4. Mai 2022

Hexen und Quanten auf der Scheibenwelt

Die große Hexenbox: Die ersten sechs Oma Wetterwachs-Romane von Terry Pratchett als Hörbuch-Paket

Lesezeit: 6 min.

Die Scheibenwelt von Terry Pratchett (im Shop) ist einer meiner Lieblingsorte im gesamten Multiversum. In den letzten gut 25 Jahren habe ich viele großartige Lese- und Lebensstunden im fantastischen Kosmos des britischen Ausnahmeautors verbracht, der bis zu seinem Tod 2015 mehr als 40 Bücher über die lediglich dem Namen nach flache Welt geschrieben hat, die sozusagen seit 1983 auf den Schultern von vier riesigen Elefanten und dem Panzer der Sternenschildkröte Groß A’Tuin durchs Universum getragen wird.

Doch ich muss ein Geständnis machen. Von Anfang an liebte ich den Humor der Bücher und die etwas andere, hintersinnigere und smartere Art von Fantasy, allen voran den grandiosen Gevatter Tod, die trotteligen Zauberer von der Unsichtbaren Universität in Ankh-Morpork (den Bibliothekar nicht zu vergessen, ugh!) und die anfangs noch viel dusseligere Stadtwache der Metropole des Patriziers. Aber als Teenager konnte ich ausgerechnet mit den Hexen aus den Spitzhornbergen nur wenig anfangen. In der Rückschau könnte ich heute nicht einmal den Finger drauf legen und sagen, woran es gelegen hat, dass mich Esme „Oma“ Wetterwachs, Nanny Ogg, Magrat Knoblauch und Co. nicht genauso im Sturm eroberten wie Rincewind, Sam Mumm, Karotte oder der sympathische Scheibenwelt-Sensenmann. Lag es am Thema, den Hexen, den Märchen? War das also bloß ein doofes Jungs-Klischee-Ding? Oder waren die Hexen-Romane von Sir Terry zu clever, zu subtil und letztlich zu viel für einen jungen Burschen, der lieber über Rincewinds Missgeschicke und Cohen den greisen Barbaren lachte?

Natürlich wusste ich schon damals, dass viele Fans der Discworld-Reihe total auf die Hexen stehen. In den Scheibenwelt-Foren wurde die Hexen-Subserie regelmäßig abgefeiert. Nichtsdestotrotz, als Jugendlichen holten sie mich persönlich nicht ab – am liebsten war mir in den Romanen noch Nannys Kampfkater Greebo. Selbstverständlich las ich trotzdem jeden Roman mit der kratzbürstigen Oma Wetterwachs und ihrer hemdsärmeligen Philosophie der Unabhängigkeit und der Vernunft, weil ich jeden Scheibenwelt-Band las, der im erschwinglichen Taschenbuch Jahr für Jahr, Saison für Saison neu aufgelegt wurde. Allerdings freute ich mich nicht so sehr über einen Roman mit den Scheibenwelt-Hexen wie über ein Buch mit den Zauberern, Tod oder der Wache. Meine Beziehung zu den Hexen änderte sich erst im Verlauf 2000er, als Terry Pratchett mit Tiffany Weh eine neue Hexe ins Spiel brachte – und das lag keineswegs daran, dass die Bücher um Tiffany und die kleinen blauen Hochland-Kobolde ein Young Adult-Etikett hatten, denn im Grunde unterscheiden sie sich nicht großartig von anderen Scheibenwelt-Romanen, was heißen soll: sind sie auf dieselbe Weise großartig.

Bereits eine Weile vor der Pandemie startete ich einen chronologischen Scheibenwelt-Re-Read als privates Langzeitprojekt. Meistens reicht die Zeit für ein oder zwei alte Pratchetts pro Jahr (wenn gar nichts anderes geht, wenn alles andere schrecklich ist, wenn der Geist förmlich nach Pterry und einem Urlaub auf der Scheibenwelt lechzt). Die Serie beginnt bekanntlich mit dem Zweiteiler „Die Farben der Magie“ und „Das Licht der Fantasie“, in dem der spätere Bestsellerautor und passionierte Schlapphutträger an erster Stelle noch auf Genre-Parodien und Slapstick setzt, die Romane noch nicht ganz so viele Nuancen und Schichten hatten. ‚Sollte’ man für die Basis gelesen haben, klar, aber ich verstehe, wenn Leute sagen, dass sie die Genialität, die Weisheit und all das, was wir Scheibenwelt-Fans immer rühmen und zelebrieren, hier noch nicht so spüren. Just aus diesem Grund empfiehlt es sich ja auch, unbedingt weiterzulesen bzw. weiterzuhören (und ich neige dazu, Bekannte, die dies nicht tun, regelrecht heimzusuchen, und habe zuletzt schon wieder einige Male auf die neue Hörbuch-Box mit den ersten sechs Hexen-Romanen in der Lesung von Katharina Thalbach freundlich-nachdrücklich hingewiesen).

Wenigstens bis zum dritten Buch – und ersten Hexen-Roman – „Das Erbe des Zauberers“ von 1987 sollte man lesen, im Original sehr passend und vorausschauend „Equal Rights“ betitelt. Esme Wetterwachs gibt darin ihr Debüt, derweil die junge Esk die Spitzhornberge verlässt, um mit Omas Hilfe an der Unsichtbaren Universität in der fernen Stadt eine Zauberin zu werden. Skandalös! Die Verzahnung der ersten Scheibenwelt-Romane wackelt hin und wieder in Sachen Kontinuität noch ein bisschen (und Esk wird z. B. erst in den Tiffany-Büchern wieder auftauchen), dennoch ist „Das Erbe des Zauberers“ 35 Jahre nach der originalen Veröffentlichung nach wie vor ein großartiger, feministischer, warmherziger, bissiger, intelligenter und trotz allem witziger Fantasy-Roman.

