7. Dezember 2020 3 Likes

Fiction kann auch Science sein

Leseeindrücke zu Dietmar Daths Niegeschichte

Lesezeit: 6 min.

Bekanntlich hat der Poeta doctus Dietmar Dath schon viel geschrieben, seinem Œuvre mit Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine nun jedoch nichts weniger als ein Buch hinzugefügt, das – zunächst ganz nüchtern und wertfrei betrachtet – aus drei Gründen wahrscheinlich weltweit ohne Vergleich ist. Erstens gibt es zwar üppige Nachschlagewerke, Historio- und Monografien wie etwa die dritte, von John Clute, David Langford, Peter Nicholls und Graham Sleight verantwortete (Online-)Ausgabe der Encyclopedia of Science Fiction, Georg Seeßlens immerhin 1400 Seiten umfassenden SF-Doppelband aus dessen Reihe Grundlagen des populären Films (erschienen 2003) oder Hans Freys im Entstehen begriffene, mehrbändige Literaturgeschichte der deutschen Science Fiction (2018 erschien Fortschritt und Fiasko, 2020 Aufbruch in den Abgrund) – eine knapp tausendseitige, so systematisch konstruierte wie radikal subjektive, das Genre in seinen Evolutionsetappen und omnimedialen Erscheinungsformen auf solchem Niveau in toto und profund nachzeichnende Theorie der Science Fiction war jedoch bis zum Oktober 2019 Zukunftsmusik. Zweitens gewinnt die Niegeschichte ihre Kategorien, Maßstäbe und Begriffe (überwiegend) entlang von Genre-Kunstwerken, die ihrerseits – nicht selten unter dem Radar einer literatur- und kunstbetrieblichen Öffentlichkeit – aufs Ganze gehen und deren ästhetische Qualitäten von einem inhaltistisch-motivkatalogisch fixierten Blick (SF ist, wenn Außerirdische, Raumschiffe und Roboter mitspielen) kaum erfasst werden. „Maschinen […] verstärken, verlängern und ersetzen menschliches Denk- und Tatvermögen. Niegeschichte will wissen: Was für eine Maschine ist die SF? Wer hat sie gebaut? Wem gehört sie? Wer benutzt sie, wogegen, wofür?“ (S. 103). Dath fragt also nicht nur, was genau die Kunst an der SF ist, sondern auch danach, wie und was man mit einer solchen Kunst denken kann. Ein solcher ideeller und poetologischer Aufwand macht die kleinliche Vorstellung von Science Fiction als unterkomplexem Unterhaltungseskapismus obsolet. Niegeschichte entwirft nicht nur eine Genre-Ästhetik, sondern aus dem Genre heraus eine Lehre von Aufbau, Zweck und Wissen kultureller Artefakte. Zumindest im deutschsprachigen Raum ist in den letzten zwanzig Jahren keine theoretische Schrift veröffentlicht worden, die in ähnlich ehrgeiziger Totalität zu erklären versucht, wie Sprach-, Bild- und Bewegtbildkunst funktionieren. Drittens schließlich hat außer Dietmar Dath vielleicht nur noch Arno Schmidt (dessen Werk die Niegeschichte hier und da in den Blick nimmt) in solcher Ausführlichkeit über das verwebende Miteinander von Theorie und Praxis Einblicke in den eigenen Schaffensprozess und dessen Voraussetzungen gegeben – dieses Buch ist nicht zuletzt eine Eigenpoetik, die Geschichte (also durchaus: Erzählung) eines Lektüre- und Autorenlebens.

