9. Mai 2022

Viele Grüße aus der Vergangenheit!

Sechs Wochen sind neuerdings eine sehr lange Zeit

Lesezeit: 3 min.

Ich schreibe diese Worte sechs Wochen, bevor Sie sie lesen werden. Damals, im goldenen Zeitalter der Printmedien, war das ganz normal. Fast die gesamten Neunzigerjahre hindurch war ich für eine Rubrik zuständig, die interessante Websites vorstellte, und zwischen Fertigstellung und Veröffentlichung vergingen zwei Monate. Und seit vierzehn Jahren schreibe ich alle zwei Monate eine Kolumne für das Science-Fiction-Magazin Locus und habe noch keinen Abgabetermin verpasst. Doch sonst wird die Zeitspanne zwischen dem Verfassen und der Veröffentlichung eines Textes immer kürzer. Bei einem Blogbeitrag etwa ist sie im Prinzip nichtexistent. Selbst investigative journalistische Artikel mit vielen Interviews, die einen sorgfältigen Faktencheck erfordern, erscheinen oft nur wenige Tage, nachdem ich sie abgegeben habe.

Diese Kolumne bildet eine Ausnahme. Sechsmal im Jahr stelle ich mich der Herausforderung, einen Text zu schreiben, der auch in eineinhalb Monaten noch lesenswert sein soll. Wenn Sie aber nun glauben, dass das für einen Science-Fiction-Autor, der sich ohnehin ständig mit der Zukunft beschäftigt, kein Problem sein sollte, dann täuschen Sie sich.

Sechs Wochen sind eine lange Zeit.

In dem Augenblick, in dem ich diese Kolumne schreibe (Ende März 2022), ist die Gefahr der atomaren Vernichtung der Menschheit so groß wie seit Jahrzehnten nicht. Die vielen Stellvertreterkriege, die überall auf der Welt geführt werden, drohen zu einem einzigen großen Krieg zu verschmelzen, während auf regionaler und nationaler Ebene die COVID-Schutzmaßnahmen aufgehoben werden, obwohl sich die bisher ansteckendste Variante immer mehr verbreitet.

Wenn ich Angst habe, schreibe ich. Deshalb habe ich während des Lockdowns vier Bücher fertiggeschrieben. Ablenkung ist meine bevorzugte Strategie, um mit Unannehmlichkeiten fertig zu werden. Seit dem Teenageralter leide ich an chronischen Schmerzen, die ich stets mit Arbeit betäubt habe. Arbeit hilft mir bei körperlicher und geistiger Belastung. Was andere „Arbeitsmoral“ nennen, ist für mich die Flucht aus einer unangenehmen Gegenwart.

Sechs Wochen sind eine lange Zeit.

Ich hatte für diese Kolumne Dutzende von Ideen und habe sie alle wieder verworfen. Über ein Thema, das so wichtig ist, dass man darüber auch noch in sechs Wochen lesen will, möchte ich gar nicht erst nachdenken und schon gar keine Spekulationen anstellen. Und alle anderen Themen sind nicht wichtig genug, um überhaupt darüber zu schreiben.

Ich bin in einer Ära der ständigen Gefahr atomarer Vernichtung aufgewachsen. Ich habe Plakate gemalt, an Friedensmärschen teilgenommen, Protestlieder gesungen und wurde einmal sogar verhaftet, weil ich gegen die nukleare Aufrüstung demonstriert habe. Postapokalyptische Science-Fiction zu lesen ist für mich so ähnlich, wie mit der Zunge gegen einen schmerzenden Zahn zu stoßen – man kann nicht damit aufhören, auch wenn es weh tut. Dann wurde die Bedrohung durch einen Atomkrieg immer geringer und schließlich von der Bedrohung durch die Klimakatastrophe abgelöst, die mir noch größere Angst gemacht hat. Ich habe Plakate gemalt, an Demonstrationen teilgenommen, habe gespendet und Solarzellen auf meinem Dach installiert. Ich habe „Solarpunk“ geschrieben und versucht, mir und meinen Lesern Hoffnung zu machen.

Aber sechs Wochen sind eine lange Zeit.

Ich grüße Sie, Leser in der sechs Wochen entfernten Zukunft. Wie läuft es auf der anderen Seite der statistischen Unbestimmbarkeit?

Ich habe gute Nachrichten. Vor sechs Wochen haben Sie, ich und beinahe alle anderen nicht gewusst, wie wir es durch die nächsten sechs Wochen schaffen sollen. Aber wenn Sie das lesen, haben Sie das Unmögliche vollbracht.

Sechs Wochen und sechs Wochen und sechs Wochen lang verspeisen wir den Elefanten des Unvorstellbaren einen Happen nach dem anderen. Wenn es unerträglich wird, lenken wir uns ab: durch Schreiben, Gespräche, Lesen. Das ist keine Flucht, sondern eine Zuflucht. Eine Gelegenheit, sich zu sammeln und sich neu zu formieren, bevor wir uns wieder in die Schlacht stürzen.

Sie haben es durch die sechs Wochen geschafft. Es war eine lange Zeit.

Ich weiß, es gibt keine größere Nabelschau als eine Kolumne, die die Schwierigkeiten des Kolumnenschreibens zum Thema hat. Aber ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Wir alle tun schließlich, was nötig ist, um die nächsten sechs Wochen durchzustehen.

Sechs Wochen sind eine lange Zeit.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Seine Romane sind im Shop erhältlich.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.