizza Hut am Chartiers Creek. Hier war Courtney ermordet worden. Im November ihres zweiten Highschooljahrs.

Das Pizza Hut war wie immer, unverändert, seit Moss zum letzten Mal vorbeigekommen war, ein Backsteinbau mit Wellblechdach, dahinter zwei blaue Mülltonnen, beleuchtet von ihren Scheinwerfern. Zwischen diesen Tonnen hatte man Courtneys Leiche gefunden.

Moss überschlug die Stunden: fast dreiunddreißig, seit Marian Mursult zum letzten Mal gesehen worden war. Marian war siebzehn. Courtney war sechzehn gewesen, als sie starb. Moss fuhr zum Hotel, in Gedanken bei ihrer toten Freundin und dem vermissten Mädchen. Dann fielen ihr die fehlenden Finger- und Zehennägel wieder ein. Hatte Patrick Mursult wirklich seine Familie ausgelöscht? Wo war er jetzt?

Moss hatte eine Nottasche im Kofferraum – zwei Garnituren Kleider und ein Kulturbeutel –, damit sie jederzeit reisebereit war. Im Hotelzimmer zog sie sich aus und nahm die Prothese und den Liner ab – der stechende Schweißgeruch riss sie kurz aus ihrer Schläfrigkeit. Das Duschen ohne Haltegriffe war heikel. Sie wartete, dass das Wasser warm wurde, dann setzte sie sich einfach auf den Wannenrand, schwenkte das Bein hinein und ließ sich hinuntergleiten, bis sie auf der rutschfesten Matte saß. Heißes Wasser strömte über sie. Sie wusch sich die Haare und benutzte dafür das ganze Fläschchen Gratisshampoo, um den Gestank von Fäulnis und Blut loszuwerden. Ohne Krücken und Rollstuhl musste sie über den Teppichboden hüpfen, bevor sie in das frische Bett schlüpfen und sich in die Decke wickeln konnte. Mit den heruntergezogenen Jalousien war es unglaublich dunkel im Zimmer. Kalt. Sie drehte sich um zum Einschlafen, doch prompt sah sie Leichen von Frauen und Kindern, die sich zu großen blutigen Bögen und blühenden Blessuren streckten. Ekel und Hoffnungslosigkeit stiegen als beißendes Brennen in ihrer Kehle auf. Sie dachte an Marian – sie lebt noch, bitte, sie soll noch leben. Weil sie nicht wusste, wie Marian aussah, hatte sie auf einmal Courtney Gimm vor sich, und in ihrem Kopf überschlugen sich Bilder von Axtklingen, die durch Knochen fuhren, und mundartig klaffenden Wunden. Sie fühlte sich klamm, verheddert in der Decke, und wälzte sich auf der Matratze hin und her. Durch den Raum wehte der säuerliche Hauch ihres Prothesenstrumpfs heran. Schließlich setzte sie sich auf und tastete im Finstern nach der Fernbedienung. Die Lokalsender berichteten alle von der ganz in der Nähe von Canonsburg ermordeten Familie. Moss kniff die Augen zusammen, als das Fernsehbild heller wurde. Luftaufnahmen von den Dächern der Nachbarhäuser und ein Film von der Absperrung, der Deputy mit dem Chaplin-Bärtchen, der in der Nähe der Gitter die Hose hochzog.

Die Amber-Meldung wurde zum ersten Mal kurz vor fünf Uhr ausgestrahlt. Marian Mursult, siebzehn, aus Canonsburg, Pennsylvania. Das Bild zeigte sie sonnengebräunt und sommersprossig, mit abgeschnittenen Jeans und Trägerhemd, das glatte Haar kohlschwarz. Moss stockte der Atem, als ihr die Ähnlichkeit zwischen ihrer Freundin und der Vermissten bewusstwurde: die lässige Schönheit, das lange, dunkle Haar. Moss war geübt im Zeitreisen – im Erleben zukünftiger Ereignisse, die ihren Ausgang von der Terra firma der Gegenwart nahmen, doch dieses Déjà-vu war etwas völlig anderes, eher so, als hätte sie die Welt bei einer Wiederholung ertappt mit dem Haus und den Mädchen, als hätte sie verbotenerweise einen Blick in die Mechanik der zyklischen Zeit erhascht. Oder war diese Ähnlichkeit etwas noch Selteneres, etwas wie eine zweite Chance? Courtney hatte sie verloren, Marian konnte sie noch retten. Entspannt ließ sich Moss zurück ins Bett gleiten, getröstet von dem Wissen, dass nach Marian gesucht wurde, dass jemand sie vielleicht schon entdeckt hatte und wusste, wo sie war – in Sicherheit, in Sicherheit. Dennoch – als sie für wenige Stunden in den Schlaf sank, glaubte sie fast, den erkalteten Körper des Mädchens neben sich zu spüren.

Thomas Carl Sweterlitsch: „Am Ende der Zeit“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 480 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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