Über die Systematik ihres Aufbaus gibt das thesenpapierhaft gründliche Inhaltsverzeichnis der Niegeschichte Auskunft, weshalb kein Anlass besteht, mit dieser Systematik in Konkurrenz zu treten, indem man nacherzählt, was im Buch drinsteht. In dementsprechender Kürze: Nach Gegenstandsbestimmung und Kategorieneinführung (wie jedes der folgenden neun Großkapitel um die einhundert Seiten lang) folgt Dath der literaturhistorischen Chronologie, beginnend mit der Proto-SF von Mary Shelley, Jules Verne und H.G. Wells, landend bei Greg Egan, Ted Chiang oder Cixin Liu: „SF ist oft historische Literatur, aber wenn sie das ist, dann am liebsten unter Verzicht auf Daten aus der historischen Wirklichkeit.“ (S. 795) Den Abschluss bildet ein zweiteiliges Resümee zur SF-eigenen Verschlungenheit von Erkenntnisinteresse und ästhetischem Wert – „dass SF nicht so sehr etwas darstellt als vielmehr etwas herausfindet, indem sie etwas darstellt“ (S. 868). Eigene Abschnitte sind Joanna Russ (1937-2011) und Greg Egan (*1961) gewidmet, den für Dath sowohl lehr- und registerreichsten als auch wohltönendsten Stimmen, die in jenem Genre erklingen, dem es darum geht, dass man „so lebendig wie möglich in die Literatur eingreift und so literarisch wie möglich das Leben herausfordert […]“ (S. 512). Dazwischen geht es u.a. darum, wie die fortschrittliche Frühbewegtbild-Effektkunst des Illusionisten Georges Méliès ihre ästhetische Durchschlagskraft entwickelt (S. 177), um die Naivität rechter Avantgardisten (S. 449), um die Übersetzungsmisere (S. 455) bzw. den vielsagenden Fakt, dass von Greg Egans jüngeren Werken kein einziges in deutscher Übersetzung vorliegt (S. 670) oder um eine beispielhaft elegante Paraphrase dessen, wovon Star Wars erzählt – in Form eines glitzernd und perlend dahinfließenden Schlangensatzes (S. 557-558).

Für die theoretische Sättigung sorgen in beide Richtungen – ästhetischer Wert der SF und Erkenntniswert der SF – stark anteilig Theodor W. Adorno, Donald Davidson, Peter Hacks, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wladimir Iljitsch Lenin, Georg Lukács (nicht George Lucas – der Vorname des Literaturwissenschaftlers findet sich im Personenregister tatsächlich falsch geschrieben, wahrscheinlich mit Absicht) und Karl Marx. Die Vorstellung, dass man aus Science auch Fiction machen kann (wie etwa der populäre „spannende Wissenschafts-Thriller“ sie pflegt), wird umgedreht: Fiction kann auch Science sein. Die SF liefert Dath den Anlass, eine frische Variante der alten Form-Inhalt-Debatte zu führen und „die Abbildungen zwischen Inner und Outer Space“ (S. 467) nachzuzeichnen – schließlich bedeutet das Wort „Idee“ im Altgriechischen Erscheinung, Gestalt oder Urbild. „Dass altes Fürwahrhalten nichts mehr bietet, was man gebrauchen kann, und dass etwas Neues sich anschickt, das ehedem Geglaubte zu verschlingen, ist die Bewusstseinslage, aus der die SF kam […]“ (S. 58), und das „Poetische, verstanden als Katalog sinnstiftender und sinnentstellender Wortgebrauchsweisen auf kleinstem Raum (Ezra Pound sagt, große Literatur sei einfach Sprache, die man im höchsterreichbaren Maß mit Sinn aufgeladen habe), ist das Herzstück literarischen Künstlerwissens. Jede fantastisch-spekulative Erzählung, so anspruchslos ihre Wortwahl, so primitiv ihre Syntax sein mag, ist grundsätzlich in höherem Grad als jeder mimetisch-realistisch-naturalistische Text eine (vielleicht schlechte, vielleicht gute) poetische Konstruktion, wenn man so will: Gedicht.“ (S. 122) Die Einsicht, dass „eine Kunst, die Welt erschließt, indem sie Welt erfindet, immer anfängt, nie aufhört, immer aufhört, nie anfängt“ (S. 614-615), entfaltet sich besonders anschaulich im Joanna-Russ-Kapitel und entspringt dort einer kunstvollen Stilanalyse, die zeigt, wie Russ klassische Tropen, Bilder und Metaphern der Science Fiction ins seinerseits Analytische, Nüchterne, Parataktische verwandelt und Kritik am Vorhandenen vorträgt, indem sie immanente Vorschläge macht, wie das Kritisierte zu verändern sei (s. S. 492). Wer Russ liest, praktiziert kein glaubend-naives, sondern ein lernendes Lesen. Daneben ist dieser Großabschnitt, der den Titel ‚Ästhetisches Gelingen in politischer Verzweiflung‘ trägt, auch als Zeugnis von Liebe, Bewunderung und dem Gegenteil dessen, was Harold Bloom „Einflussangst“ nennt, das Herzstück der Niegeschichte, das viel von Dietmar Daths eigenen poetischen Konstruktionen erzählt – seit ca. 2005 treibt sich eine gewisse Johanna Rauch in Romanen wie Die salzweißen Augen, Für immer in Honig, Dirac und Sämmtliche Gedichte herum.