Und anders als mein Teenager-Ich habe ich ihn beim zweiten Lesen ein Jahrzehnt später sehr genossen, und beim dritten Lesen vor Kurzem noch mehr. Heute sehe ich es auf Anhieb, kann ich mir nicht vorstellen, es einmal nicht wahrgenommen zu haben: Oma Wetterwachs ist Beschreibung für Beschreibung, Aktion für Aktion, Gedanke für Gedanke, Überzeugung für Überzeugung, Satz für Satz eine sensationelle Figur – und meine eigene Existenz als Leser und Autor wurde um einiges besser, als ich das mit dem Alter endlich erkannte. Scheibenwelt-Bücher werden also auch deshalb noch brillanter, weil ihre Fans dankenswerterweise nachreifen. Darüber hinaus hat es unterwegs geholfen, ab einem gewissen Punkt nicht mehr vorranging Josh Kirbys visuelle Interpretation der Hexen Oma und Nanny vor Augen gehabt zu haben, sondern irgendwann die von Paul Kidby (wie auf dem Cover der Hörbuch-Box).

Es mag etwas gedauert haben, doch heute liebe ich die stählerne, unbeugsame Esme Wetterwachs, die lebensfrohe, lustige Nanny Ogg, und wer da noch alles auf dem Besen durchs von Trollen und anderen bewohnte Hochland der Scheibenwelt fliegt, um den Menschen nicht zu geben, was sie sich wünschen, aber was sie brauchen – und um das Böse und die Finsternis in Schach zu halten, die sich die Dummheit und die Vergesslichkeit der Leute allzu gerne zunutze machen. Die Bücher mit den Hexen nach all den Jahren noch einmal neu zu entdecken, sie besser zu verstehen denn je und in der Folge mehr zu genießen als jemals zuvor, erweist sich als gewaltiges Vergnügen. Manchmal kann ich es gar nicht glauben, dass diese 300 bis 400 Seiten kompakten Meisterwerke der Fantastik und der Menschlichkeit, Ende der 1980er, Anfang der 1990er entstanden, so modern wirken sie, so stark lesen sie sich.

Im Kern geht es in den Hexen-Romanen um Geschichten und Traditionen, man könnte auch verallgemeinernd sagen: um Folklore. Und obwohl ein gewisser Wind des Wandels an den bewaldeten Steilhängen der Spitzhornberge zerrt und ab und an dreist nach Omas spitzem Hexenhut greifen will, liegt der Fokus nie so sehr auf dem Fortschritt und der Veränderung wie in den Pratchett-Werken über die brummende Scheibenwelt-Großstadt Ankh-Morpork, wo irgendwann sogar die Nilpferde der Industrialisierung tanzen (und die Hexen ihrerseits vorbeischauen, was immer einen bemerkenswerten Zusammenprall von Land und Stadt ergibt). Kurz gesagt: In den Bänden mit den Hexen spielt Sir Terry weniger mit dem Fortschritt unserer Historie, sondern viel mehr der Fiktion unserer Kultur. Den Legenden, Erzählungen, Sagen, Geschichten, Stücken, Überlieferungen etc. – was sie uns sagen wollen, was wir von ihnen lernen können, wieso wir ab und an besser auf sie hören sollten, wie sie unsere Wahrnehmung verzerren, weshalb sie, wie viele andere kleine Dinge, im Miteinander Bedeutung haben. In „Das Erbe des Zauberers“ dient Pratchett ein Stück weit sogar der kosmische Schrecken von H. P. Lovecraft als Sprungbrett, in „MacBest“ und „Lords und Ladies“ sind es Shakespeares „Hamlet“ und fiese Elfen wie aus einem Mittsommernachtsalbtraum, in „Total verhext“ noch mehr Märchen, Meta-Spiegelmagie und Voodoo, in „Ruhig Blut“ Dracula und Vampire, und in „Mummenschanz“ das Phantom der Oper.

Pratchetts Betrachtung unserer Beziehung zu Geschichten, Traditionen, Aberglaube und dem Volksmund machen großen Spaß und haben eine Menge Witz, sind aber auch unendlich weise – von Oma Wetterwachs kann man überdies lernen, kristallklar zu denken, für die wichtigen, richtigen Dinge einzutreten und standhaft zu bleiben, egal wie unbequem es wird oder was die anderen von einem sagen, denken oder halten. Zudem sind die Hexen-Bücher, die ihrerseits übrigens nie auf eine schlüpfrige Anspielung oder eine Klamauk-Einlage (oder das Igel-Lied) verzichten, echte Seelenwärmer, wenn wir schon dabei sind. Und nur, weil es um Hexen, Zwerge, Vampire und andere geht, kommt die Science-Fiction in ihnen nicht automatisch zu kurz. Als exemplarisches und exzellentes Beispiel mag hier das Scheibenwelt-Highlight „Lords und Ladies“ von 1992 herhalten, worin trotz aller guten Hexen, bösen Elfen und überforderten Zauberer Parallelwelten und Quanten ein Teil der unterhaltsamen, spannenden, blitzgescheiten und liebenswerten Story sind. Oma Wetterwachs, die Hexen und das Multiversum? Pratchett & Discworld at their best, wie ich heute zum Glück weiß.

Terry Pratchett: Die große Hexen-Box • Hörbuch-Paket • Random House Audio, Schall & Wahn, Bergisch Gladbach 2022 • Laufzeit: 41 Stunden 40 Minuten auf 6 MP3-CDs • Preis der Box: 29,99 Euro • im Shop

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