1999 erschien Kodwo Eshuns Heller als die Sonne: Abenteuer in Sonic Fiction, eine stilistisch unvergleichliche Studie afrofuturistischer Konzepte in der Musik, übersetzt von Dietmar Dath. Es spricht dann doch einiges dafür, dass an Carl Gustav Jungs These von der Synchronizität etwas dran ist, denn während der Verfasser dieser Leseeindrücke die Niegeschichte liest, laufen vier Platten aus dem Jahr 2019. Hidden History of the Human Race von Blood Incantation ist so krautrockprogressiv verspielter wie warmtönend-traditionell ballernder Death Metal; das Cover zeigt ein Alien-Porträt des britischen Malers Bruce Pennington, dessen Illustrationen Werke von Autoren wie Alfred Elton van Vogt, Robert A. Heinlein, Isaac Asimov oder Robert Sheckley schmücken. Fear Inoculum von Tool vollzieht die bis an die Grenze zum Maschinenhaften virtuos-perfektionistische Transmutation metallischer Kopfnicker-Momente in unbekannte, aber evident funktionale Synkopen-Flugobjekte, in denen Sound und Melodie nicht mehr sinnvoll zu trennen sind. Die Texte der Songs auf Times of Obscene Evil and Wild Daring von Smoulder, einer Epic-Doom-Metal-Band aus Toronto, drehen sich um den Ewigen Helden und das Multiversum – literarische Weltenschöpfungen des britischen Fantasten Michael Moorcock. Tunes 2011-2019 von Burial schließlich klingt, als hätten uns freundlich gesonnene, aber sehr melancholische Außerirdische, deren Körper anders und langsamer tanzen als menschliche, den Soundtrack für eine einsame verregnete Nacht auf einem längst verlassenen, verfallenden Raumflughafen komponiert. Den Platten ist gemein, dass sie Niegeschichten erzählen und wie solche tönen. Anscheinend hat sich das Buch seine Klangkulisse selbst ausgesucht – synästhetische Zukunftsmusik eben.

Abschließend sei Barbara Kirchner zitiert, die in ihrem Nachklapp zu Dietmar Daths der Fernsehserie Buffy the Vampire Slayer gewidmeten Langessay Sie ist wach. Über ein Mädchen, das hilft, schützt und rettet (Implex-Verlag, Berlin 2003) schreibt: „Die meisten Texte über Dinge, für die sich irgendwer begeistert, werden heute von Leuten geschrieben, die erstens selber von NICHTS begeistert sind und zweitens nicht wissen, dass es die Aufgabe des Denkenden, der schreibt, sein muss, andere nicht nur zu belehren und aufzuklären, sondern eben auch zu stimulieren, zu inspirieren, zu begeistern.“ Der belehrende und aufklärerische Habitus von Daths Niegeschichte mag bisweilen überfordern und strapaziös ausfallen, doch bezüglich Stimulation, Inspiration und Begeisterung steht auf diesen eintausend Seiten unendlich viel mehr, als gesetzlich für Sachbücher vorgesehen ist.

Dietmar Dath: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine • Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019 • Hardcover • 944 Seiten  € 38,-

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